Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente 1875-1879, Band 2
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Sommer bis Ende September 1875]

[Dokument: Heft]

12 [1]

Einfluß der Oresteia. Vordramatischer Theil.

Die Linie der Geschlossenheit höchster Art in der Form bis zu einem Spiele wie mit zarten Wolken, bei keinem Componisten.

Die Unruhe des Menschen in Ämtern, deren Unvereinbarkeit er durchschaute.

Das Publikum hat Wagner doch anders beurtheilt als ich meinte.

12 [2]

Wagner hat ein großes Reich Innen-Natur aufgeschlossen auch historisch und über die ganze Entstehung der Kunst einsichtig gemacht.

In einer entnüchterten Welt weist er auf die Kräfte hin, woraus alles Gute und Große selbst für diese entnüchterte Welt gewachsen ist.

Er läßt einen neuen Strom solcher Urkräfte über uns hinströmen und zeigt die Unversiegtheit der inneren Quelle der Mensch<en->Natur.

12 [3]

Es giebt vielleicht ein paar ganz unaufmerksame Leute, die jetzt noch gar nichts von Bayreuth und den Dingen, welche sich jetzt an diesen Namen knüpfen, wissen: und dann zahllose, die viel Falsches davon wissen und erzählen. Aber auch das Wahre und Herrliche, was davon zu berichten bliebe, wie matt lebt es in den Empfindungen und Worten derer, die ehrlich genug sind, es anzuerkennen: und wiederum, wie unaussprechbar muß es ebendenselben erscheinen, welche ganz von dem Feuer jenes Geistes durchglüht sind, der hier zum ersten Mal zu der Menschheit reden will. Zwischen den Schwachempfindenden und den Sprachlosen stehe ich selber in der Mitte: dies zu bekennen ist weder vermessen noch allzubescheiden, sondern nur schmerzlich: weshalb gerade das, braucht Niemand zu wissen. Wohl aber entnehme ich aus meiner Mittenstellung ein Gefühl von Pflicht, zu reden und Einiges deutlicher zu sagen, als es bis jetzt in Bezug auf diese Ereignisse geschehen ist. Ich verzichte aus Noth darauf, die sehr verschiedenen Erwägungen, zu denen ich mich gedrängt fühle, in Form und Zusammenhang zu bringen; man könnte wohl den Eindruck eines Ganzen und Geschlossenen mit einiger Kunst der Täuschung hervorbringen: ich will ehrlich bleiben und sagen, daß ich es jetzt nicht besser machen kann, als ich es hier mache, ob ich es freilich schlecht genug mache.

12 [4]

Zukunft von den Bayreuther Sommern: Vereinigung aller wirklich lebendigen Menschen: Künstler bringen ihre Kunst heran, Schriftsteller ihre Werke zum Vortrage, Reformatoren ihre neuen Ideen. Ein allgemeines Bad der Seelen soll es sein: dort erwacht der neue Genius, dort entfaltet sich ein Reich der Güte.

12 [5]

Wagners Musik macht den Eindruck erhabener Arbeit, im Vergleich zu der flacheren Manier der älteren.

Das „ Unbeugsam-Unbändige".

12 [6]

Wagner's Nachwirkung – alle Gefahren, denen er als Künstler entgieng, wird man völlig erst erkennen, wenn es Nachahmer geben sollte – hier ist nun aufzuzählen.

12 [7]

Erst glauben wir einem Philosophen. Dann sagen wir: "mag er in der Art, wie er seine Sätze beweist, Unrecht haben, die Sätze sind wahr". Endlich aber: es ist gleichgültig, wie die Sätze lauten, die Natur des Mannes steht uns für hundert Systeme ein. Als Lehrender mag er hundertmal Unrecht haben: aber sein Wesen selber ist im Recht; daran wollen wir uns halten. Es ist an einem Philosophen etwas, was nie an einer Philosophie sein kann: nämlich die Ursache zu vielen Philosophien, der große Mensch.

12 [8]

Wie durch Wagner die aesthetischen Gegensätze „subjektiv", „objektiv", romantisch, klassisch, naiv, sentimentalisch ganz aufgehoben sind; sie passen nicht.

12 [9]

– – – schreiben: zu Goethe's Zeit regierte ganz Andres.

Degeneration: jetzige Dichter und Litteraten, junges Deutschland, Romantik, Goethe.

Progeneration: Luther Goethe Schiller Schopenhauer Beethoven Wagner.

Fortpflanzung des deutschen Wesens hoch über allem (Nach-Luther).

Was die Kunst in unsrer Zeit ist. Meistens etwas Entwürdigtes oder Einsiedlerisch-Selbstisches.

Was ist Bayreuth?

Nichts Harmloses.

Stellung der Kunst zur αναγκη.

Vielleicht übertreibt unsere Empfindung etwas: wir sind genöthigt, zuviel Nöthe durch Eins wieder gut zu machen, durch Bayreuth.

Die Kunst ist jetzt im Geblüte einiger Menschen so mächtig geworden, um nun auch ihr Verhältniß zur übrigen Welt zu bestimmen.

Das ist eine Revolution, was jetzt in Bayreuth vor sich geht, die Constitution einer neuen Macht, die fern davon ist, sich nur aesthetisch zu fühlen.

Für den tieferen Blick ist es nichts Revolutionäres: sondern der Fortgang des deutschen Geistes in seinen Genien: in besonders schrecklicher ja verwirrender Beleuchtung durch das politische Prunken mit dem Nationalen (während das, was von den Nationalen verehrt wird, gerade uns beinahe als das Feindselige, mindesten als das Gefährlichste gilt).

Das aesthetische Phänomen fragt an: sucht voraus: giebt es noch verwandte Kräfte?

12 [10]

Es dauert lange, ehe das Drama ja die Expos<ition> beginnt.

Kindheit – etwas Altes Altkluges – die Jugend des Menschen, seine Naivetät viel später bei Modernen.

Leipzig – geistiges Anschmecken, Ungründlichkeit der Empfindung, geschmeidiges Wesen, schlechte herrschende Neigungen der Litteratur.

Er schien zu dilettantisiren, zu lüsteln und genüßeln ohne Genuß.

Über Mangel an Erfahrungen soll sich keiner beklagen, sondern höchstens über den Überfluß.

Im Tannhäuser kann die bessere Natur für die andere eigentlich nur leiden und bitten, sie sind getrennt.

Im Lohengrin Sehnsucht aus Macht zur Liebe, zur fraglosen Treue.

Im Holländer das düstere Schweifen, das zum Fluch wird: das Leid des Heimwehs.

Begehren nach Macht, Taumel der Sinne – Zurückschrecken vor der ekelhaften Sittlichkeit und Verlogenheit.

Er landete an der Theaterwelt, der leichtfertigen, besonders nichtigen.

Unruhig, große Dürftigkeit – immer mit einem äußersten Mittel bereit.

Er wuchs aus keiner Kunstschule heraus, ohne Lehrer.

12 [11]

Treue preisgeben zu Gunsten von Lebensstellungen Macht Einfluß (deutscher Meister).

12 [12]

das Gefährliche – Neigung zur Verstellung und List dramatisch – Treue – Kunstwerk der Zukunft Treue Lernen Treue – Abziehungen durch das Leben – Widerstand gegen Berufe (nur so weit um sich als Meister zu fühlen) Treue – Begabungen wollen einzeln. Bayreuth – Ziel.

12 [13]

Für wen schaffe ich? er durchschaut seine Zuhörer mit dern Blick <des> Dramatikers. Da sieht er eifersüchtig auf Andre. Das Bild der Zuhörer, Mißtrauen gegen sie, Verzweiflung (Frage ob noch Musiker – – –)

Erfolg – Stufe festhalten.

Freunde Symphonisches.

Wie kann einem Schaffenden wahre Liebe einwohnen?

12 [14]

Gemeinsame Noth.

Sagenstoffe.

Er wuchs in die einfache Erhabenheit des Mythus hinein.

Das lechzende Verlangen der Volksseele.

Er spricht zuerst dem Sinn der Volkssage nach.

Er untersucht die moderne Civilisation.

Endlich findet er den vorwärtsschauenden Blick, er schafft den Mythus um.

Er will selbst mit helfen, die politische Veränderung herbeizuführen: großer Irrthum, er wähnt den Augenblick zur Herstellung des Volkes vor der Thür! Revolutionär zu Gunsten der Theater!

Wirkung durch Schriften, nachhelfend! Die Wirkung wird immer noch als sofortige erstrebt. Auch als Künstler nimmt er darauf noch Rücksicht (Tannhäuser)!!

Er propagirte seinen Glauben als Künstler (auch als Schriftsteller), was am stärksten auf ihn wirkte und ihn bewegte, das faßte er zu Kunstwerken zusammen. Tannhäuser Lohengrin. Es war eine Frage: giebt es noch andre Wagner?

Er schloß von der tiefsten Wirkung, die er empfand, auf die, welche er machen werde. Kunstwerke wurden zu Fragen fühlt ihr so, wie ich fühle, so werdet ihr auch gleich bedürfen. Dabei entdeckte er das Mißverhältniß – furchtbare Vereinsamung. Er hatte keinen Wunsch mehr für den Bestand der politischen Welt.

Er nahm die Musik aus.

Dann, wenn eine Vielheit so leidet, wie er leidet – das wäre Volk. Dann würde sie auch gleich bedürfen. Denn auch sein Streben nach Macht war naturwüchsig, volksmäßig. Er sah sein Kunstwerk näher vor sich und glaubte auch das Volk nahe. Er fand auf sich die tiefste Wirkung vom Volksglauben und vom dramatischen Gesange. Dies paarte er. Was auf ihn wirkte, werde einmal auf das Volk wirken: es werden die sein, welche eine gemeinsame Noth verbindet. Er multiplizirte sich zum Volk.

Dritte Periode: die Zeit erscheint ihm nichtig, er hat sich ganz auf sich zurückgezogen, die Wirkung liegt ihm fern, er legt Partitur neben Partitur hin, entsagt der Macht: die Zukunft wird ganz fern. Treue. Schopenhauer. Er wird einsam.

Es melden sich die Freunde, die Vorboten veränderter Zeiten und Sinne, Herberge gebend – er entdeckt die unvergleichliche Wirkung schon gethan zu haben.

Gefahr von Seiten der Freunde auf der früheren Stufe.

Er sieht in dem Kriege einen Kampf gegen die „Civilisation" und das Vertrauen auf die deutsche Tapferkeit.

Er begreift: seine Kunst ist das Kunstwerk der Zukunft und eine Vorläuferin, eine Anregung zur neuen Gesellschaft. Er versteht seine Stellung zum Kommenden anders, als auf der früheren Stufe.

Treue.

12 [15]

Wenn eine Vielheit dieselbe Noth erlitte, wie er sie leidet – das wäre Volk, sagt er sich. Dann würden ihre gleichen Bedürfnisse auch gleich befriedigt. Sieht er nun zu, was ihn selbst in seiner Noth am tiefsten tröstet und beseeligt, so findet er den Mythus und die Musik: hier empfängt er die tiefste Befriedigung, also muß er hier auch am tiefsten bedürfen, und Noth sein. Die Musik ist nun eine Ausnahmekunst, nicht dem Luxus dienstbar, sondern entstanden wie ein Trost der Niedrigen und Schlichten, er findet eine herrliche Zusammengehörigkeit beider und fühlt seine Kraft zum Drama als verbindende Kraft zwischen diesen Sphären. Sein Kunstwerk, das auf ihn jetzt so unvergleichlich wirkt, stellt er als eine Frage auf: wo sind die, auf welche es gleich wirkt? Diese werden auch gleich leiden und bedürfen, wie ich. Eine Vielheit von uns ist das Volk, das wir ersehnen. Nun erlebt er eine schreckliche Enttäuschung, obwohl er durch Schriften nachhilft; alles ist befremdet, man mißt nach alten Maßstäben, man kritisirt nach alter Weise herum, man fühlt nicht die neue Frage. Er verzweifelt, denn das Volk ist nicht da, seine Noth wird nicht empfunden, sein Kunstwerk ist eine Mittheilung an Taube und Blinde, die Aussicht auf Wirkung und Macht ist hoffnungslos. Er taumelt und geräth ins Schwanken. Die Möglichkeit eines Umsturzes der Dinge steht als Hoffnung vor ihm, vielleicht daß hinterher wieder zu pflanzen ist. – In Kürze ist er politischer Flüchtling und im Elend. Es ist die zweite große Krisis.

Vereinsamt, die Zeit erscheint ihm nichtig, er hat sich ganz auf sich zurückgezogen, keine Hoffnung mehr. Er streift jetzt jede Rücksicht auf Wirkung ab, alles Verführerische und Anfragende, das Verständniß Erleichternde, und spricht nur mit sich. Sein Weltblick wendet sich in die Tiefe, er sieht das Leiden im Fundament und reinigt sich von allem Optimismus. Sehnsucht aus dem Tag in die Nacht, Tristan. Er findet die deutsche lutherische Heiterkeit wieder, die andere Völker nicht begreifen, durchgegohrne Meisterschaft der M<eister>singer. Es kommen Freunde heran; viele beinahe gefährlich, sie wollen ihn dogmatisiren usw. Er geht hindurch unberührt, es handelt sich nicht mehr um Aesthetik und Musik für ihn. Ein ungeheures Werk, der Gesammtausdruck seiner Einsicht und Aussicht, mit einem wunderbaren metaphysischen Schwanken am Schluß. Macht resignirt aus Liebe. Er will dieses Werk zeigen, das Kunstwerk der Zukunft: während das jetzt nicht die Zukunft ist, auf die er rechnet. Der Krieg, symbolisch verstanden, giebt Muth.

12 [16]

Das Streben und Wollen der Macht ist jetzt unpersönlich geworden, ist rein in's Schaffen übergetreten. Seine Kunst der höchsten Vollkommenheit und Ausdrucksfähigkeit: er denkt nicht mehr an eine zu erlebende Wirkung. Er will das Werk hinterlassen, legt Partitur neben Partitur.

Über Nacht kam es plötzlich anders. Der deutsche Krieg wurde von ihm eigen nachempfunden, wie sonst nicht in Deutschland. Er bekam Glauben an eins, während er gar keinen mehr in Betreff von Deutschen hatte, die deutsche Tapferkeit mit Besonnenheit und Dauer verbunden, er sah etwas seinem Schaffen Verwandtes und war hoch beglückt. Vielleicht finde ich jetzt – nicht das Volk, sondern nur so viel Freunde und Mitleidende, denen ich das Werk zeigen kann, wie es gemeint ist. Es war ihm um Begründung des Stils, der Tradition zu thun, für eine sehr ferne Zukunft. – Wenn wir „das Kunstwerk der Zukunft" jetzt sehen, so sollen wir doch immer sagen, es ist nicht diese Zeit, welche Wagner mit jener "Zukunft" gemeint hat! Was Wagner sein wird, das ist noch etwas ganz andres als er jetzt sein kann.

12 [17]

Und nun trat in immer neuem Glanz der herrschende Gedanke seines Lebens vor ihn hin, fast verwandelt, aber beinahe noch mächtiger, reizvoller. Wirkung, unvergleichliche Wirkung! – womit! auf wen! Nicht mehr auf das Publikum der Theater, wie es ist, nicht mehr auf den modernen Menschen überhaupt, wie er zur Kunst sich eben verhält. Auch nicht mehr mit den Mächten der bisherigen Erfolge. In diesem Zeitpunkt des entscheidenden "Nicht mehr" begriff er das Wesen des Volkes und seinen Gegensatz, die Gesellschaft des Luxus.

12 [18]

In doppelter Weise erscheint die Vergangenheit verkürzt, einmal weil sie nur von Einem Sehwinkel, allerdings einem wichtigen und nothwendigen aus gesehn wird und sodann weil in der einmal so geschauten Welt vieles ausgeschieden wird, nach einem Maßstabe. Aber nicht nur die Vergangenheit wird so gleichsam durch Verkürzung überschaulicher gemacht: das ganze Leben, auch das der Gegenwart und Zukunft, erscheint in einem verkleinerten Maßstabe und kann so leichter beurtheilt werden. Der Grad, in dem die Menschen mit der Kunst umgehen, die Tiefe oder Oberflächlichkeit der Beziehungen, die Wahrheit oder Eitelkeit in diesem Verkehr, wird zum Urtheil über die Zeiten und Völker benutzt: ihr Bedürfniß nach Kunst als Zeichen ihrer Sittlichkeit und Weisheit. Man kann von einem Menschen ziemlich viel wissen, wenn man genau weiß, ob er überhaupt Kunst nöthig hat, ob bildende oder tönende, welchen Meistern er sich zuneigt usw. Nimmt der Künstler selber diese Abschätzung vor, so kann man ihm nicht verargen, wenn er hier einen Werthmesser überhaupt zu haben glaubt: in seiner Betrachtung des Lebens ist die Kunst das Sonnensystem. Menschen ohne Kunst sind für ihn undenkbar, wie Menschen ohne Raum und Zeitvorstellungen es sind. Er findet nichts, worin nicht Kunst sich ausspräche: in der Art, wie ein Mench denkt, träumt, geht, ißt, sich unterredet, schreibt, liest, kämpft, verehrt, erzieht, den Tag und das Leben eintheilt, wie er den Staat aufbaut, die Stände auseinanderhält: überall ist hier eine äußerliche Erscheinung und eine Gesinnung, aus der gehandelt wird, zu unterscheiden. In dieser äußerlichen Erscheinung, sowohl wie in dieser Gesinnung, ist etwas, was Kunst ist: ein gewisser schöpferischer Drang nach dem – – –

12 [19]

6. Wagner's Zweifel. – Ist die Welt alt, verarmt geworden?

Durch Beethoven Widerlegung seines Zweifels: Unschuld.

Pastorale – ewige Menschheit.

Musik reicht nicht aus. Strauß.

Gegen den absoluten Musiker, den einsiedlerischen Verächter der Scheinwelt. Drama keine Kunstart, kein Kunstzweig.

Beseelung der inneren Phantasie. Erregung der symbolischen Bewegungsmotive.

7. Veränderliches. Unveränderliches.

Das Drama als Prophezeiung eines reineren Lebens (im Gegensatz zu dem rückblickenden antiken Drama).

Versuch, Wagner auch als rückblickend zu verstehen: restaurative Richtungen. Das Volk. Genius.

8. Der zeugende Punkt in der Oper.

Schillers Ahnung.

Die drei Schwierigkeiten – Wortmelodie usw.

Überall Herausbildung aus dem Entarteten zum Kern.

Vorbildlich, es ist ein Zurückgehen scheinbar, noch mehr ein Abwerfen des Falschen Unechten Späten.

9. Reinigen vor und neben dem Schaffen.

Schriftsteller.

10. Der Dichter. Mythus. Sprache. Goethe.

11. Der Musiker.

12. Die Nibelungen: der Weltverkürzer: sein Leben und Wesen in ungeheurem Reflexe.

12 [20]

Ich sagte, es wäre möglich daß die erlöste Kunst zu den Menschen spräche und nicht gehört werde. David Strauß hat die Pastorale gehört und nichts gehört.

12 [21]

Was Thukydides über den Staat denkt.

Thukydides, Buch III cap. 84 ist echt. Es soll unklar sein, und in Stil und Gedanken den νεωτεοισμος zeigen, etwas Revolutionäres. Ich meine, man ist vor den Gedanken dieses Capitels erschrocken; zum Theil hat man sie auch wohl nicht verstanden. Und so läßt man sich eines der wenigen Zeugnisse entgehen, wo Thukydides von seiner innersten Gesinnung redet, wo er sagt, was an der Menschennatur ist!

Der Mensch ist neidisch, ein Feind des Hervorragenden, sein Neid will schaden; so erträgt er eine Lage nicht, in der der Neid eine nicht schadende Kraft hat, den gesetzlichen Zustand.

Sie wollen lieber Rache als Recht, lieber egoistischen Gewinn an Stelle einer Lage, wo man ihnen keinen Schaden thut (kein Unrecht zufügt); sie ziehen vor το χεοδαινειν μη αδικειν (heißt: dem, daß man sie nicht schädigt, ihnen Unrecht thut) – und doch waren sie in einer Lage, wo der Neid keinen schadenden Charakter hatte.

Sie waren vor einander und vor den Ausbrüchen ihrer Bösartigkeit im Neid geschützt: und nun begaben sie sich in einen schutzlosen Zustand hinein – warum? um Rache an anderen zu nehmen. Sie können eben ihre Affekte nicht beherrschen.

Hier hat Thukydides seine Theorie vom Staate gegeben: und auch gesagt, was geschehen muß, sobald der Staat aufhört – gegenseitige Zerfleischung und Auslassung aller Affekte. Da tritt die menschliche Natur rein hervor, durch den Staat ist sie im Zaum gehalten. Übrigens erscheint hier die πολις nicht als Produkt der Menschen, nicht als kluge Schutzanstalt der Egoismen gegen einander. Thukydides meint, die Menschen seien eben nicht klug genug dazu, sondern von Affekten beherrscht, momentan. Der Staat ist ihm wohl eine göttliche Institution. Die höchste Verehrung der νομοι blickt durch. Menschen könnten nach ihrer φυσις nicht stiften!

Im Staate herrscht Recht, nicht Rache, wird jeder geschützt vor Unrecht von dern anderen, und die Mißgunst hat keinen schädigenden Charakter. Trotzdem werfen sie ihn um, sie vergessen ihren eigenen Vortheil: so blind sind sie in ihrer Leidenschaft!

Für δια παδους επιθυμουντες lese ich δια παντος επιθονουντες – (δια παντος kommt sonst dreimal bei Thukydides vor, v. Register).

Der Adel der Gesinnung besteht zu einem sehr großen Theil aus Gutmüthigkeit (ευηθες): Mangel an Mißtrauen, Harmlosigkeit.

12 [22]

Zum Darwinismus.

Je mehr ein Mensch Gemeinsinn hatte, sympathische Affektionen, um so mehr hielt er zu seinem Stamme; und der Stamm erhielt sich am besten, wo die hingebendsten Einzelnen waren. Hier erstarkte die gute tüchtige Sitte, hier wurde die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit gegeben und anerzogen. – Doch ist hier die Gefahr der Stabilität, die Verdummung, groß.

Ungebundene, viel unsicherere und schwächere Individuen, die neues versuchen und vielerlei versuchen, sind es, an denen der Fortschritt hängt: unzählige dieser Art gehen zu Grunde ohne Wirkung, aber im Allgemeinen lockern sie auf und bringen so von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eine Schwächung bei, führen an irgend einer schwachgewordenen Stelle etwas Neues ein. Dies Neue wird von dem im Ganzen intakten Gesamtwesen allmählich assimilirt.

Die degenerirenden Naturen, die leichten Entartungen sind von höchster Bedeutung. Überall wo ein Fortschritt erfolgen soll, muß eine Schwächung vorhergehen.

Die stärksten Naturen haben den Typus fest und halten daran. –

Entartung ist immer Verstümmelung: aber selten ist eine Einbuße ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der kränkere Mensch z. B. wird ruhiger und weiser; der einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen.

Nicht Kampf um's Dasein ist das wichtige Princip! Mehrung der stabilen Kraft durch Gemeingefühl im Einzelnen, Möglichkeit zu höheren Zielen zu gelangen, durch entartetende Naturen und partielle Schwächungen der stabilen Kraft. Die schwächere Natur, als die edlere wenigstens freiere, macht alles Fortschreiten möglich.

Ein Volk, das irgendwo schwach wird und anbröckelt, aber im Ganzen noch stark ist: das vermag die Infektion des Neuen aufzunehmen und zu assimiliren.

Ebenso der einzelne Mensch: das Problem der Erziehung ist, jemanden so fest und markig hinzustellen, daß er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn gebracht werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen: und wenn so der Schmerz, das Bedürfniß entstanden ist, kann auch dort etwas Neues und Edles inokulirt werden. Die Gesammtkraft wird es jetzt in sich hinein nehmen und so veredelt werden.

Die Deutschen wurden nicht nur verwundet, sondern fast zum Verbluten gebracht, man nahm <ihnen> Sitte Religion Sprache Freiheit. Sie sind nicht zu Grunde gegangen: aber daß sie eine tief leidende Nation sind, haben sie bewiesen, dadurch daß sie die Musik erfanden; sie haben den Segen der Krankheit erfahren. –

Dieser Lehre gegenüber ist der Darwinismus eine Philosophie für Fleischerburschen. Und die Stellung, die sie der Züchtung, die sie dem Weibe geben! Ist es denn wahr, daß die Weiber gerade nur für die stärksten Fleischerburschen Sinn und Neigung haben! Nicht einmal unter den Thieren ist es so.

Übrigens will ich mit meiner Betrachtung bei den Menschen verbleiben und mich hüten, aus den Gesetzen über die menschliche Veredlung auf Grund der schwächeren, entarteten Naturen, Schlüsse über die thierische Entwicklung zu machen. Ob es gleich noch viel mehr erlaubt wäre, dies zu thun als aus der Bestialität und ihren Gesetzen nun auch den Menschen bestialisch zu systematisiren: wie dies Herr Häckel in Jena thut, und seines Gleichen wie D. Strauß. –

12 [23]

Daß die idealeren Naturen nicht so gute Bürger sind –

12 [24]

Um zu erklären, was ich unter Wagner's zusammenziehender Kraft, unter dem Wort, er sei ein Vereinfacher der Welt, verstehe, schicke ich dies voraus. Er fand zwei neue Probleme, das der Musik und das des Drama's: er fand sie dort, wo alle großen Probleme liegen, auf der Gasse, vor Jedermanns Füßen und doch allen Augen verborgen. Was bedeutet es, daß der neuerer Zeit gerade eine solche Kunst wie die der Musik ersteht? Ist dies nicht ein Widerspruch für jeden, der das Bild dieser Zeit sich vor die Seele stellt? Muß er nicht sagen: aus dieser Zeit konnte die Musik nicht entstehn: was ist dann ihre Existenz? Ein Zufall? Aber erst könnte ein einzelner Meister zufällig sein, das Erscheinen einer solchen Reihe von Leuchten und Sonnen zeigt doch wahrlich, daß nicht an Kometen-Erscheinung zu denken ist. Wagner giebt nun eine Antwort: die Existenz der Musik hängt mit der Stärke der modernen Zeit zusammen, diese aber hat ungeheure Schwächen anderer Organe mit sich gebracht: und dieser erkrankte und erschöpfte Zustand ist es, dem in der Musik ein Heilmittel erwächst. Einmal hat sie ein Verhältniß zur Sprache, als eine universal vorwortliche Sprache zu der ganz ausgeraubten entkräfteten rhetorisch und poetisch vernützten Sprache: die allgemeine Erkrankung aller Sprechenden, die Unfähigkeit, sich noch wirklich mit einander zu verständigen: wenn schon die Poesie für jeden jetzt dichtet, so denkt jetzt die Sprache für jeden, er ist der Sklave derselben und niemand hat noch Individualität in diesem ungeheuren Zwang. Man muß, durch Musik gehoben, einmal sich so fern gestellt fühlen, daß man in allem, was gesprochen wird, geschrieben wird, das typisch Gleichartige wahrnimmt: dann kommt es einem so vor, als ob alle individuelle Bildung unmöglich sei, weil sie versucht, auf dem Wort sich zu gründen; und das reißt jetzt jeden in die alten Bahnen. Zweitens fühlte Wagner die Stellung der Musik zu der jetzt sichtbaren Erscheinungswelt des modernen Lebens: sie ist bildlos und deshalb antagonistisch allem Gebilde. Nun zeigt <sich> ebenfalls in allem, worin der Mensch jetzt an der Erscheinung herum bildet, eine unsägliche Erschöpfung: alles Dagewesene, alles schöner dagewesen, selbst das Häßliche ist erhabner dagewesen. Das Gehen Stehen und sich Bewegen, die Form der Geselligkeit, die Manieren der öffentlichen Sprecher, die Geberden der Jünglinge, die Künste der Frauen: alles, alles worin frühere Zeiten den Leib gebildet haben und zum Spiegel schöner oder großer Bewegungen gemacht haben, ist ganz verkommen oder späte Nachahmung: bestenfalls ist alles Renaissance und zwar Nachblüthe derselben (die französische Civilisation). Faßt man hier die Musik als den Antagonisten der Gymnastik, so ist in ihr jedenfalls ein Punkt gewonnen, von wo aus einem das moderne Leben widerlich barbarisch vorkommt. Denn der, welcher in dem rhythmischen Gange der großen Musik lebt, erkennt zuerst an sich und von da aus an allen andern, wie unfähig er für gewöhnlich ist, diesem reinen und erhöhten und doch machtvoll bewegten Innenleben der Musik etwas entgegenzustellen, was als Bild, als Erscheinung, dazu gehöre: während er gewöhnlich nur den peinlichen Eindruck bei diesem Suchen hat, daß er in ein Durcheinander von Verzerrungen und Übertreibungen hineinblicke. Nun ist der Eindruck der Musik selbst so stark, daß nicht nur der Rhythmus der Gymnastik vor ihm sich auszuweisen hat: alles, was ein rhythmisches Verhalten an sich hat, die ganze Lebensordnung von Individuen, die Politik von Völkern, das Verhalten der Handelsinteressen zu einander, der Kampf der Stände, das Widerspiel zwischen Volk und Nichtvolk – unwillkürlich wird es der mit Musik erfüllte Mensch an der Musik messen und verurtheilen: er begreift es, was es heißen will, einen Staat auf Musik zu gründen, was die Griechen nicht nur begriffen hatten, sondern auch forderten. Und zwar ist es auch nicht allein das Rhythmische; auch das Seelenvolle Ehrliche in der unpersönlichen Leidenschaft und doch das aus unerschöpflicher Tiefe aufquellende ruhige Feuer der Musik – dies alles wird ihm zum Richter seiner modernen Welt.

So verurtheilt Wagner diese Welt, weil sie dem Ideal, das er nicht als Bild aber als Seele der Musik in sich trägt, nicht entspricht. Er würde sie verneinen und aufheben müssen, wenn er nur Musiker wäre. Und in der That ist es sein tiefer Gegensatz gegen alle sonstigen Musiker unserer Zeit, daß sie von sich aus nicht diese Verneinung und Aufhebung wollen; er schließt daraus, daß sie jenes Feuer eben nicht im Leibe haben und in Folge dessen keine rechten Musiker sind. Entweder verneint euch als Musiker, hört auf welche zu sein oder hebt die Welt vermöge eurer inneren Kraft aus den Angeln – so ruft er ihnen zu.

Diese Verneinung kann nun verschiedenartig gedacht werden: revolutionär oder asketisch. Im ersten Falle wird der Musiker zuerst darauf sinnen, der Musik eine einflußreiche Stellung zu verschaffen, er wird ihre Verkümmerungen, ihre verächtliche Lage, ihren Mißbrauch zu leeren folgenlosen Unterhaltungen bekämpfen: indem er durch seine ernste Musik die Individuen weiht und zu Werkzeugen der umwälzenden Macht der Musik macht, wird er hoffen können, überall hin seinen Einfluß zu tragen: wer möchte z. B. zweifeln, daß eine Gesellschaft, die den wahren Geist Beethovenscher Musik in sich aufgenommen hat, unserer jetzigen Gesellschaft, in Staatsform Erziehung usw., sehr wenig ähnlich sehen würde! Zweitens kann jene Verneinung der gegenwärtigen Erscheinung leicht noch zu einer weiteren Stufe der Verneinung führen. Wer, wie Schopenhauer, in der Musik eine Welt hinter dieser Welt sieht, die noch nicht in die Form der Individuation eingegangen ist, und wer andererseits gerade den gebrechlichen tief hoffnungslosen Charakter des Lebens aus der trennenden Gewalt der Indiv<iduation> ableitet, muß in der Musik die wenngleich begriffs- und bildlose Conception einer besseren Welt machen, einer unschuldigen, liebevollen, heiter-tiefsinnigen.

Ganz auf diese Welt sich zurückziehend steht der Musiker dann, wie Wagner es an Beethoven geschildert hat, beinahe in der Sphäre der Heiligkeit: die unvergleich<liche> Reinheit Bewegtheit Gluth die kindliche Unmittelbarkeit, der völlige Mangel der Verstellung, die Abwesenheit der Convention das ist der Musik eigen, nicht den andern Künsten, die eben der Erscheinungswelt als Abbilder zu nahe stehen.

Hiermit könnte es nun erscheinen, daß ein Nebeneinander der Musik und der Erscheinungswelt eben ein Mißgebilde sein müsse, daß ihre Unverträglichkeit gerade fest stünde. Hier nun machte Wagner seinen zweiten Fund, er fand das Problem des Drama's wieder. Der Mensch, der die Seele der Musik in sich aufgenommen hat und von diesem Erfülltsein aus auf die allgemeine Natur und das Loos der Menschen zu allen Zeiten hinblickt, thut dies nicht mit Ekel, mit Haß: sondern so wie Beethoven die Natur in der Pastorale sieht, mit Liebe, mit einem alles verstehenden Mitleid. In größeren Bildern des menschlichen Wollens sieht er die Art seines eigenen Wollens, nur mit Wahn und trügerischen Zielen vor sich, so daß er das tragische Ergebniß dieses individuellen Wollens vorhersehen kann. Als Seele der Musik faßt er gerade die Liebe: und gerade das, was er am meisten in seiner Hoffnungslosigkeit des Strebens durchschaut, muß er am meisten lieben. Andererseits ist der große Musiker als Abbild des universalen Willens, in einer natürlichen Sympathie für das Individuum, das sich in der Ausdehnung seines Wollens dem universalen Willen nähert; das Feuer, das ihn durch's Leben führt, erkennt er als verwandt dem Feuer der in ihm waltenden Musik an: nur daß der Wille, der in der Musik erscheint, reiner unschuldiger und trugloser ist und bereits als unpersönlich gewordener Wille dem Eingang zur Selbstverneinung und dem Zustand der Heiligkeit sich nähert, von dem der ringende Held noch ferne ist: zwar vielleicht nicht so weit, denn gerade wegen der Heftigkeit seines Ringens kann er plötzlich einmal von der Einsicht in die Erfolglosigkeit überrascht werden.

12 [25]

Dichtung als Litteratur die französische Rhetorik des Stils eine Änderung durch die bildende Kunst zu erwarten ist albern der ganze moderne Mensch durch und durch von Musik noch leer, noch nicht von ihr geformt Mangel der Musik in der Erziehung, wie Tanz verzerrtes Gebilde sich zur Orchestik verhält, so der Schein zur griechischen Erscheinung: der französische Stil zum griechischen; Turnkunst jämmerliches Stückwerk.

12 [26]

Die gewohnte Leichtfertigkeit – oder ist es gar die thörichte Überhebung der modernen Menschen? – bringt es mit sich, daß den tief spürenden, der reichsten Erfahrung nachgehenden Einreden Platos gegen die Kunst jetzt kein Gehör mehr geschenkt wird; wer aber noch belehrbar ist, muß sehr bestimmt einsehen, daß das Walten einer mächtigen Kunst auch eine Menge Gefahren mit sich führt und daß gerade die größten Künstler eine Nachwirkung gehabt haben, welche den besorgteren Denkern fast bei jedem neuen Erscheinen solcher Mächte Furcht einflößen muß. Allzu leicht erscheint es so als ob die Kunst die Ziele des thätigen Lebens selber hinzustellen hätte, und mit gefährlichstem Mißverstande wird dann der Künstler als unmittelbarer Erzieher verstanden. Wird dagegen seine wundervolle Aufgabe mit Recht so begriffen, daß er für das kämpfende und zielesetzende Leben einzuweihen hat, so ist man ebenso im Recht, ihn sich auf das Schärfste vom Leben selber abgetrennt zu denken und seinen Nachwirkungen ein Strombett anzuweisen, welches nicht den Gang des Lebens durchkreuzt und bestimmt. Man würde Plato's Meinung treffen, wenn man mit einiger Härte darauf bestünde, daß es gleichgültig sei, was ein Künstler in socialer und politischer Hinsicht denke: daß es z. B. für die Athener ohne Gewicht sein mußte, ob Aeschylus sich für oder gegen die Beschränkung des Aeropag erklärte; ja ich glaube sogar, erst dadurch, daß man in dem Künstler gerade etwas Überzeitliches verehrt, wird man sich gegen das Gefährliche, was in seiner direkten Wirkung auf die Zeit liegt, einigermaßen schützen können. Ich will in diesem Zusammenhange darauf aufmerksam machen, daß es überaus nahe liegt und deshalb gefährlich ist, Wagner nicht als Künstler zu verstehen oder anders ausgedrückt: aus seinen Kunstwerken bestimmte Winke über die Gestaltung des Lebens entnehmen zu wollen. Es liegt dies so nahe, weil Wagner selber in verschiedenen Perioden den Versuch gemacht hat, bestimmtere Antworten auf die Frage nach dem Zusammenhang seiner Kunst mit dem Leben zu finden. Es giebt Aufsätze von ihm, die ganz von dem magischen Lichte eines seiner Kunstwerke überströmt sind – und jedes Kunstwerk hat ein ihm eigenthümlich gefärbtes Licht.

12 [27]

Liebe und Verachtung.

Schluß: worin vereinfacht er die Welt?

Nächstes Capitel: die historische Entwicklung der Musik.

Wagner als Reiniger der Kunst, ihrer Stellung zum Leben – selbst als Schriftsteller (zu schreiben, was ich leide).

12 [28]

Nach der Unterbrechung weiter. Der Vereinfacher der Welt, wie in der Philosophie.

Er sieht sie unter einem einzigen aber nothwendigen Sehwinkel: wie steht es mit der Kunst? Da verkürzt er die Geschichte sehr.

Er reinigt: er verscheucht die Vorstellung, daß die Welt organisch alt geworden sei.

Die Quelle der Natur noch eben so frisch, der Mensch noch unausgeschöpft.

Man muß nur Begriffswolken verscheuchen, falsche Beängstigungen, als ob der Mensch schon verarmt sei.

Der Haß gegen die weichlichen Kunstfreunde.

Das Wesen der Musik giebt ihm das Licht; sie steht im Gegensatz zu unsrer begrifflichen und litterarischen Welt (die Welt des Scheins unfruchtbar, Hillebrand mit seinen Hoffnungen lächerlich). Wagner bildet die innere Phantasie aus.

Schopenhauer faßt sie als etwas Metaphysisches, Wagner fragt: giebt es ein Leben, welches der Musik einmal entsprechen wird? (Griechen gründeten ihre Staaten auf Musik)

Daß es eine solche Welt geben muß, ersieht er als Dramatiker (das Drama ist keine Kunstart, kein Litteratur zweig).

Er sieht Phänomene vor sich gleichsam mit drei Dimensionen – hörbar schaubar begreifbar.

Wo hat er dies Phänomen zuerst gesehen? In der Oper.

Schillers Ahnung.

Der moderne Künstler hat immer erst zu reinigen, ehe er schaffen kann – meistens wird die Reinigung zuerst eine persönliche sein.

5. (b)

Wagner's Kampf im Kunstwerke.

6.

Wagner in der Oper. Das Publikum. Weg zu Beethoven.

Das anscheinend Reaktionäre-Romantische. Gegensatz zur Civilisation.

7.

Das anscheinend Desperative. Gegensatz zur Welt der Erscheinung.

So erscheint er fast als restaurativer Typus?

Logische Trägheit.

Fühlen Ahnen. Die Unbewußtheit, Instinktivität. – Aber alles dies ist nur als Schein zu nehmen: sein Charakter ist progressiv.

12 [29]

Wagner's Kampf im Kunstwerk.

Rienzi – Gegensatz zur "Ordnung", der Reformator. Holländer – das Mythische gegen das Historische.

Tannhäuser Lohengrin – das Katholische gegen das Protestantische (das Romantische gegen die Aufklärung).

Meistersinger – Gegensatz zur Civilisation, das Deutsche gegen das Französische.

Tristan – Gegensatz zur Erscheinung. Das Metaphysische gegen das Leben.

Nibelungen – freiwilliges Verzichten der bisherigen Weltmächte: Gegensätze von Weltperioden – mit Umwandlung der Richtung und der Ziele.

12 [30]

Goethe nennt all sein Wirken symbolisch.

So verstehe man auch den Lebensgang Wagner's symbolisch.

Er beginnt in einer verdorbenen Kunst und zwar den einzigen Punkt entdeckend, wo Kraft ist.

Von da aus reinigt er seine Vorstellung von dieser Kunst und sich selbst.

12 [31]

– – – Er geht nicht nur durch das Feuer, sondern auch durch den Dampf des Wissens und der Gelehrsamkeit hindurch – mit jener Treue gegen ein höheres Selbst oder, noch richtiger, durch die Treue eines höheren Selbst gegen ihn, welches ihn aus seinen schwersten Gefahren immer wieder herausführte. Dieses höhere Selbst verlangte von ihm nur Gesammtthaten seines polyphonen Wesens, und hieß ihn leiden und lernen, um jene Thaten thun zu können, es führte ihn zur Prüfung und Stärkung an immer schwereren Aufgaben vorbei. Die höheren Gefahren und Prüfungen aber nahten ihm nicht als dem persönlich Unbefriedigten und Leidenden, nicht als dem Lernenden, sie erwuchsen aus einer Verbindung von Leiden und Lernen, aus dem heftigen Triebe, dem eignen Leide, das er in immer höherer Verallgemeinerung empfand und zu dessen Verständniß er Historie und Philosophie hinzunehmen mußte, einen rettenden Gedanken entgegenzustellen: es sind die Gefahren der Absichten, durch welche der Künstler die Reinheit seines Werdens kreuzte; seine Kunst sollte diesen Absichten dienen, sie sollte mehr leisten und sofort leisten, als eine Kunst, noch dazu eine dunkel ans Licht ringende neue Kunst vermag; indem er sie der Reihe nach zum Heilmittel seiner selbst, des modernen Menschen und endlich des Lebens überhaupt bestimmte, verfiel er in die schwerste Krankheit, in welche ein Künstler verfallen kann, in die der bestimmten Absichten. Zuerst begehrte er von ihr alles das, was ihm sein persönliches Schicksal nicht bot: hier enttäuscht, verlangte er von ihr Befriedigung und Ersatz für jene ungeheuren Mängel, an denen die neuere Menschheit und jeder Einzelne in ihr leidet: auch hier enttäuscht und zur Hoffnungslosigkeit verurtheilt, ersah er in seiner Kunst die Religion, den Trost für das Dasein überhaupt. Und erst hier war das Absichtliche in seinem Wollen so in's Unbegrenzte gehoben, daß seine Kunst und alles Unabsichtliche seines Wesens sich völlig frei und ungehemmt ergehen konnte. –

12 [32]

4.

Darüber nachzudenken, was Wagner ist, an allen Lebens- und Machtäußerungen seiner vielspältig-einheitlichen Natur betrachtend vorüberzugehn: das wird die Heilung und Erholung sein, welche jedermann begehren muß, der darüber, wie Wagner wurde, gedacht und gelitten hat. Ein solches wahrhaft großes, wahrhaft frei gewordenes Können und Dürfen ist das herrlichste Schauspiel von der Welt; wo eine solche Begabung erscheint, wird die Erde, für den Betrachter wenigstens, zu einem sommerlichen Garten. Er kann, von dem Glück dieses Schauspiels aus, kaum anders als selbst in jenes leidvolle Werden eine verklärende und beinahe rechtfertigende Zweckmäßigkeit hineinzulegen: zu erwägen, wie der großen Natur alles zum Heil und Gewinn werden muß, so schwere Schulen sie auch durchgeführt wird: wie sie sich von Gift nährt und gesund und stark dabei wird, wie jede Gefährlichkeit sie beherzter, jeder Sieg sie besonnener gemacht hat. – – –

12 [33]

5.

Es giebt nichts Hoffnungsloseres, als von solchen complicirten und seltenen Zuständen der Seele zu Anderen zu sprechen, wenn diese nicht selber durch die Erinnerung an eigne ähnliche wenn auch vielfach schwächere Zustände und durch ein beschauliches Suchen in ihrem Innern dem Sprechenden auf halbem Wege entgegenkommen. Solche bereite Zuhörer aber vorausgesetzt, halte ich es allerdings für möglich, den ganz eigenen und einzigen Eindruck einer großen Begabung allmählich so deutlich für die Empfindung auszuprägen, daß wir von der entscheidenden Sicherheit dieses Eindrucks aus unwillkürlich auf jenen Zustand zurückschließen, in welchem der Künstler sich zum Schaffen gedrängt fühlt, d. h. den Eindruck der Welt auf sich als einen Anruf seiner eigensten Kraft empfindet. Auf ein Mitwissen um diesen Zustand kommt aber alles an, und jede Beschäftigung mit Kunst kann bei dem Nichtkünstler nur dies Ziel haben, zuletzt einen Eingang zu jenen sonst verborgenen Seelen-Mysterien zu entdecken, in denen das Kunstwerk geboren wird. Der Künstler ist nur gerade als Mittheilender über diese Mysterien Künstler; er will uns durch seine Art zu sprechen und sich mitzutheilen zu Mit-Eingeweihten machen, er will mit seinem Werke auf etwas hinweisen, was vor dem Werk, hinter dem Werk ist. „Die Natur ist nach Innen zu viel reicher, gewaltiger, seliger, furchtbarer, ihr kennt sie nicht, so wie ihr gewöhnlich lebt!" ruft uns der Künstler zu, „nun folgt mir einmal und laßt das trüberleuchtete Stück Natur und Leben, welches ihr allein als wirklich zu kennen scheint, hinter euch. Ich führe euch in ein Reich, das ebenfalls wirklich ist: ihr selber sollt sagen, wenn ihr aus meiner Höhle in euren Tag zurückkommt, welches Leben wirklicher ist!"

Wenn bis zu irgend einem Grade dies die Stimme jedes großen Künstlers an uns ist, so doch vor Allem die Stimme Wagner's. Das, wozu sie uns ladet, ist Rückkehr zur Natur; und in diesem Zusammenhang darf man am wenigsten fürchten, Mißverständnisse mit solch einem Worte zu erregen. Es handelt sich wahrhaftig nicht um eine bequeme Entschließung, sich einmal natürlich zu geben und in einer idyllischen Schlichtheit zu lustwandeln: so harmlos war jene Aufforderung nicht gemeint. Der Künstler weiß recht wohl, daß wir Alle, wenn er nicht den Weg uns zeigt, niemals den Eingang in die noch unbekannt gebliebene Urwelt der Natur finden werden. Denn übermächtig ist die Last, die auf uns liegt; ein Schleier aus kalten und künstlichen Begriffen und Lehrmeinungen gesponnen hält unser Auge; unser Gefühl regt sich kaum gegen die Gewohnheit der verwickeltsten und härtesten Gesetzbarkeiten oder regt sich in falschem Takte, wir haben auch die Sprache des Gefühls verlernt: so sind wir viel zu schwach und können gar nicht so weit aus eignen Kräften gehen, um die Natur zu finden. Aber auch die Hand unseres Ermahners und Befreiers ist übermächtig: er führt uns, ohne daß wir sehen, wohin: bis wir plötzlich fühlen und hören und mit allen Sinnen auf einmal wissen, wo wir stehen – in der freien Natur, und selber verwandelt zu natürlich Freien.

Die Bedeutung der Musik. Befreiung der Musik. Das Improvisatorische. Wagner unterjocht. Das Demosthenische. Wagner als Dichter, als Prosaiker. Das Adstringirende.


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