Friedrich Wilhelm Nietzsche
Der Wanderer und sein Schatten
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Die Erbreichen der Moralität. – Es gibt auch im Moralischen einen Erb-Reichtum: ihn besitzen die Sanften, Gutmütigen, Mitleidigen, Mildtätigen, welche alle die gute Handlungsweise, aber nicht die Vernunft (die Quelle derselben) von ihren Vorfahren her mitbekommen haben. Das Angenehme an diesem Reichtum ist, daß man von ihm fortwährend darreichen und mitteilen muß, wenn er überhaupt empfunden werden soll, und daß er so unwillkürlich daran arbeitet, die Abstände zwischen moralisch-reich und -arm geringer zu machen: und zwar, was das merkwürdigste und beste ist, nicht zugunsten eines dereinstigen Mittelmaßes zwischen arm und reich, sondern zugunsten eines allgemeinen Reich- und Überreich-werdens. – So wie hier geschehen ist, läßt sich etwa die herrschende Ansicht über den moralischen Erbreichtum zusammenfassen: aber es scheint mir, daß dieselbe mehr in majorem gloriam der Moralität, als zu Ehren der Wahrheit aufrechterhalten wird. Die Erfahrung mindestens stellt einen Satz auf, welcher, wenn nicht als Widerlegung, jedenfalls als bedeutende Einschränkung jener Allgemeinheit zu gelten hat. Ohne den erlesensten Verstand, so sagt die Erfahrung, ohne die Fähigkeit der feinsten Wahl und einen starken Hang zum Maßhalten werden die Moralisch-Erbreichen zu Verschwendern der Moralität: indem sie haltlos sich ihren mitleidigen, mildtätigen, versöhnenden, beschwichtigenden Trieben überlassen, machen sie alle Welt um sich nachlässiger, begehrlicher und sentimentaler. Die Kinder solcher höchst moralischen Verschwender sind daher leicht und, wie leider zu sagen ist, bestenfalls – angenehme schwächliche Taugenichtse.

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Der Richter und die Milderungsgründe. – "Man soll auch gegen den Teufel honett sein und seine Schulden bezahlen", sagte ein alter Soldat, als man ihm die Geschichte Faustens etwas genauer erzählt hatte, "Faust gehört in die Hölle!" – "O ihr schrecklichen Männer!" rief seine Gattin aus, "wie ist das nur möglich! Er hat ja nichts getan, als keine Tinte im Tintenfaß gehabt! Mit Blut schreiben ist freilich eine Sünde, aber deshalb soll ein so schöner Mann doch nicht brennen?"

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Problem der Pflicht zur Wahrheit. – Pflicht ist ein zwingendes, zur Tat drängendes Gefühl, das wir gut nennen und für undiskutierbar halten (- über Ursprung, Grenze und Berechtigung desselben wollen wir nicht reden und nicht geredet haben). Der Denker hält aber alles für geworden und alles Gewordene für diskutierbar, ist also der Mann ohne Pflicht, – solange er eben nur Denker ist. Als solcher würde er also auch die Pflicht, die Wahrheit zu sehen und zu sagen, nicht anerkennen und dies Gefühl nicht fühlen, er fragt: woher kommt sie? wohin will sie? aber dies Fragen selber wird von ihm als fragwürdig angesehen. Hätte dies aber nicht zur Folge, daß die Maschine des Denkers nicht mehr recht arbeitet, wenn er sich beim Akte des Erkennens wirklich unverpflichtet fühlen könnte? Insofern scheint hier zur Heizung dasselbe Element nötig zu sein, das vermittelst der Maschine untersucht werden soll. – Die Formel würde vielleicht sein: angenommen es gäbe eine Pflicht, die Wahrheit zu erkennen, wie lautet die Wahrheit dann in bezug auf jede andere Art von Pflicht? – Aber ist ein hypothetisches Pflichtgefühl nicht ein Widersinn?

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Stufen der Moral. – Moral ist zunächst ein Mittel, die Gemeinde überhaupt zu erhalten und den Untergang von ihr abzuwehren; sodann ist sie ein Mittel, die Gemeinde auf einer gewissen Höhe und in einer gewissen Güte zu erhalten. Ihre Motive sind Furcht und Hoffnung: und zwar um so derbere, mächtigere, gröbere, als der Hang zum Verkehrten, Einseitigen, Persönlichen noch sehr stark ist. Die entsetzlichsten Angstmittel müssen hier Dienste tun, solange noch keine milderen wirken wollen und jene doppelte Art der Erhaltung sich nicht anders erreichen läßt (zu ihren allerstärksten gehört die Erfindung eines Jenseits mit einer ewigen Hölle). Weitere Stufen der Moral und also Mittel zum bezeichneten Zwecke sind die Befehle eines Gottes (wie das mosaische Gesetz); noch weitere und höhere die Befehle eines absoluten Pflichtbegriffs mit dem "du sollst", – alles noch ziemlich grob zugehauene, aber breite Stufen, weil die Menschen auf die feineren, schmäleren ihren Fuß noch nicht zu setzen wissen. Dann kommt eine Moral der Neigung, des Geschmacks, endlich die der Einsicht – welche über alle illusionären Motive der Moral hinaus ist, aber sich klar gemacht hat, wie die Menschheit lange Zeiten hindurch keine anderen haben durfte.

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Moral des Mitleidens im Munde der Unmäßigen. – Alle die, welche sich selber nicht genug in der Gewalt haben und die Moralität nicht als fortwährende im großen und kleinsten geübte Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung kennen, werden unwillkürlich zu Verherrlichern der guten, mitleidigen, wohlwollenden Regungen, jener instinktiven Moralität, welche keinen Kopf hat, sondern nur aus Herz und hilfreichen Händen zu bestehen scheint. Ja es ist in ihrem Interesse, eine Moralität der Vernunft zu verdächtigen und jene andere zur alleinigen zu machen.
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