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1. »Les préludes.«

»Wieder ein junger Virtuose, gleichsam aus den Wolken heruntergefallen, der zur höchsten Bewunderung hinreißt. Es grenzt ans Unglaubliche, was dieser Knabe leistet, und man wird in Versuchung geführt, die physische Möglichkeit zu bezweifeln, wenn man den jungen Riesen Hummels schwere Composition herabdonnern hört,« so lautet ein Wiener Bericht über den kaum elfjährigen Knaben, und nur ein Jahr später hören wir Paris förmlich Wunder schreien über diese nie gesehene Erscheinung: wie einst bei dem Knaben Mozart in Neapel muß auch hier das Clavier herumgedreht werden, damit man sehen könne, was man blos zu glauben nicht vermöge. Dabei werden die liebenswürdigen menschlichen Eigenthümlichkeiten des jungen Künstlers angedeutet, die später ebenso das Entzücken aller Welt wurden wie sein Spiel. »Seine Augen glänzen von Leben, Muthwillen und Freude, er wird nicht zum Clavier geführt, er fliegt darauf zu, man klatscht, und er scheint überrascht, man klatscht von neuem, und er reibt sich die Hände,« heißt es hier, und dann wird das nationale Element, der begeisterte Ungestüm und die sichere Originalität, wie andererseits bezeichnenderweise der »männlich stolze Ausdruck« hervorgehoben, der ihn eben als »hungarisches Wunderkind« zeichne. Wir wollen diesen Spuren seiner Eigenthümlichkeit nachgehen, und zwar vor allem nach einem längeren biographischen Berichte, der offenbar in den Hauptzügen seiner eigenen Mittheilung entsprossen, am Anfange der dreißiger Jahre in der ersten Pariser Musikzeitung, in der vor wenig Jahren eingegangenen »Revue et gazette musicale« stand.

Franz Liszt ist am 22. October 1811 zu Raiding bei Oedenburg geboren. Das Kometenjahr erschien seinen Eltern als eine gute Vorbedeutung seiner Zukunft. Der Vater, einer unbegüterten altadligen Familie angehörig, ward früh in Eisenstadt Rechnungsführer bei jenem Fürsten Nicolaus Esterhazy, der noch Joseph Haydn zu seinem Capellmeister hatte, und wenn er dem verehrten Meister des Quartetts persönlich auch meist nur im Kartenspiel nahe trat, das derselbe als einzige Erholung von seiner stets angestrengten Arbeit übte, so weilte er hier doch immer in einer Sphäre, die von nichts Geistigem so sehr wie von der Musik erfüllt war und daher seinem eigenen Innern die reichste Nahrung bot. Denn auch jener beste Schüler Mozarts, der ausgezeichnete Clavierspieler Hummel, geb. 1778 zu Preßburg, wirkte jahrelang als fürstlicher Capellmeister in Eisenstadt und Esterhaz, und der Vater Liszt ward ihm persönlich näher befreundet. Niemand hielt ihn als Clavierspieler so hoch wie er, sein Spiel hatte ihm einen unvergeßlichen Eindruck gemacht. Aber er war auch selbst von Natur in hohem Grade musikalisch, spielte sogar fast jedes Instrument, besonders Clavier und Cello, und war nur durch die Ungunst der Familienverhältnisse abgehalten worden, sich zum völligen Musiker auszubilden. Um so mehr übertrug er jetzt alle Träume und Hoffnungen des Künstlerthums auf den ältesten Sohn, dessen seltene Anlagen sich schon früh zeigten. »Du bist vom Schicksal bestimmt, du wirst jenes Künstlerideal verwirklichen, das meine Jugend vergeblich bezaubert hielt, in dir will ich mich verjüngen und fortpflanzen,« sagte er oft zu ihm. Und so sehr erschien ihm schon jetzt alles in des Knaben Dasein von Bedeutung, daß er ein Tagebuch über ihn führte und darin »mit der kleinlichsten und ängstlichsten Pünktlichkeit eines zärtlichen Vaters« seine Aufzeichnungen machte. Da heißt es denn zunächst aus der Erinnerung jener Kindeszeiten:

»Nach der Impfung begann eine Periode, worin der Knabe abwechselnd mit Nervenleiden und Fieber zu kämpfen hatte, die ihn mehrmals in Lebensgefahr brachten. Einmal, in seinem zweiten oder dritten Jahre, hielten wir ihn für todt und ließen seinen Sarg machen. Dieser beunruhigende Zustand dauerte bis in sein sechstes Jahr fort. In seinem sechsten Jahre hörte er mich ein Concert von Ries in Cismoll spielen. Er lehnte sich ans Clavier, war ganz Ohr. Am Abend kam er aus dem Garten zurück und sang das Thema. Wir ließen's ihn wiederholen, er wußte nicht, was er sang: das war das erste Anzeichen seines Genies. Er bat unaufhörlich, mit ihm das Clavierspiel zu beginnen. Nach drei Monaten Unterricht kehrte das Fieber zurück und nöthigte uns zur Unterbrechung. Die Freude am Unterricht raubte ihm nicht die Lust, mit Kindern seines Alters zu spielen, obwohl er von nun an mehr für sich allein zu leben suchte. Er blieb sich in seinen Uebungen nicht gleich, doch immer folgsam bis in sein neuntes Jahr. Dies war der Zeitpunkt, wo er zum ersten Male öffentlich spielte und zwar zu Oedenburg. Er spielte ein Concert von Ries in Esdur und phantasirte. Das Fieber hatte ihn ergriffen, schon ehe er sich ans Clavier setzte, und ward durch das Spielen noch verstärkt. Schon lange zeigte er großes Verlangen, öffentlich zu erscheinen, er bewies dabei viel Unbefangenheit und Muth.«

Was aber war, unterbrechen wir hier zunächst den Bericht, die lebendige Quelle dieser inneren Hingebung an die Kunst so wie der heiße Trieb, sie öffentlich zu zeigen? Weder Ferdinand Ries, der blos die Allüren seines großen Lehrers Beethoven nachahmte, oder auch Mozarts Schüler Hummel, der Haydn bei Esterhazy nachgefolgt war, noch dieser große Vater der modernen Instrumentalmusik selbst, sie konnten nicht entfernt jenes »Genie des Vortrags« erzeugen, von dem man schon damals die ersten Wunderdinge sah und das eben selbst wie ein schöpferischer Drang diese jugendliche Seele erfüllte und mit heißer Sehnsucht zum Ausdruck seiner selbst, zum öffentlichen Vortrag trieb. Denn da heißt es in einem Pariser Bericht der Schumannschen Musikzeitung von 1834, er spiele oft »zart und sanft elegisch«, dann wieder »mit einer sich selbst zerknirschenden Leidenschaft«, feurig, ja wüthend, so daß man meine, das Clavier müsse unter seinen Fingern zerbrechen, man höre ihn während des Spiels oft stöhnen, röcheln, man sehe ihn Kopf, Augen, Hände, den ganzen Oberleib nach allen Seiten hin heftig bewegen. Ja einmal war er dort ohnmächtig vom Clavier herabgesunken. Woher diese unerhörte Hingabe an die Musik, woher dieses, man möchte sagen Sichausleben der Seele in seinem Spiel?

Es giebt ein seltsames Volk, das vom Himalaya verbreitet bis zum Ebro und dem schottischen Hochlande, nichts auf dieser weiten Gotteswelt besitzt als – sich selbst und die Natur. Nicht Haus noch Herd, nicht Staat noch gesellschaftliche Ordnung binden es, es hat keine ständige Thätigkeit, keinen Beruf, der aus Pflicht und Neigung ein festgekittetes Dasein ausmachte, es hat keine Sitte, keine Kirche, keinen Gott! Und dennoch lebt dieses Volk seit den Jahrhunderten, die wir es kennen, unverändert in Art und Zahl, doch nirgends fixirt. Es sind die Zigeuner, die so scheinbar nichts besitzen, was die Erde dem Menschen bietet und das Leben lebenswerth macht. Zudem noch, wo sie sich zeigen, auf das Innerlichste sind sie verachtet oder doch gering geschätzt. Ja wohl haben sie nichts und sind wie ein von Gott ewig verlassenes, ewig elendes Stück Menschengeschlecht. Aber eins haben sie, und trotz unserer Cultur und Kunst, ihre Musik! Und wie sie nun in der Natur die vollen Wonnen eines Daseins empfinden, das ganz frei ist, frei von allem, was die nächste Regung und Neigung hemmt, so lassen sie in ihren Weisen, vor allem aber in dem improvisirten Vortrag derselben, die ganze gottgegebene Freiheit der inneren Empfindung in all ihren Wallungen vom stolzesten menschlichen Bewußtsein bis zur allerinnigsten Sehnsucht der Seele nach Mittheiluug an gleichfühlende Wesen ertönen: es ist, als wäre ihnen diese Musik Welt und Gott, Leben und Glück, Sonne und alles Gedeihen der Welt, das wir in unserem eigenen Innern antheilvoll widerhallen fühlen. So hat Liszt selbst uns in einer eigenen bemerkenswertsten Schrift die Unbegreiflichkeit der Fortdauer dieses in Atome aufgelösten altindischen Menschenstammes zu lösen gesucht, so erklärt sich die größere Unbegreiflichkeit, daß ein solches, aller sittlichen und geistigen Lebensbasis entbehrendes Volk eine Kunst, und zwar eine von solcher Originalität, Tiefe und Kraft besitzt. Hören wir ihn selbst aber weiter, um die Wunderwirkung seines eigenen Vortrags zu erfassen.

»Das Andenken der Zigeuner verknüpft sich mit meinen Kindheitserinnerungen und einigen ihrer lebhaftesten Eindrücke«, schreibt in den fünfziger Jahren der weltberühmte »Zauberer aus Ungarland«. »Später wurde ich wandernder Virtuose, wie sie es in unserem Vaterlande sind. Sie haben die Pfähle ihrer Zelte in allen Landen Europas aufgestellt und ich durchlief das wirre Netz von Wegen und Pfaden, auf dem sie im Laufe der Zeiten umherirrten, in einigen Jahren ihre geschichtlichen Geschicke gewissermaßen in gedrängtem Bilde wiederholend. Ich blieb dabei gleich ihnen der Bevölkerung jener Länder fremd, verfolgte gleich ihnen mein Ideal in einem unausgesetzten Aufgehen in der Kunst, wenn nicht in der Natur.« Und nun gesteht er sich im Aufwachen jener frühesten Erinnerungen, daß wenig Dinge in jenen ersten Lebenstagen ihn so lebhaft ergriffen haben, wie das von den Zigeunern an der Schwelle jedes Palastes, jeder Hütte aufgegebene Räthsel, wenn man ihnen das Almosen spendete, um ein paar leise ins Ohr geflüsterte Worte oder ein paar laut gespielte Tanzmelodien, um ein paar Lieder, wie sie kein Minstrel singt, bei welchen Liebende in Entzücken versinken und welche Liebende doch nicht selbst erfinden können! Wie oft habe er sich nicht um Lösung dieses Zaubers gefragt, der über allen walte und von keinem unter ihnen gebrochen werde. Als schmächtiger Lehrling eines strengen Meisters, eben seines Vaters, habe er noch keinen andern Ausblick in die Welt der Phantasie gekannt, als das architektonische Gerüst künstlich aneinander gereihter Noten, und wenn wir dabei an altväterische Componisten wie jene Hummel und Ries denken, so glauben wir ihm doppelt, daß es ihn reizen musste, den Zauber zu erfassen, den da sichtbarlich vor aller Augen diese schwielenbedeckten Hände ausübten, wenn sie mit den Pferdehaaren über die elenden Instrumente strichen oder so gewaltig herausfordernd das Metall erklingen ließen.

Und nun erfahren wir, wie diese Kinder der Natur mit ihrer, dem geheimsten und unwillkürlichsten Regen der Empfindung entsprossenen Kunst ihn beschäftigten und ihm förmlich einen inneren Neid um ihre unwiderstehliche Wirkung in die des Neides sonst völlig unfähige Seele warfen. Seine wachen Träume seien von diesen kupferfarbigen, durch den Wechsel der Jahreszeiten und ausschweifender Erregung jeder Art frühzeitig welken Gesichtern erfüllt gewesen, von diesem trotzigen Lächeln, den fahlrothen Augen, wo neben Blitzen, welche glänzen ohne zu leuchten, eine sardonische Ungläubigkeit lacht. Immer schwebten ihm im Geist ihre Tänze vor, ihre weichen und elastischen, prallenden und herausfordernden Bewegungen dabei. Halb und halb tauchte vor seinem geistigen Blick die Einsicht auf, »daß statt der Reihenfolge neblig glanzloser Tage, wie sie den Hintergrund unserer civilisirten Welt bilden, auf dem sich nur hie und da einige freudestrahlende oder schmerzflammende Momente hervorheben, diese Menschen sich ein tieferes Gewebe von Freude und Leid bilden, welches, wechselnd von Liebe, Gesang, Tanz und Wein, wie von vier Elementen der Wollust und des Taumels erweckt und beschwichtigt werden.«

Seine Seele hatte sich früh init dem Dämonischen berührt, das wie eine Sphinx im Innern der Natur thront, er hatte die geheimnisvolle Macht jenes Schaffens empfunden, das die Welt bildet und erhält, er fühlte sie als seine eigenste innere Natur und Kraft, und sein Herz mußte im tiefen Bewußtsein dieses Zauberbesitzes um so höher aufjauchzen, als er sich zugleich nicht von jener anderen Seite menschlichen Hochbesitzes ausgeschlossen wußte, von der Cultur und höheren Kunstbildung, die auch diesem tiefsten Ausströmen natürlichen Lebens erst den Adel und die Hoheit des Gedankens leiht. Sein Genie leuchtete ihm hier vor. Aber, daß es ihm wirklich Genie, d. h. schöpferische Kraft blieb, verdankte er dieser steten innersten Berührung mit dem geheimnisvollen Walten der schaffenden Mächte der Natur. Daher auch schon ein Pariser Bericht vom Jahre 1834 über sein und das Spiel des ähnlich dämonischen Paganini sagt, die Musik sei ihnen die Kunst, die den Menschen sein höheres Dasein ahnen lasse und aus dem Treiben des gemeinen Lebens in den Isistempel führe, wo die Natur in heiligen, nie gehörten und doch verständlichen Lauten mit ihm spreche.

Verfolgen wir nun, wie die Wirkung dieses Spiels, die also offenbar schon der Knabe selbst durch solches lebendigstes Waltenlassen seines ureigenen Gefühls erzeugte, sein ferneres Schicksal bestimmte. Denn: »wie Tropfen einer geistfeurigen Essenz schlugen die Töne der bezaubernden Geige an mein Ohr,« sagt er von dem großen Zigeunervirtuosen Bihary, den er im Jahre 1822 in Wien hörte. »Wäre mein Gedächtnis aus weichem Thon und jede seiner Noten ein Diamantnagel gewesen, sie würden nicht fester darin haften. Wäre meine Seele eine von dem in sein Bett zurückgekehrten Flußgott erweichtes Erdreich gewesen und jeder Ton des Künstlers ein befruchtendes Samenkorn, er hätte nicht tiefer in mir wurzeln können.«

Der Vater führte ihn jetzt zum Fürsten Esterhazy, in dessen Familie ja das musikalische Mäcenatenthum erblich war. Allein: »ich glaube, daß dergleichen nur durch Weiber bei ihm gelingen,« schrieb der große Beethoven ein paar Jahre später, als er ihm wie anderen Fürsten seine Missa solennis zur Subscription anbot, und wollte sich überhaupt »keiner guten Denkungsart von ihm gegen sich versehen«. Was sollte also hier gegenüber einem solchen bloßen jungen Anhänger in der Kunst Besonderes geschehen? Der Fürst machte ihm ein Geschenk von einigen hundert Francs. »Das war wenig für den Erben von Haydns Mäcen,« fügt unser Bericht hinzu. Dagegen in Preßburg, einer größeren und gebildeten Stadt, fand der Knabe eine entsprechende Aufnahme. Ja sechs Adlige, darunter die edlen Grafen Amadee und Szapary setzten ihm auf sechs Jahre ein Gehalt von sechshundert Gulden aus, das des Vaters Wunsch ermöglichte, dem Knaben eine würdige Ausbildung zu geben.

Bald darauf, im Jahre 1821, faßte derselbe denn auch den Entschluß, seine Stelle aufzugeben und sich mit Frau und Kind in Wien niederzulassen. Allein jetzt trat ängstliche Besorgnis seiner Frau, einer geborenen Oberösterreicherin, ein, die ihren Liebling nicht so der wechselvoll bewegten Woge einer Künstlerlaufbahn preisgegeben sehen wollte und zitternd fragte, was werden solle, wenn nach Ablauf jener Zeit ihre Hoffnung sich vereitelt zeige. »Was Gott will!« rief der neunjährige Knabe, der mit stillem Bangen solcher Unterredung gelauscht, ruhig aus und hatte so jeden Einwurf und jede Sorge der Mutter um so mehr besänftigt, als sie selbst ein innig gottergebenes und wahrhaft religiöses Gemüth besaß.

Sechshundert Francs war der ungefähre Verkaufspreis der Mobilien, es hieß also sich einrichten. Der liebenswürdige und bescheidene Karl Czerny war es, den, in Wien angekommen, der Vater zum Lehrer des Knaben erwählte, denn Czerny war eine kurze Weile Schüler Beethovens gewesen und spielte fast alle seine Compositionen auswendig. Doch nur die wundergleiche Begabung des Knaben bestimmte den überbürdeten Lehrer zur Annahme desselben, und als er demselben gar Beethoven zu spielen gab, hatte er bald auch dessen ganze Liebe gewonnen. Denn wie mochte, was Czerny aus pädagogischen Gründen anfangs bestimmt, den trocken pedantischen Clementi ein Knabe spielen, der solchen Feuergeist der Musik in sich trug und solches frei quellende Leben dieser Kunst von Jugend auf mit Ohren genossen hatte? »Wenn er in die Musikläden kam, fand er die Stücke, die man ihm gab, nie schwer genug,« sagt unser Bericht. »Einst zeigte ihm ein Verleger das Hmoll-Concert von Hummel, der Knabe blätterte das Heft durch und meinte, das sei eben nichts, das wolle er vom Blatte spielen. Und dies behauptete er auch vor den ersten Clavierspielern der Stadt. Die Herren, über das Selbstvertrauen des Knaben erstaunt, nahmen ihn beim Wort und führten ihn in den Saal, wo ein Clavier stand. Der Kleine führte das Concert mit eben so viel Fertigkeit wie Sicherheit aus.« Es war dasselbe, mit dem er ein Jahr später vor Beethoven auftrat.

Denn jetzt hielt es ihn nicht mehr, sich ganz öffentlich zu geben. »Für mich giebt es kein größeres Vergnügen, als meine Kunst zu treiben und zu zeigen,« hatte auch einmal in jüngeren Jahren Beethoven geschrieben, und ein Genie, das die vollste Freiheit und tiefste Wirkung solchen eigentlichen Vortrags vor der Oeffentlichkeit von frühesten Tagen an in persönlichstem Erleben erfahren hatte, sollte nicht diese einzig freie Woge, das offene Meer des großen Publikums suchen? »Ich erinnere mich noch, diesen Virtuosen gesehen und gehört zu haben, dessen männlich schönes Aeußere alle Unterscheidungszüge der Race an sich trug,« schreibt Liszt selbst aus jenen Tagen, wo er in Wien zuerst Bihary gehört. »Ich vermag mir noch den gebieterischen Zauber zurückzurufen, den er ausübte, wenn er mit zerstreuter und zugleich melancholischer Fahrlässigkeit, die gegen die an scheinende Lustigkeit seines Temperaments und den lebbaften Blick, den er gleichsam sondirend in die Seele des Zuhörers warf, scharf genug abstach, seine Geige zur Hand nahm und ihr nun stundenlang, als vergäße er, daß die Zeit auch verfließt, Toncascaden entlockte, die bald wie in wildem Fall hinstürmten, bald wie über sammtweiches Moos dahinrieselten.« Schon am 1. Dezember desselben Jahres 1822 hatte der »kleine Herkules« in jenem Concert, wo er Hummels Composition »herabdonnerte«, auch das Andante von Beethovens Adur-Symphonie mit einer Arie des damals in Wien vergötterten Rossini auf solche Weise »vereinigt und so zu sagen in einen Teig geknetet«, daß der Berichterstatter überwältigt ausruft: Est deus in nobis! Ja wohl waltete ein Gott in dieser schöpferischen Vortragsmacht des Kleinen mit der freien Stirn, der kühnen Nase und dem durch sein großes tiefes Auge förmlich leuchtenden Antlitz, das von dem strotzenden Haar wie von anderen Ausstrahlungen dieser Kraft umwallt erschien. Und dies alles mag unseren ernsten Beethoven, der das Wahre vom Falschen, das Große vom Kleinen selbst so sicher zu unterscheiden vermochte, gedrängt haben nach dem Schluß jenes Concertes vom 13. April 1823, wie dies Liszt selbst erzählt hat, zu dem Knaben hinzugehen, ihn in die Arme zu schließen und zu küssen!

Es hatte schwer gehalten, den alternden Meister in ein solches Concert zu bringen. Seine Kränklichkeit, Harthörigkeit und mancherlei Kummer hielten ihn ja seit vielen Jahren ganz der Oeffentlichkeit ferne. Dazu der Widerwille gegen »Wunderkinder«, die allerdings damals grassirten, und ein gewisser Unwille gegen Czerny, den seine eigenen edlen Werke nicht gegen den überall einreißenden eitelsten Virtuosenunfug schützten! Endlich jedoch hatten Ueberredung der Freunde, eigene Gutherzigkeit und das Kunstinteresse gesiegt. Hatte man den Kleinen doch, wie ihm selbst aufgeschrieben ward, ihm und Mozart in ihrer Jugend gleichgestellt! »Die Gegenwart des berühmten Componisten, weit entfernt, den Knaben schüchtern zu machen, erhöhte seine Einbildungskraft,« sagt unser Bericht und meldet ebenfalls ausdrücklich, Beethoven habe ihn aufgemuntert, aber in jenem zurückhaltenden Tone, der ihm in jenen letzten Jahren eigen gewesen und den man entweder seinen persönlichen Verhältnissen oder seiner tiefen Schwermuth über Taubheit zuschreiben müsse. Beethovens Leben hat uns den inneren Bestand seiner Seelenverfassung in diesen letzten Jahren, als die Neunte Symphonie mit ihrem »Freude, schöner Götterfunken« entstand, heute völlig aufgehellt. Man findet ihn nach seinem historischen Zusammenhang dargestellt in dem Buche: »Beethoven, Liszt, Wagner«. Der junge Liszt aber nahm so den Weihekuß freiester Geistesdichtung in seiner Kunst mit auf den Weg in die große Welt.

Denn dahin ging es jetzt, nach Paris, das damals für die künstlerische und vor allem musikalische Production in der That die Welt bedeutete. Zudem fehlte, weil Beethoven selbst nicht mehr in dieser Hinsicht thätig war, in Wien die Gelegenheit voller musikalischen Ausbildung, so wie sie das Pariser Conservatorium unter dem damals weltberühmten Cherubini zu bieten schien. »Der Kleine erfreute sich einer guten Einnahme,« sagt unser letzter Concertbericht, und diesen Mitteln zur Reise fügten sich bald neue in München hinzu, wo er gar schon mit dem damals sehr renommirten Moscheles zu wetteifern vermochte und sich den »zweiten Mozart« nennen hörte. Ebenso stand es in Stuttgart. Dann ging's nach Paris.

»Die beiden Fremdlinge machten ihren Besuch bei Cherubini, mit Empfehlungsbriefen vom Fürsten Metternich,« sagt die Pariser Skizze. »Er empfing sie mit der Antwort: Ein Fremder kann nicht ins Conservatorium kommen! – Der Herr Director vergaß, daß er selbst Italiener war.« Der enttäuschte Vater gerieth in Verzweiflung. Hatte er doch seine ganze Existenz auf die Hoffnung einer vollen künstlerischen Ausbildung seines Sohnes gesetzt!

Mittlerweile war diese Hoffnung auf Erfolg und künstlerische Vollendung des Knaben dennoch in Fluß gekommen: das Publikum und die Freunde edlerer Kunst selbst vertraten die Stelle der engherzigen und neidischen Zunft und wurden Vater und Pathe zugleich bei diesem wahren Wunderkinde des neunzehnten Jahrhunderts, von dem unser Bericht mit Recht sagt: »Wir glauben, dass kein anderer Zeitgenosse am allgemeinen Borne unserer Zeit so reichlich geschöpft, daß keiner ihre mannigfachen Eigenthümlichkeiten so getreu abgespiegelt hat, wie er.« Man rief die Beiden zunächst ins Palais Royal. Es war zu Neujahr 1824. Der Knabe bezauberte alles. Der Herzog von Orleans, später König Louis Philipp, hieß in seinem Entzücken ihn ein beliebiges Geschenk sich ausbitten. »Diesen Hanswurst!« rief der Knabe und zeigte mit dem Finger auf einen schönen Gliedermann, der an der Wand hing.

»Die goldne Kette gieb mir nicht!«

– man erkennt schon hier, wie bei Mozart, das vollständig Eigensuchtslose des echten Künstlers, der stets nur spendet, niemals für sich verlangt. Diese rein menschlichen Züge wie der unvergleichliche Genius in diesem Knaben, der bald schon kein Knabe mehr war, riß fortan mit vollem Ungestüm alles in seine Kreise. Denn hören wir, was sein Jugendbiograph sagt, es wird allen feiner Fühlenden ebenso begreiflich wie anziehend sein:

»Ein Jahr verging und der junge Liszt ward indessen so zu sagen das Spielzeug aller Damen von Paris. Ueberall wurde er geliebkost und gehätschelt. Seine losen Streiche und Possen, seine Launen und Grillen wurden alle angemerkt und vielfach erzählt, alles fand man entzückend. In einem Alter von kaum dreizehn Jahren hatte er Liebe erregt, Eifersucht erweckt, Feindschaft entzündet: alles drehte sich um ihn, man war völlig in ihn vernarrt.«

Wir vernahmen schon von den öffentlichen Berichten über diese jähe Eroberung der tonangebenden Gesellschaft des damaligen Europa, man findet sie in mehr Ausführlichkeit in eben jener Schrift: »Beethoven, Liszt, Wagner«. Der Himmel habe für jenes außerordentliche Kind etwas Außerordentliches gethan, daß es im Alter von zwölf Jahren keinen Nebenbuhler mehr kenne, – und zwar in einer Kunst, in der er das leiste und verstehe, was sicher kein Sterblicher sich rühmen könne, ihm beigebracht zu haben. Das »Genie des Vortrags«, dessen Quellen wir oben zu ergründen suchten, ohne jedoch dabei die letzte »verborgene Tiefe« aufdecken zu können, da sie in jener Bereinigung aller eigensten und freiesten Kräfte liegt, welche wir im allgemeinen Individualität und auf das Künstlerische angewendet eben »Genie« nennen, – diese unübertroffene Vortragskunst, die z. B. auf einen Schauspieler wie Talma damals so unwiderstehlich wirkte, daß er eines Abends im italienischen Theater, während man in allen Logen sich um den Knaben riß, ihn von hinten zärtlich umarmte und so innig umschloß, daß der Aermste Mühe hatte, sich loszuwinden, um nur den stürmischen Liebhaber zu sehen, – diese Kunst bildete sich jetzt in der fortwährenden lebendigen Aufnahme seiner Gaben durch ein großes und antheilnehmendes Publikum in Frankreich und England zu ihrer Vollendung aus.

Er, dessen Antlitz mehr und mehr das Gepräge eines Apollo mit dem Typus der beiden königlichsten Thiere, des Löwen und des Adlers gewann, so wie ihn uns ein vortreffliches Bild seiner Jünglingsjahre zeigt, ward selbst bald in seinem Spiele zu jenem »pythischen Gotte, der in glühenden Umarmungen der stolzen Muse ihre verborgensten Geheimnisse entlockt« und die Welt in staunendes Entzücken versetzt.

Den letzten entscheidenden Eindruck für diese seine unerreichte Vortragskunst aber empfing der junge Künstler durch Paganini. Es war die Sprache der unergründlichen Natur, was er hier wie bei den Zigeunern hörte, aber ins Edlere des Geistes übersetzt, ohne daß das Dämonische getilgt gewesen wäre, das so räthselvoll in ihrem Innern thront. Es war im Jahre 1831, als dieser Heros der Violinisten in Paris erschien und mit seinen Concerten alles vor ihm Aufgetretene verdunkelte. Die unglaublichsten Schwierigkeiten wurden in höchster Vollendung überwunden und »erschienen zugleich als nothwendige Ausdrucksmittel besonderer Stimmungen, als Ausdruck des tiefsten Schmerzes oder des ausgelassensten Humors.« Liszt, damals neunzehn Jahre alt, ward von diesem Vortrage in innerster Seele getroffen. »Er gewann,« sagt ein neuerer Musikschriftsteller, »die Ueberzeugung, daß nur durch neue ungewöhnliche Mittel eine große Versammlung in so beispiellosen Enthusiasmus versetzt werden könne und daß, wie hier der Geige, so auch dem Claviere noch ähnliche ergreifende Wirkungsmittel abzugewinnen seien: – er beschloß, der Paganini des Claviers zu werden

Daß er mehr wurde, wissen wir Heutigen.

Wir schließen daher diese Präludien seines Lebens mit einigen weniger gekannten Berichten aus dieser »ersten reproduktiven Periode« desselben.

Zunächst in jener ausgezeichneten Pariser Musikzeitung, deren vieljähriger Mitarbeiter Liszt selbst war, heißt es vom Jahre 1834, als er zweiundzwanzig Jahre alt war, folgendermaßen: »Sein Vortrag ist seine Sprache, seine Seele. Er ist der poetischste vollendetste Inbegriff aller Eindrücke, die er empfangen hat, alles dessen, wovon er eingenommen ist. Diese Eindrücke, die er allem Anscheine nach vermittelst der Sprache gar nicht wiedergeben und in klaren und bestimmten Gedanken aussprechen könnte, diese reproducirt er in ihrer ganzen unbegrenzten Ausdehnung mit einer Kraft der Wahrheit, mit einer Gewalt der Natur, mit einer Energie der Empfindung, mit einem Zauber der Anmuth, welche nie erreicht werden können. Aber bald ist seine Kunst leidend, ein Instrument, ein Echo: sie drückt aus, sie übersetzt. Bald ist sie wieder thätig: sie spricht, sie ist das Organ, dessen er sich zur Entfaltung seiner Ideen bedient. Daher kommt es, daß Liszts Vortrag kein mechanisches materielles Exercitium, sondern vielmehr und im eigentlichen Sinne eine Composition, eine wirkliche Schöpfung der Kunst ist

Dabei werden dann einzelne Begebnisse angeführt, z. B. wie er in Weber's Concertstücke auf seinem Instrumente ein Tutti des Orchesters überwältigt und mit seinem Donner die hundert Stimmen der Instrumente und das tausendfache Bravorufen, das in diesem Augenblicke durch den Saal schallte, übertönt habe. »Woher kommt es, daß wir ganz von selbst, sobald Liszt sich ans Clavier setzt, um die einfachste Sache, ein Caprice, einen Walzer, eine Etüde von Cramer, Chopin oder Moscheles zu spielen, in unserer Brust plötzlich eine Beklemmung, ein Stocken des Athems spüren?« fragt sich dann verwundert dieser Musikfreund und führt darauf besonders seinen Vortrag Beethovenscher Stücke an. »Beethoven ist für Liszt ein Gott, vor welchem er seine Stirne neigt,« sagt er. »Er betrachtet ihn als einen Erlöser, dessen Ankunft in der musikalischen Welt durch die Freiheit des poetischen Gedankens, durch die vernichtete Herrschaft verjährter Gewohnheiten sicher bezeichnet ist. Oh man muß ihn eine jener Melodien, eine jener Poesien anstimmen hören, die man mit dem längst gemein gewordenen Namen ›Sonate‹ bezeichnet. Man muß seine Augen sehen, wenn er sie aufschlägt, wie um eine Eingebung von oben zu empfangen, und wenn er sie düster wieder auf die Erde heftet. Man muß ihn sehen, man muß ihn hören und – schweigen. Denn hier fühlen wir nur zu wohl, wie sehr Bewunderung unsere Ausdrücke schwächt.«

Aus der gleichen Zeit stammt jener Bericht eines recht nüchternen Deutschen in der Musikzeitung Robert Schumanns. Man wolle in Paris dem jungen Künstler kein Compositionstalent, keine Gedankenproductivität zutrauen. Dagegen habe er die Gedanken der großen Meister sich durch Auffassung und Studium zum Eigenthum gemacht. Um aber sein Spiel zu begreifen, könne man sich nur des Ausdrucks »außerordentlich« bedienen. Er spiele mit einer beispiellosen Fertigkeit und Reinheit, elegant, zart und feurig. Er reiße sich und den Zuhörer hin, ja er mache diesen oft bange um seinetwillen, da man nicht glaube, daß er werde ausdauern können. Wie denn ja der Fall jener Tage berichtet wird, wo er »nach einem allzu anhaltenden Aufwande von Feuer und Ausdruck« der Ermattung erlegen war. »Er besiegt alles, nur seine Nerven wird er nicht besiegen können, denen, fürchte ich, wird er unterliegen,« endigt unser Landsmann. »Man sieht mit einem Worte einen ungeheuer nervösen Menschen, der ungeheuer Clavier spielt.«

Die Welt weiß heute aus hundert und aber hundert seiner Siegeszüge, daß er in gleicher Weise durch die »Idealität seiner persönlichen Erscheinung« wie durch den berückenden Schönheitszauber seines Spieles als ein anderer Alexander der Große die Welt durchzog und sie nicht blos für die reinsten Genüsse des inneren Lebens eroberte, sondern lebendiger »Zeuge der höchsten Wahrheit und Schönheit« ward, wie sie ein sich ergänzendes Geschwisterpaar, nein im innersten Wesen Eins sind. Eine ausführliche quellenmäßige Biographie hat sich unter dem Titel » Franz Liszt. Als Künstler und Mensch« Frau Lina Ramann in Nürnberg zur Aufgabe gestellt. Doch ist bisher nur der erste Band erschienen, der bis zum Jahre 1840 reicht. Der Verleger ist Breitkopf & Härtel in Leipzig.


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