Friedrich Wilhelm Nietzsche
Der Wanderer und sein Schatten
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Die traurigen und die ernsten Autoren. – Wer zu Papier bringt, was er leidet, wird ein trauriger Autor: aber ein ernster, wenn er uns sagt, was er litt und weshalb er jetzt in der Freude ausruht.

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Gesundheit des Geschmacks. – Wie kommt es, daß die Gesundheiten nicht so ansteckend sind wie die Krankheiten – überhaupt, und namentlich im Geschmack? Oder gibt es Epidemien der Gesundheit? –

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Vorsatz. – Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher Zeit geboren und (mit Tinte) getauft wurde.

131

Den Gedanken verbessern. – Den Stil verbessern – das heißt den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! – Wer dies nicht sofort zugibt, ist auch nie davon zu überzeugen.

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Klassische Bücher. – Die schwächste Seite jedes klassischen Buches ist die, daß es zu sehr in der Muttersprache seines Autors geschrieben ist.

133

Schlechte Bücher. – Das Buch soll nach Feder, Tinte und Schreibtisch verlangen: aber gewöhnlich verlangen Feder, Tinte und Schreibtisch nach dem Buche. Deshalb ist es jetzt so wenig mit Büchern.

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Sinnesgegenwart. – Das Publikum wird, wenn es über Gemälde nachdenkt, dabei zum Dichter, und wenn es über Gedichte nachdenkt, zum Forscher. Im Augenblick, da der Künstler es anruft, fehlt es ihm immer am rechten Sinn, nicht also an der Geistes-, sondern an der Sinnesgegenwart.

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Gewählte Gedanken. – Der gewählte Stil einer bedeutenden Zeit wählt nicht nur die Worte, sondern auch die Gedanken aus, – und zwar beide aus dem Üblichen und Herrschenden: die gewagten und allzufrisch riechenden Gedanken sind dem reiferen Geschmack nicht minder zuwider als die neuen tollkühnen Bilder und Ausdrücke. Später riecht beides – der gewählte Gedanke und das gewählte Wort – leicht nach Mittelmäßigkeit, weil der Geruch des Gewählten sich schnell verflüchtigt und dann nur noch das Übliche und Alltägliche daran geschmeckt wird.

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Hauptgrund der Verderbnis des Stils. – Mehr Empfindung für eine Sache zeigen wollen, als man wirklich hat, verdirbt den Stil, in der Sprache und in allen Künsten. Vielmehr hat alle große Kunst die umgekehrte Neigung: sie liebt es, gleich jedem sittlich bedeutenden Menschen, das Gefühl auf seinem Wege anzuhalten und nicht ganz ans Ende laufen zu lassen. Diese Scham der halben Gefühls-Sichtbarkeit ist zum Beispiel bei Sophokles auf das Schönste zu beobachten; und es scheint die Züge der Empfindung zu verklären, wenn diese sich selber nüchterner gibt, als sie ist.

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Zur Entschuldigung der schwerfälligen Stilisten. – Das Leicht-Gesagte fällt selten so schwer ins Gehör, als die Sache wirklich wiegt – das liegt aber an den schlecht geschulten Ohren, welche aus der Erziehung durch das, was man bisher Musik nannte, in die Schule der höheren Tonkunst, das heißt der Rede, übergehen müssen.

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Vogelperspektive. – Hier stürzen Wildwasser von mehreren Seiten einem Schlunde zu: ihre Bewegung ist so stürmisch und reißt das Auge so mit sich fort, daß die kahlen und bewaldeten Gebirgshänge ringsum nicht abzusinken, sondern wie hinabzufliehen scheinen. Man wird beim Anblick angstvoll gespannt, als ob etwas Feindseliges hinter alledem verborgen liege, vor dem alles flüchten müsse, und gegen das uns der Abgrund Schutz verliehe. Diese Gegend ist gar nicht zu malen, es sei denn, daß man wie ein Vogel in der freien Luft über ihr schwebe. Hier ist einmal die sogenannte Vogelperspektive nicht eine künstlerische Willkür, sondern die einzige Möglichkeit.
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