Friedrich Wilhelm Nietzsche
Der Wanderer und sein Schatten
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Gibt es "deutsche Klassiker"? – Sainte-Beuve bemerkt einmal, daß zu der Art einiger Literaturen das Wort "Klassiker" durchaus nicht klingen wolle: wer werde zum Beispiel so leicht von "deutschen Klassikern" reden! – Was sagen unsre deutschen Buchhändler dazu welche auf dem Wege sind, die fünfzig deutschen Klassiker, an die wir schon glauben sollen, noch um weitere fünfzig zu vermehren? Scheint es doch fast, als ob man eben nur 30 Jahre lang tot zu sein und als erlaubte Beute öffentlich dazuliegen brauche, um unversehens plötzlich als Klassiker die Trompete der Auferstehung zu hören! Und dies in einer Zeit und unter einem Volke, wo selbst von den sechs großen Stammvätern der Literatur fünf unzweideutig veralten oder veraltet sind, – ohne daß diese Zeit und dieses Volk sich gerade dessen zu schämen hätten! Denn jene sind vor den Stärken dieser Zeit zurückgewichen – man überlege es sich nur mit aller Billigkeit! – Von Goethe, wie angedeutet, sehe ich ab, er gehört in eine höhere Gattung von Literaturen, als "National-Literaturen" sind: deshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre imstande, in der deutschen Politik der letzten 70 Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen! (während jedenfalls darin ein Stück Schiller, und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing tätig gewesen ist). Aber jene andern fünf! Klopstock veraltete schon bei Lebzeiten auf eine sehr ehrwürdige Weise; und so gründlich, daß das nachdenkliche Buch seiner späteren Jahre, die Gelehrten-Republik, wohl bis heutigen Tag von niemandem ernst genommen worden ist. Herder hatte das Unglück, daß seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; für die feineren und stärkeren Köpfe (wie für Lichtenberg) war zum Beispiel selbst Herders Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, sofort beim Erscheinen etwas Veraltetes. Wieland, der reichlich gelebt und zu leben gegeben hat, kam als ein kluger Mann dem Schwinden seines Einflusses durch den Tod zuvor. Lessing lebt vielleicht heute noch, – aber unter jungen und immer jüngeren Gelehrten! Und Schiller ist jetzt aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben, aller deutschen Knaben geraten! Es ist ja eine bekannte Art des Veraltens, daß ein Buch zu immer unreiferen Lebensaltern hinabsteigt. – Und was hat diese fünf zurückgedrängt, so daß gut unterrichtete und arbeitsame Männer sie nicht mehr lesen? Der bessere Geschmack, das bessere Wissen, die bessere Achtung vor dem Wahren und Wirklichen: also lauter Tugenden, welche gerade durch jene fünf (und durch zehn und zwanzig andere weniger lauten Namens) erst wieder in Deutschland angepflanzt worden sind, und welche jetzt als hoher Wald über ihren Gräbern neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der Vergessenheit breiten. – Aber Klassiker sind nicht Anpflanzer von intellektuellen und literarischen Tugenden, sondern Vollender und höchste Lichtspitzen derselben, welche über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zugrundegehen: denn sie sind leichter, freier, reiner als sie. Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreißig sehr alten, nie veralteten Büchern lebt: in den Klassikern.

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Interessant, aber nicht schön. – Diese Gegend verbirgt ihren Sinn, aber sie hat einen, den man erraten möchte: wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke zu Worten aber ich weiß nicht, wo der Satz beginnt, der das Rätsel aller dieser Winke löst, und werde zum Wendehals darüber, zu untersuchen, ob von hier oder von dort aus zu lesen ist.

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Gegen die Sprach-Neuerer. – In der Sprache neuern oder altertümeln, das Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichtum des Wortschatzes statt auf Beschränkung trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten Geschmacks. Eine edle Armut, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche Freiheit zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus: sie wollen weniger haben, als das Volk hat – denn dieses ist am reichsten in Altem und Neuem – aber sie wollen dies Weniger besser haben. Man ist schnell mit dem Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht zu Ende im Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs mit dem Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und Wendungen ein gutes Auge hat.
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