Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente 1875-1879, Band 2
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Frühling – Sommer 1878]

[Dokument: Notizbücher]

Memorabilia.

28 [1]

Herbst – Schmerz – Stoppel – Pechnelken Astern. Ganz ähnlich beim angeblichen Brand des Louvre – Cultur-Herbstgefühl. Nie ein tieferer Schmerz.

28 [2]

Perennirendes Misstrauen gegen sogenannte moralische Handlungen. Der Mensch handelt wie er sich am wohlsten fühlt.

15. Ausnahmsweise trotziges selbstverachtendes Höhenluftgefühl der Moralität.

28 [3]

14. Splügen. Symbol<isches> Hin und Her der Generationen. Mitte zwischen Nord und Süd, Sommer und Winter. Die Burg im Sonnenschein zu Mittag. Wald Abend Monument<alische> Historie geschrieben.

28 [4]

13. Ich habe keinen Menschen mit Überzeugungen kennen gelernt, der mir nicht, wegen dieser Überzeugungen, bald Ironie erregt hätte.

28 [5]

Im Jahr 1877 wusste ich von der Zukunft gar nichts zu verlangen. Selbst Gesundheit nicht – denn diese ist ein Mittel – was hätte ich mit diesem Mittel erreichen wollen?

28 [6]

Windlücke. Steine als Zeugen der Vorzeit.

Krumme Hufe Mondschein Schlittschuh. "Was ich des Tags verdient auf m<einer> Leyer, das geht des Ab<end>s w<ieder> in den Wind".

Glückliche Tage des Lebens!

28 [7]

Als Kind Gott im Glanze gesehn. – Erste philosophische Schrift über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes). Schwermüth<iger> Nachmittag – Gottesdienst in der Capelle zu Pforta, ferne Orgeltöne.

Als Verwandter von Pfarrern früher Einblick in geistige und seelische Beschränktheit Tüchtigkeit Hochmuth Decorum.

28 [8]

Sieben Jahre – Verlust der Kindheit empfunden. Aber mit 20 Jahren bei Bonn am Einfluss der Lippe (?) mich als Kind gefühlt.

28 [9]

Dämonion – warnende Stimme des Vaters.

28 [10]

Thurm bei Sorrent auf dem Berge Hausaffe

evviva evviva il cuor di Maria

evviva il Dio que tanto l'ama.

28 [11]

Apologie des Socrates mit innerer Bewegung gelesen und erklärt. Lust an den Memorabilien, die ich besser zu verstehen glaube als die Philologen.

28 [12]

Ich irre mich instinctiv über die Intellectualität der Menschen, über ihr objectives Interesse, das ich immer dem meinen gleich setze. Ich behandle sie darin sehr vornehm.

28 [13]

Die Haushälterin der Pfarrei Einsiedel. – Zeugniss über den frühen Ernst. Christus als Knabe unter den Schriftgelehrten.

28 [14]

Spaziergang nach Gohlis als Ritschl den Philologen in mir festgestellt hatte, frühe warme Sonne im Februar. Pfannkuchen.

28 [15]

Eine Haupteigenschaft: ein verfeinerter Heroismus (den ich übrigens auch bei Epikur anerkenne). In meinem Buche giebt es kein Wort gegen Todesfurcht. Ich habe wenig davon.

28 [16]

Mein Wesen enthüllt sich – ob es sich entwickelt?

Von Kindheit an überladen mit fremdem Character und fremdem Wissen. Ich entdecke mich selbst.

28 [17]

Mitromania. – Warten auf das Erscheinen des ersten Sonnenstrahls – ihn endlich sehen und – ihn verhöhnen und sich auslöschen.

28 [18]

Wissen Erstarrung – Handeln Epilepsie unfreiwillig.

12. Wie vom Curare-Pfeil der Erkenntniss angeschossen bin ich: alles sehend.

28 [19]

Von Reisenden: Die Einen wissen aus Wenigem Viel, die Meisten aus Vielem Wenig zu machen.

II. Gesehen (bereist) werden; sehen; erleben; einleben; herausleben – fünf Stufen; wenige kommen zur obersten.

28 [20]

10. Es ist das Geheimniss aller Erfolgreichen, ihre Fehler wie Tugenden zu behandeln. So Wagner.

28 [21]

Unsere Leiden für die Anderen nützlich machen wie Staat den Tod des Verbrechers.

28 [22]

Mithras – Hoffnung

Mithraswahnsinn!

28 [23]

Verwundet hat mich der mich erweckt.

28 [24]

Grotta di Matrimonio, idyllisches Bild des unbewussten Lebens.

28 [25]

Tiberius: Wahnsinn des Handeln-Könnens. Gegenstück: Wahnsinn des Wissen-Könnens.

28 [26]

8. Man hat mich nicht beleidigt: trotzdem trenne ich mich von den Menschen. Keine Rache.

28 [27]

7. Verfeinerter Heroismus mit Augenschliessen über sich selbst, an mir bemerkt. Vielleicht schliessen Andre bei ihren Thätigkeiten die Augen.

28 [28]

Mutter – Natur – Vergangenheit – morden – Orestes – die Ehrfurcht vor dem grossen Verbrecher. Er ist geheiligt.

Cultus der Erinyen (als fruchtbar).

28 [29]

6. Kleine Kraft nöthig einen Kahn hinauszustossen. Byron Edinburger Kritik. Später die Verleumdung.

28 [30]

5. Seine Krankheit an den Pflug spannen.

28 [31]

4. Durch kein Leiden sich zum Glauben an den δερυτερος πλους bringen lassen.

Leiden als Strafe und Prüfung (Zukunft) ablehnen.

28 [32]

Morgens im Winter in einem dampfenden Pferdestall.

28 [33]

3. In Sorrent hob ich die Moosschicht von 9 Jahren.

Von Todten träumen.

28 [34]

Das Leben als Fest auszudenken von Mitromanie aus.

28 [35]

Christus soll die Welt erlöst haben? Es muss ihm wohl missrathen sein.

28 [36]

Auf seine Fehler säen.

28 [37]

Faust-Problem überwunden, mit der Metaphysik.

28 [38]

Dem Einzelnen kühne Willkür des Lebens zu vindiciren. Jetzt erst!

28 [39]

Kunst der Erinnerung, Bezwingung der bösen bitteren Elemente. Kampf gegen Krankheit Verdruss Langeweile.

2. Mithras tödtet den Stier, an dem Schlange und Scorpion hängen.

28 [40]

Die antike Weltbetrachtung wieder gewinnen! Wirklich die Moira über allem, die Götter Repräsentanten wirklicher Mächte! Antik werden!

28 [41]

Ich brauche die Salbbüchsen und Medicinflaschen aller antiken Philosophen.

28 [42]

Kröten-Traum.

28 [43]

Neu-Alterthum.

28 [44]

Das Grosse zu lieben, auch wenn es uns demüthigt. – Warum sollte der Künstler nicht vor der Wahrheit knien, der Führer einer geistigen Bewegung sich beschämt vor der Gerechtigkeit niederwerfen und sagen „ich weiss es, Göttin, meine Sache ist nicht deine Sache, vergieb, aber ich kann nicht anders."

28 [45]

Wirkung meiner Schriften: dagegen sehr skeptisch. Ich sah Parteien. „Ich will warten, bis Wagner eine Schrift anerkennt, die gegen ihn gerichtet ist" sagte ich.

28 [46]

Bei Ungenügen stellt sich leicht Geist- Vergiftung ein: so bei den Zielen der Bayreuther Blätter.

28 [47]

Den höchsten Formensinn, auf der einfachsten Grundform das Complicirteste folgerichtig entwickeln – finde ich bei Chopin.

28 [48]

Bei der deutschen Musik werden moralische Factoren zu hoch angerechnet –

28 [49]

Schamloses sich Hineindrängen – das kann wirklich Mitleid sein: aber ich wünsche Mitleid mit Intellect: dem Schopenh<auerschen>, das schon intelligent sein soll, misstraue ich völlig.

28 [50]

Naturfehler des Musikers.

Biographien

28 [51]

Das Orchester in Bayreuth zu tief, schon von der Mitte aus musste man die musikalische Richtigkeit auf Treu und Glauben hinnehmen.

28 [52]

Wagner hat den Sinn der Laien, die eine Erklärung aus einer Ursache für besser halten. So die Juden: Eine Schuld, So Ein Erlöser. So vereinfacht er das Deutsche, die Cultur. Falsch, aber kräftig.

28 [53]

Liszt, der Repräsentant aller Musiker, kein Musiker: der Fürst, nicht der Staatsmann. Hundert Musiker-Seelen zusammen, aber nicht genug eigene Person, um eignen Schatten zu haben.

Wenn man eine eigene leibhafte Persönlichkeit haben will, so muss man sich nicht sträuben, auch einen Schatten zu haben.

28 [54]

Ich habe öfters das Glück gehabt, die gute Saite eines Menschen zu treffen und ganze Tage lang ihren Ton zu geniessen; andre, auf meine Empfehlung, lernten sie kennen und fanden unerträgliche eingebildete kindische Gesellen – es waren dieselben, die mich einen wahren Schatz von Seelengüte bescheidenen Muthes und Vertrauens blicken liessen.

28 [55]

„Hintersinnen" d. h. man denkt nichts anderes mehr als wie es gegangen ist und nicht hätte gehen sollen.

28 [56]

Gegen das Briefschreiben unter Freunden. Sobald man Briefe schreibt, beginnt man schon zu irren.

28 [57]

Ich habe gesagt, „man könne sehr viel über die Entstehung des Kunstwerks aus Wagner's Schriften lernen". Nämlich die tiefe Ungerechtigkeit, Selbstlust und Überschätzung, die Verachtung der Kritik usw.

28 [58]

Was mich gegen die Frauen gelegentlich ungeduldig macht, ist, dass sie das Gute ja Ausgezeichnete verleugnen und verunglimpfen, wenn es nicht auf den Namen getauft ist, welcher ihnen als der höchste gilt. Die daraus folgende elende Vergeudung von Geist, um das Gute schlecht und das Unbedeutende zu etwas Ungemeinem Vielbedeutendem zu machen.

28 [59]

Unter dem scheinheiligen Name des Mitleidens die niederträchtigsten Verleumdungen hinter dem Rücken aussprengen.

28 [60]

Unter Nußbaum wie unter Verwandten, ganz heimisch.


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