Friedrich Wilhelm Nietzsche
Der Wanderer und sein Schatten
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Neid der Götter. – Der "Neid der Götter" entsteht, wenn der niedriger Geachtete sich irgend worin dem Höheren gleichsetzt (wie Ajax) oder durch Gunst des Schicksals ihm gleichgesetzt wird (wie Niobe als überreich gesegnete Mutter). Innerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung stellt dieser Neid die Forderung auf, daß ein jeder kein Verdienst über seinem Stande habe, auch daß sein Glück diesem gemäß sei und namentlich daß sein Selbstbewußtsein jenen Schranken nicht entwachse. Oft erfährt der siegreiche General den "Neid der Götter", ebenso der Schüler, der ein meisterliches Werk schuf.

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Eitelkeit als Nachtrieb des ungesellschaftlichen Zustandes. – Da die Menschen ihrer Sicherheit wegen sich selber als gleich gesetzt haben, zur Gründung der Gemeinde, diese Auffassung, aber im Grunde wider die Natur des einzelnen geht und etwas Erzwungenes ist, so machen sich, je mehr die allgemeine Sicherheit gewährleistet ist, neue Schößlinge des alten Triebes nach Übergewicht geltend: in der Abgrenzung der Stände, in dem Anspruch auf Berufs-Würden und –Vorrechte, überhaupt in der Eitelkeit (Manieren, Tracht, Sprache usw.). Sobald einmal die Gefahr des Gemeinwesens wieder fühlbar wird, drücken die Zahlreicheren, welche ihr Übergewicht nicht im Zustande der allgemeinen Ruhe durchsetzen konnten, wieder den Zustand der Gleichheit hervor: die absurden Sonderrechte und Eitelkeiten verschwinden auf einige Zeit. Stürzt aber das Gemeinwesen ganz zusammen, gerät alles in Anarchie, so bricht sofort der Naturzustand, die unbekümmerte, rücksichtslose Ungleichheit hervor, wie dies auf Korkyra geschah, nach dem Berichte des Thukydides. Es gibt weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht.

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Billigkeit. – Eine Fortbildung der Gerechtigkeit ist die Billigkeit, entstehend unter solchen, welche nicht gegen die Gemeinde-Gleichheit verstoßen: es wird auf Fälle, wo das Gesetz nichts vorschreibt, jene feinere Rücksicht des Gleichgewichts übertragen, welche vor- und rückwärts blickt und deren Maxime ist "wie du mir, so ich dir". Aequum heißt eben "es ist gemäß unserer Gleichheit; diese mildert auch unsere kleinen Verschiedenheiten zu einem Anschein von Gleichheit herab und will, daß wir manches uns nachsehen, was wir nicht müßten".

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Elemente der Rache. – Das Wort "Rache" ist so schnell gesprochen: fast scheint es, als ob es gar nicht mehr enthalten könne, als eine Begriffs- und Empfindungs-Wurzel. Und so bemüht man sich immer noch dieselbe zu finden: wie unsere Nationalökonomen noch nicht müde geworden sind, im Worte "Wert" eine solche Einheit zu wittern und nach dem ursprünglichen Wurzelbegriff des Wertes zu suchen. Als ob nicht alle Worte Taschen wären, in welche bald dies, bald jenes, bald mehreres auf einmal gesteckt worden ist! So ist auch "Rache" bald dies, bald jenes, bald etwas mehr Zusammengesetztes. Man unterscheide einmal jenen abwehrenden Zurückschlag, den man fast unwillkürlich auch gegen leblose Gegenstände, die uns beschädigt haben (wie gegen bewegte Maschinen), ausführt: der Sinn unserer Gegenbewegung ist, dem Beschädigten Einhalt zu tun dadurch, daß wir die Maschine zum Stillstand bringen. Die Stärke des Gegenschlags muß mitunter, um dies zu erreichen, so stark sein, daß er die Maschine zertrümmert; wenn dieselbe aber zu stark ist, um vom einzelnen sofort zerstört werden zu können, wird dieser doch immer noch den heftigsten Schlag ausführen, dessen er fähig ist, – gleichsam als einen letzten Versuch. So benimmt man sich auch gegen schädigende Personen bei der unmittelbaren Empfindung des Schadens selber; will man diesen Akt einen Rache-Akt nennen, so mag es sein; nur erwäge man, daß hier allein die Selbst-Erhaltung ihr Vernunft-Räderwerk in Bewegung gesetzt hat, und daß man im Grunde nicht an den Schädiger, sondern nur an sich dabei denkt: wir handeln so, ohne wieder schaden zu wollen, sondern nur um noch mit Leib und Leben davonzukommen. – Man braucht Zeit, wenn man von sich mit seinen Gedanken zum Gegner übergeht und sich fragt, auf welche Weise er am empfindlichsten zu treffen ist. Dies geschieht bei der zweiten Art von Rache: ein Nachdenken über die Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit des andern ist ihre Voraussetzung: man will wehetun. Dagegen sich selber gegen weiteren Schaden sichern, liegt hier so wenig im Gesichtskreis des Rache-Nehmenden, daß er fast regelmäßig den weiteren eigenen Schaden zuwege bringt und ihm sehr oft kaltblütig vorher entgegensieht. War es bei der ersten Art von Rache die Angst vor dem zweiten Schlage, welche den Gegenschlag so stark wie möglich machte: so ist hier fast völlige Gleichgültigkeit gegen das, was der Gegner tun wird; die Stärke des Gegenschlags wird nur durch das, was er uns getan hat, bestimmt. Was hat er denn getan? Und was nützt es uns, wenn er nun leidet, nachdem wir durch ihn gelitten haben? Es handelt sich um eine Wiederherstellung: während der Rache-Akt erster Art nur der Selbst-Erhaltung dient. Vielleicht verloren wir durch den Gegner Besitz, Rang, Freunde, Kinder – diese Verluste werden durch die Rache nicht zurückgekauft, die Wiederherstellung bezieht sich allein auf einen Nebenverlust bei allen den erwähnten Verlusten. Die Rache der Wiederherstellung bewahrt nicht vor weiterem Schaden, sie macht den erlittenen Schaden nicht wieder gut, – außer in einem Falle. Wenn unsere Ehre durch den Gegner gelitten hat, so vermag die Rache sie wiederherzustellen. Sie hat aber in jedem Falle einen Schaden erlitten, wenn man uns absichtlich ein Leid zufügte: denn der Gegner bewies damit, daß er uns nicht fürchtete. Durch die Rache beweisen wir, daß wir auch ihn nicht fürchten: darin liegt die Ausgleichung, die Wiederherstellung. (Die Absicht, den völligen Mangel an Furcht zu zeigen, geht bei einigen Personen so weit, daß ihnen die Gefährlichkeit der Rache für sie selbst – Einbuße der Gesundheit oder des Lebens oder sonstige Verluste – als eine unerläßliche Bedingung jeder Rache gilt. Deshalb gehen sie den Weg des Duells, obschon die Gerichte ihnen den Arm bieten, um auch so Genugtuung für die Beleidigung zu erhalten: sie nehmen aber die gefahrlose Wiederherstellung ihrer Ehre nicht als genügend an, weil sie ihren Mangel an Furcht nicht beweisen kann.) – Bei der ersterwähnten Art der Rache ist es gerade die Furcht, die den Gegenschlag ausführt: hier dagegen ist es die Abwesenheit der Furcht, welche, wie gesagt, durch den Gegenschlag sich beweisen will. – Nichts scheint also verschiedener als die innere Motivierung der beiden Handlungsweisen, die mit einem Wort "Rache" benannt werden: und trotzdem kommt es sehr häufig vor, daß der Rache-Übende in Unklarheit ist, was ihn eigentlich zur Tat bestimmt hat; vielleicht, daß er aus Furcht und um sich zu erhalten den Gegenschlag führte, hinterher aber, als er Zeit hatte, über den Gesichtspunkt der verletzten Ehre nachzudenken, selber sich einredet, seiner Ehre halber sich gerächt zu haben: – dieses Motiv ist ja jedenfalls vornehmer als das andere! Dabei ist noch wesentlich, ob er seine Ehre in den Augen der anderen (der Welt) beschädigt sieht oder nur in den Augen des Beleidigers: im letzteren Falle wird er die geheime Rache vorziehen, im ersteren aber die öffentliche. Je nachdem er sich stark oder schwach in die Seele des Täters und der Zuschauer hineindenkt, wird seine Rache erbitterter oder zahmer sein; fehlt ihm diese Art Phantasie ganz, so wird er gar nicht an Rache denken, denn das Gefühl der "Ehre" ist dann bei ihm nicht vorhanden, also auch nicht zu verletzen. Ebenso wird er nicht an Rache denken, wenn er den Täter und die Zuschauer der Tat verachtet: weil sie ihm keine Ehre geben können, als Verachtete, und demnach auch keine Ehre nehmen können. Endlich wird er auf Rache in dem nicht ungewöhnlichen Falle verzichten, daß er den Täter liebt: freilich büßt er so in dessen Augen an Ehre ein und wird vielleicht der Gegenliebe dadurch weniger würdig. Aber auch auf alle Gegenliebe Verzicht leisten ist ein Opfer, welches die Liebe zu bringen bereit ist, wenn sie dem geliebten Wesen nur nicht wehetun muß: dies hieße sich selber mehr wehetun, als jenes Opfer wehetut. – Also: jedermann wird sich rächen, er sei denn ehrlos oder voll Verachtung oder voll Liebe gegen den Schädiger und Beleidiger. Auch wenn er sich an die Gerichte wendet, so will er die Rache als private Person: nebenbei aber noch, als weiterdenkender, vorsorglicher Mensch der Gesellschaft, die Rache der Gesellschaft an einem, der sie nicht ehrt. So wird durch die gerichtliche Strafe sowohl die Privatehre als auch die Gesellschaftsehre wiederhergestellt: das heißt – Strafe ist Rache. – Es gibt in ihr unzweifelhaft auch noch jenes andere zuerst beschriebene Element der Rache, insofern durch sie die Gesellschaft ihrer Selbst-Erhaltung dient und der Notwehr halber einen Gegenschlag führt. Die Strafe will das weitere Schädigen verhüten, sie will abschrecken. Auf diese Weise sind wirklich in der Strafe beide so verschiedene Elemente der Rache verknüpft, und dies mag vielleicht am meisten dahin wirken, jene erwähnte Begriffsverwirrung zu unterhalten, vermöge deren der einzelne, der sich rächt, gewöhnlich nicht weiß, was er eigentlich will.
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