Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente 1875-1879, Band 2
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Herbst 1878]

[Dokument: Notizbücher]

32 [1]

Ihr gleicht dem Grundton – – –

32 [2]

Es macht auch unter den großen Menschen einen Unterschied, ob sie beim Aufwärtssteigen nach einem hohen Ziel immer höhere oder immer niedere Ansprüche an ihre Kräfte stellen. Aber es ist für den Fernstehenden schwer zu erkennen, weil ihm das von jenen Erreichte unter allen Umständen unerreichbar ist: trotzdem kann ein Höchster immer noch sein Ideal verleugnen.

32 [3]

Den Stilen in der Kunst entsprechen Seelen: Barockseele zu zeichnen. Die hohe Seele, die feinere Seele, die vornehme Seele.

32 [4]

Die feineren Obscuranten – Lipiner.

32 [5]

Wenn ein Künstler die Menschen erschüttern erheben umwandeln will, so kann er sich doch dazu als Künstler unehrlicher Mittel bedienen: sein heiliger Zweck heiligt in diesem Fall durchaus nicht. Denn sein Zweck gehört vor das moralische, seine Mittel vor das aesthetische Gericht.

32 [6]

Um uns herum eine Art Mythenbildung. Ursache: wir sind nicht ganz ehrlich, die schönen Worte gehen mit uns durch.

32 [7]

Ein Mann, den ein Enthusiast schildert und der ihm sagt „wie gut Sie mich kennen!", erregt meinen tiefsten Widerwillen.

32 [8]

Der größte Theil unseres Wesens ist uns unbekannt. Trotzdem lieben wir uns, reden als von etwas ganz Bekanntem, auf Grund von ein wenig Gedächtniß. Wir haben ein Phantom vom „Ich" im Kopfe, das uns vielfach bestimmt. Es soll Consequenz der Entwicklung bekommen. Das ist die Privat-Cultur-That – wir wollen Einheit erzeugen (aber meinen, sie sei nur zu entdecken!).

32 [9]

Ein Roman.

Ein Band Gedichte.

Eine Historie.

Eine Philologie.

32 [10]

Die Menschen können den Ton des Versprechens und den Ton der Erfüllung nicht zusammen hören: denn sie haben sich aus dem Versprechen etwas heraus gehört, was nicht darin war. – So ich: ich versprach Wahrheits-Härte – freilich mit manchem phantastischen Ausdrucke: und nun habe ich diesen unschuldigen Kindern ihren Milchtopf umgestoßen.

32 [11]

Das Feierliche ist mir zuwider geworden: was sind wir!

32 [12]

Freunde als abgetragene Kleider.

32 [13]

Emerson p. 201 die „Überseele" ist das eigentlich höchste Cultur-Resultat, ein Phantasma an dem alle Guten und Großen gearbeitet haben.

32 [14]

„Muß man nicht entmenscht sein?" Wer hat die Ironie verstanden?

32 [15]

Emerson meint, „der Werth des Lebens läge in den unergründlichen Fähigkeiten desselben: in der Thatsache, daß ich niemals weiß, wenn ich mich zu einem neuen Individuum wende, was mir widerfahren mag." Das ist die Stimmung des Wanderers. p. 311 bei Emerson wichtig, die Angst vor der sogenannten Wissenschaft – der Schöpfer geht durch eine Thür hinein bei jedem Individuum.

32 [16]

Hast du eine große Freude an etwas gehabt? so nimm Abschied, nie kommt es zum zweiten Male.

32 [17]

Wohlgefühl nach vollbrachtem Tagewerk – das fehlt den Pessimisten und Kunst-Schwärmern.

32 [18]

„In der Natur ist alles zum Nutzen, alles schön." Aber zu allerletzt, von Oben gesehen, beim Menschen auch. Schönheit ist da, nur das Auge fehlt, sie zu sehen. Wenigstens jene Natur-Schönheit, welche zugleich Nützlichkeit ist.

32 [19]

Pinien welche horchen und den Eindruck der südlichen Stille und Mittags ruhe noch vertiefen.

32 [20]

Das Abweisen eines Buches sagt häufig, dass wir hier nichts erleben können, weil uns die Vorbereitung und die Sinne fehlen. Auch bei Menschen. Alles Negiren zeigt unseren Mangel an Fruchtbarkeit und an Organen auf diesem Gebiete: wären wir wie der Boden, wir liessen nichts umkommen.

Wir haben Fühlhörner zu vielen Menschen in uns – aber nicht zu allen.

32 [21]

Geschichte will das Befremden überwinden, der Mensch sträubt sich gegen die Vergangenheit, alles soll „Ich" „Biographie" und" „Alt-Bekannt" sein.

32 [22]

„Veredelung des Luxus, nicht Abschaffung" erstreben die Künstler – klagen die Idealisten. Aber das was man Abschaffung nennt (Verflüchtigung Sublimirung ist es) geschieht doch auf jenem Wege. Das Überflüssige ist die Voraussetzung alles Schönen.

32 [23]

„Man muß zu Fuß zu Markt tragen, was man mit Mühe erarbeitet hat" E<merson>.

32 [24]

Die ungefähr einartige Entwicklung der Vernunft und des Gefühls ist das Ziel der Cultur (als Grundlage des Verstehens, des gemeinsamen Helfens und Förderns). Darin liegt die Bedeutung solcher organisirenden Weltmächte wie Romanum imperium, Christenthum, vor allem Wissenschaft. Im Allgemeinen und Kleinen herrscht das Missverstehen vor: daher der excentrische Egoismus, nicht aus Schlechtigkeit. – Eine grosse Einbusse ist mit dieser nivellirenden Cultur verknüpft. „Geschichte" ist die Erzählung von den Mitteln, den Leitungs- <und> Verkehrswegen zur Einartigwerdung.

32 [25]

Dichter und phantastische Weise träumen daß die Natur (Thiere und Pflanzen) ohne Wissenschaft und Methode einfach aus Liebe und Intuition verstanden werde. Ganz so stehen noch die Metaphysiker zum Menschen.

32 [26]

Was wollen wir mit Wohlstand Gesundheit? – Freude und Behagen. Nun, die Quellen dazu liegen im Geiste und Gemüthe. <Mit> Wohlstand und Gesundheit suchen wir eine Art von Schlamm zu beseitigen, welcher sich dem Ausfließen entgegenstellt. – Kampf der Mittel zur Freude – wenn Kunst und Wahrheitssinn streiten. Aber dieser Kampf kann selbst zu einer Quelle der Freude werden. Zuletzt ist die Entwicklung des Menschen die Freude aller Freuden.


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