Friedrich Wilhelm Nietzsche
Der Wanderer und sein Schatten
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Gut schreiben lernen. – Die Zeit des Gutredens ist vorbei, weil die Zeit der Stadt-Kulturen vorbei ist. Die letzte Grenze, welche Aristoteles der großen Stadt erlaubte – es müsse der Herold noch imstande sein, sich der ganzen versammelten Gemeinde vernehmbar zu machen –, diese Grenze kümmert uns so wenig, als uns überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir selbst über die Völker hinweg verstanden werden wollen. Deshalb muß jetzt ein jeder, der gut europäisch gesinnt ist, gut und immer besser schreiben lernen: es hilft nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren ist, wo man das Schlecht-schreiben als nationales Vorrecht behandelt. Besser schreiben aber heißt zugleich auch besser denken; immer Mitteilenswerteres erfinden und es wirklich mitteilen können; übersetzbar werden für die Sprachen der Nachbarn; zugänglich sich dem Verständnisse jener Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen; dahin wirken, daß alles Gute Gemeingut werde und den Freien alles frei stehe; endlich, jenen jetzt noch so fernen Zustand der Dinge vorbereiten, wo den guten Europäern ihre große Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Überwachung der gesamten Erdkultur. – Wer das Gegenteil predigt, sich nicht um das Gutschreiben und Gutlesen zu kümmern – beide Tugenden wachsen miteinander und nehmen miteinander ab –, der zeigt in der Tat den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehr national werden können: er vermehrt die Krankheit dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien Geister.

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Die Lehre vom besten Stile. – Die Lehre vom Stil kann einmal die Lehre sein, den Ausdruck zu finden, vermöge dessen man jede Stimmung auf den Leser und Hörer überträgt; sodann die Lehre, den Ausdruck für die wünschenswerteste Stimmung eines Menschen zu finden, deren Mitteilung und Übertragung also auch am meisten zu wünschen ist: für die Stimmung des von Herzensgrund bewegten, geistig freudigen, hellen und aufrichtigen Menschen, der die Leidenschaften überwunden hat. Dies wird die Lehre vom besten Stile sein: er entspricht dem guten Menschen.

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Auf den Gang acht geben. – Der Gang der Sätze zeigt, ob der Autor ermüdet ist; der einzelne Ausdruck kann dessenungeachtet immer noch stark und gut sein, weil er für sich und früher gefunden wurde: damals als der Gedanke dem Autor zuerst aufleuchtete. So ist es häufig bei Goethe, der zu oft diktierte, wenn er müde war.

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Schon und noch. –
A: Die deutsche Prosa ist noch sehr jung: Goethe meint, daß Wieland ihr Vater sei.
B: So jung und schon so häßlich!
C: Aber – soviel mir bekannt, schrieb schon der Bischof Ulfilas deutsche Prosa; sie ist also gegen 1500 Jahre alt.
B: So alt und noch so häßlich!

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Original-deutsch. – Die deutsche Prosa, welche in der Tat nicht nach einem Muster gebildet ist und wohl als originales Erzeugnis des deutschen Geschmacks zu gelten hat, dürfte den eifrigen Anwälten einer zukünftigen, originalen, deutschen Kultur einen Fingerzeig geben, wie etwa, ohne Nachahmung von Mustern, eine wirklich deutsche Tracht, eine deutsche Geselligkeit, eine deutsche Zimmereinrichtung, ein deutsches Mittagsessen aussehen werde. – Jemand, der längere Zeit über diese Aussichten nachgedacht hatte, rief endlich in vollem Schrecken aus: "Aber, um des Himmels willen, vielleicht haben wir schon diese originale Kultur – man spricht nur nicht gerne davon!"

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Verbotene Bücher. – Nie etwas lesen, was jene arroganten Vielwisser und Wirrköpfe schreiben, welche die abscheulichste Unart, die der logischen Paradoxie haben: sie wenden die logischen Formen gerade dort an, wo alles im Grunde frech improvisiert und in die Luft gebaut ist. ("Also" soll bei ihnen heißen "du Esel von Leser, für dich gib es dies `also' nicht – wohl aber für mich" – worauf die Antwort lautet: "du Esel von Schreiber, wozu schreibst du denn?")

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Geist zeigen. – Jeder, der seinen Geist zeigen will, läßt merken, daß er auch reichlich vom Gegenteil hat. Jene Unart geistreicher Franzosen, ihren besten Einfällen einen Zug von dédain beizugeben, hat ihren Ursprung in der Absicht, für reicher zu gelten, als sie sind: sie wollen lässig schenken, gleichsam ermüdet vom beständigen Spenden aus übervollen Schatzhäusern.
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