Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente 1875-1879, Band 2
Friedrich Wilhelm Nietzsche

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[Frühling – Sommer 1875]

[Dokument: Heft]

5 [1]

Das von Vorn Anfangen ist immer eine Täuschung: selbst das was uns zu diesem angeblichen "Anfang" trieb, ist Wirkung und Resultat des Vorhergehenden. Aber ein so starkes und entscheidendes Abbrechen wird ein Zeichen sein von einem starken und übermässigen ehemaligen Fördern. Der Radikalismus unserer Meinungen und unsrer Wahrheit ist die Folge vom Radikalismus unsrer Irrthümer und Fehler. Das grosse Gesetz der Umsetzung – darin liegt aller sogenannte "Fortschritt". Die moralische Beurtheilung müsste im Grund immer dieselbe sein. Nun nimmt aber der Verstand und die Erfahrung zu, die moralische Qualität setzt sich immer nur um. Zuletzt schätzen wir eine Lehre doch nach ihren Wirkungen, ob sie z. B. viel Menschen getödtet oder verdreht gemacht; das ist nicht gerecht. –

5 [2]

Das Alterthum in Schriften aufbaun – eine noch ganz ungelöste Aufgabe.

5 [3]

Der Glaube an die Individualität – ob man ihn wohl wegdenken könnte! Jedenfalls gehn wir Zeiten entgegen, in denen die menschlichen Meinungen sehr uniformirt werden möchten; aber damit werden die Individuen ähnlicher, doch immer getrennter. Die Feindseligkeit zeigt sich dann bei kleinen Differenzen um so schärfer.

5 [4]

Es ist genau neben einander zu stellen, weshalb Griechen und Philologen sich schwer verstehen müssen: dabei ist die Characteristik der Griechen mit zu geben.

5 [5]

Alle Religionen beruhen zuletzt doch auf gewissen physikalischen Annahmen, die vorher da sind und sich die Religion anpassen. Z. B. im Christenthum Gegensatz von Leib und Seele, unbedingte Wichtigkeit der Erde als der „Welt", wunderhaftes Geschehen in der Natur. Sind erst die entgegengesetzten Anschauungen zur Herrschaft gekommen, z. B. strenges Naturgesetz, Hülflosigkeit und Überflüssigkeit aller Götter, engste Auffassung des Seelischen als eines leiblichen Prozesses – so ist es vorbei. Nun ruht das ganze Griechenthum auf solchen Anschauungen.

5 [6]

Bei Thukydides die angenehme Empfindung mit der man ein Schloss durch den Schlüssel bewegt: allmählich schwieriges Nachgeben, aber geordnet und sein Ziel immer mehr erreichend.

Bei Aristoteles sieht man die weissen Knochen.

5 [7]

Auch die Tyrannen des Geistes sind fast immer ermordet worden und haben nur spärliche Nachkommenschaft.

5 [8]

Übertragung der Bewegung ist Vererbung: das sage man sich bei der Wirkung der Griechen auf Philologen.

5 [9]

Wie man nur ein ganzes Volk verherrlichen und preisen kann! Die Einzelnen sind es, auch bei den Griechen.

5 [10]

Es ist sehr viel Carikatur auch bei den Griechen, z. B. die Sorge um's eigne Glück bei den Cynikern.

5 [11]

Mich interessirt allein das Verhältniss des Volkes zur Erziehung des Einzelnen; und da ist allerdings bei den Griechen Einiges sehr günstig für die Entwicklung des Einzelnen, doch nicht aus Güte des Volkes, sondern aus dem Kampf der bösen Triebe.

Man kann durch glückliche Erfindungen das grosse Individuum noch ganz anders und höher erziehen, als es bis jetzt durch die Zufälle erzogen wurde. Da liegen meine Hoffnungen: Züchtung der bedeutenden Menschen.

5 [12]

Die griechische Geschichte ist immer bisher optimistisch geschrieben worden.

5 [13]

Der Wunsch, irgend etwas Sicheres in der Aesthetik zu haben, verführte zur Anbetung des Aristoteles; ich glaube, es lässt sich allmählich beweisen, dass er nichts von der Kunst versteht, und dass nur die klugen Gespräche der Athener es sind, deren Wiederhall wir so bei ihm bewundern.

5 [14]

Die Griechen sind interessant, und ganz toll wichtig, weil sie eine solche Menge von grossen Einzelnen haben. Wie war das möglich? Das muss man studiren.

5 [15]

Mit dem Verschwinden des Christenthums ist auch ein guter Theil des Alterthums unverständlicher geworden, zumal die ganze religiöse Basis des Lebens. Schon deshalb ist eine Nachahmung des Alterthums eine falsche Tendenz; Betrüger oder Betrogene sind die Philologen, welche noch daran denken. Wir leben in der Periode, wo verschiedene Lebensauffassungen neben einander stehen: deshalb ist die Zeit so lehrreich, wie selten eine, deshalb so krank, weil sie an den Übeln aller Richtungen zugleich leidet. Zukunftsmensch: der europäische Mensch.

5 [16]

Geschichte kennen heisst jetzt: zu erkennen, wie es alle Menschen sich zu leicht gemacht haben, welche an eine Vorsehung glauben. Es giebt keine. Wenn die menschlichen Dinge wild und unordentlich gehen, so glaube nicht, dass ein Gott damit etwas bezweckt oder dass er sie zulässt. Wir können ungefähr übersehn, dass die Geschichte des Christenthums auf Erden einer der schrecklichsten Theile der Geschichte ist und dass es damit einmal vorbei sein muss. Freilich ragte im Christenthum gerade auch das Alterthum in unsre Zeit hinein; und wenn es schwindet, schwindet das Verständniss des Alterthums noch mehr. Jetzt ist die beste Zeit es zu erkennen; uns leitet kein Vorurtheil zu Gunsten des Christenthums mehr, aber wir verstehen es noch und in ihm auch noch das Alterthum, soweit es auf einer Linie steht.

5 [17]

Der Untergang der Philologen-Poeten liegt zu gutem Theile in ihrer persönlichen Verderbniss; ihre Art wächst später weiter, wie z. B. Goethe und Leopardi solche Erscheinungen sind. Hinter ihnen pflügen die reinen Philologen-Gelehrten nach. Die ganze Art hebt an mit der Sophistik des zweiten Jahrhunderts.

5 [18]

Am Ausgange des Alterthums stehen noch ganz unchristliche Gestalten, die schöner reiner und harmonischer sind als alle christlichen, z. B. Proklos; die Mystik sein Synkretismos sind Dinge, die ihm gerade das Christenthum nicht vorwerfen darf. Jedenfalls wäre es mein Wunsch, mit denen zusammenzuleben. Denen gegenüber erscheint das Christenthum nur wie die roheste Vergröberung für den Haufen und die Ruchlosen hergerichtet.

5 [19]

Alle Richtungen der Historie haben am Alterthum sich versucht; die kritische Betrachtung ist allein noch übrig. Nur muss man darunter nicht Conjectural- und litterarhistorische Kritik verstehen.

5 [20]

Die Unvernunft in den menschlichen Dingen ans Licht zu bringen, ohne jede Verschämtheit – das ist das Ziel unserer Brüder und Genossen. Dann wird man zu unterscheiden haben, was davon fundamental und unverbesserlich ist, was noch verbessert werden kann. Aber jede "Vorsehung" ist fernzuhalten: denn das ist ein Begriff, wodurch man es sich zu leicht macht. Den Athem dieser Absicht wünsche ich der Wissenschaft einzuflössen.

Die Kenntniss des Menschen vorwärts zu bringen! Das Gute und Vernünftige im Menschen ist zufällig oder scheinbar oder die Gegenseite von etwas sehr Unvernünftigem.

Es wird irgendwann einmal gar keinen Gedanken geben als Erziehung.

5 [21]

Ergebung in die Nothwendigkeit lehre ich nicht – denn man müsste sie erst als nothwendig kennen. Vielleicht giebt es vielfache Nothwendigkeiten; aber so im Allgemeinen ist es doch auch ein Faulbett.

5 [22]

Zeichen und Wunder werden nicht geglaubt; nur eine "Vorsehung" braucht so etwas. Es giebt keine Hülfe weder im Gebet, noch in der Askese, noch in der Vision. Wenn dies alles Religion ist, so giebt es keine Religion mehr für mich.

Meine Religion, wenn ich irgendetwas noch so nennen darf, liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius; Erziehung ist alles zu Hoffende, alles Tröstende heisst Kunst. Erziehung ist Liebe zum Erzeugten, ein Überschuss von Liebe über die Selbstliebe hinaus. Religion ist " Lieben über uns hinaus". Das Kunstwerk ist das Abbild einer solchen Liebe über sich hinaus und ein volkommnes.

5 [23]

Die Dummheit des Willens ist der grösste Gedanke Schopenhauer's, wenn man Gedanken nach der Macht beurtheilt. Man kann an Hartmann sehen, wie er sofort diesen Gedanken wieder eskamotirt. Etwas Dummes wird niemand Gott nennen.

5 [24]

Also das ist das Neue alles zukünftigen Welttreibens: man darf die Menschen nicht mehr mit religiösen Vorstellungen beherrschen. Ob sie sich schlechter zeigen werden? Ich finde nicht, dass sie sich unter dem Joche der Religionen gut und sittlich ausnehmen; ich stehe nicht auf Seite von Demopheles. Die Furcht vor dem Jenseits und dann überhaupt die religiöse Furcht vor göttlichen Strafen werden die Menschen schwerlich besser gemacht haben.

5 [25]

Wo etwas Grosses erscheint, mit etwas längerer Dauer, da können wir vorher eine sorgfältige Züchtung wahrnehmen z. B. bei den Griechen. Wie erlangten so viele Menschen bei ihnen Freiheit?

Erzieher erziehn! Aber die ersten müssen sich selbst erziehn! Und für diese schreibe ich.

5 [26]

Die Verneinung des Lebens ist nicht mehr so leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder Mönch sein – was ist da verneint! Dieser Begriff wird jetzt tiefer: es ist vor allem erkennende Verneinung, gerecht sein wollende Verneinung, nicht mehr in Bausch und Bogen.

Wer heute gut und heilig sein wollte, hätte es schwerer: er dürfte, um gut zu sein, nicht so ungerecht gegen das Wissen sein, wie es die frühern Heiligen waren. Es müsste ein Wissender-Heiliger sein: Liebe und Weisheit verbindend; und mit einem Glauben an Götter oder Halbgötter oder Vorsehungen dürfte er nichts mehr zu schaffen haben; wie damit auch die indischen Heiligen nichts zu thun hatten. Auch müsste er gesund sein und sich gesund erhalten; sonst würde er gegen sich misstrauisch werden müssen. Und vielleicht würde er gar nicht einem asketisch Heiligen ähnlich sehen, vielleicht gar einem Lebemanne.

5 [27]

Alle Arten die Geschichte zu behandeln sind schon am Alterthum versucht. Vor allem aber hat man genug erfahren, um nun die Geschichte des Alterthums sich zu nutze zu machen – ohne am Alterthum zu Grunde zu gehen.

5 [28]

Die deutsche Reformation entfernte uns vom Alterthum: musste sie das? Sie entdeckte den alten Widerspruch „Heidenthum, Christenthum" von neuem; sie war zugleich ein Protest gegen die dekorative Cultur der Renaissance; es war ein Sieg über dieselbe Cultur, die beim Beginn des Christenthums besiegt wurde.

5 [29]

Das Christenthum hat in Betreff der "weltlichen Dinge" gerade die gröberen Ansichten der Alten conservirt. Alles Edlere in Ehe, Sklaverei Staat ist unchristlich. Es brauchte die entstellenden Züge der Weltlichkeit, um sich zu beweisen.

5 [30]

Ich träume eine Genossenschaft von Menschen, welche unbedingt sind, keine Schonung kennen und "Vernichter" heissen wollen: sie halten an alles den Maassstab ihrer Kritik und opfern sich der Wahrheit. Das Schlimme und Falsche soll an's Licht! Wir wollen nicht vorzeitig bauen, wir wissen nicht, ob wir je bauen können und ob es nicht das Beste ist, nicht zu bauen. Es giebt faule Pessimisten, Resignisten – zu denen wollen wir nicht gehören.

5 [31]

Eigenthümlich bedeutende Stellung der Philologen: ein ganzer Stand, dem die Jugend anvertraut ist und der ein spezielles Alterthum zu erforschen hat. Offenbar legt man den höchsten Werth auf dies Alterthum. Wenn man das Alterthum aber falsch abgeschätzt hätte, so fehlte plötzlich das Fundament für die erhabene Stellung der Philologen. Jedenfalls hat man das Alterthum sehr verschieden abgeschätzt: und darnach hat sich jedesmal die Würdigung der Philologen gerichtet. Dieser Stand hat seine Kraft aus starken Vorurtheilen zu Gunsten des Alterthums geschöpft. – Dies ist zu schildern. – Jetzt fühlt er, daß wenn endlich diesen Vorurtheilen gründlich widersprochen würde und das Alterthum rein geschildert würde, sofort jenes günstige Vorurtheil für die Philologen schwände. Es ist also ein Standesinteresse, reinere Einsichten über das Alterthum nicht aufkommen zu lassen: zumal die Einsicht, daß das Alterthum im tiefsten Sinne unzeitgemäß macht.

Es ist zweitens ein Standesinteresse der Philologen, keine höhere Anschauung über den Lehrerberuf aufkommen zu lassen als die, welcher sie entsprechen können.

5 [32]

Hoffentlich giebt es einige, die es als Problem empfinden, warum gerade die Philologen die Erzieher der edleren Jugend sein sollen. Es wird vielleicht nicht immer so sein. – An sich wäre es ja viel natürlicher,- daß man der Jugend geographische naturwissenschaftliche national-ökonomische gesellige Grundsätze beibrächte, daß man sie allmählich zur Betrachtung des Lebens führte und endlich, spät, die merkwürdigsten Vergangenheiten vorführte. So daß Kenntniß des Alterthums zum letzten gehörte, was einer erwürbe; ist diese Stellung des Alterthums in der Erziehung die für das Alterthum ehrenvollere oder die gewöhnliche? – Jetzt wird es als Propädeutik benutzt, für Denken, Sprechen und Schreiben; es gab eine Zeit, wo es der Inbegriff der weltlichen Kenntnisse war und wo man eben das durch seine Erlernung erreichen wollte, was man jetzt durch jenen eben beschriebenen Studienplan erreichen würde (der sich eben den vorgerückten Kenntnissen der Zeit entsprechend verwandelt hat). Also hat sich die innere Absicht im philologischen Lehrerthum ganz umgeändert, einst war dies die materiale Belehrung, jetzt nur noch die formale.–

5 [33]

Die Verbindung von Humanismus und religiösem Rationalismus ist als sächsisch gut von Köchly hervorgehoben: der Typus dieses Philologen ist G. Hermann.

5 [34]

Ist es wahr, daß der Philolog, insofern er das Alterthum zur formalen Bildung verwendet, selber formal gebildet ist?

Aber was für ein Gegensatz! formal und material! Hier ist Material Kenntnisse, Fakta. Formal die Art, wie man denkt spricht schreibt, also wie man Kenntnisse sich verschafft und sie verbreitet.

5 [35]

Wäre die Aufgabe des Philologen formal zu erziehen, so müßte er gehen, tanzen, sprechen, singen, sich gebaren, sich unterreden lehren: und das lernte man auch ungefähr bei den formalen Erziehern des zweiten und dritten Jahrhunderts. Aber so denkt man immer nur an die Erziehung des wissenschaftlichen Menschen und da heißt „formal": denken und schreiben, kaum reden."

5 [36]

Ausgewählte Punkte aus dem Alterthum: z.B. die Macht das Feuer der Schwung in der antiken Musikempfindung (durch die erste pythische Ode), die Reinheit in der historischen Empfindung und die Dankbarkeit für die Segnungen der Cultur, Feuer-Feste, Getreidefeste. Die Veredelung der Eifersucht, die Griechen das eifersüchtigste Volk. Der Selbstmord, Haß gegen das Alter z. B. gegen die Armut. Empedokles über die Geschlechtsliebe.

5 [37]

Ich beklage eine Erziehung, bei der es nicht erreicht ist, Wagner zu verstehen, bei der Schopenhauer rauh und mißtönend klingt; diese Erziehung ist verfehlt.

5 [38]

Es giebt einen alten Kampf der Deutschen gegen das Alterthum d. h. gegen die alte Cultur: es ist gewiß, daß gerade das Beste und Tiefste am Deutschen sich mit sträubt. Aber der Hauptpunkt ist doch der: jenes Sträuben ist nur im Recht, wenn man die romanisirte Cultur meint: diese ist aber bereits der Abfall einer viel tieferen und edleren. Gegen diese sträubt sich der Deutsche mit Unrecht.

5 [39]

Ich sehe in den Philologen eine verschworene Gesellschaft, welche die Jugend an der antiken Cultur erziehn will; ich würde es verstehen, wenn man diese Gesellschaft und ihre Absichten von allen Seiten kritisirte. Da käme nun viel darauf an, zu wissen, was diese Philologen unter antiker Cultur verstehen. – Sähe ich z. B. daß sie gegen die deutsche Philosophie und Musik erzögen, so würde ich sie bekämpfen oder auch die antike Cultur bekämpfen, ersteres vielleicht, indem ich zeigte, daß die Philologen die antike Cultur nicht verstanden haben. Nun sehe ich 1) großen Wechsel in der Schätzung der antiken Cultur bei den Philologen 2) etwas tief Unantikes in ihnen selbst, Unfreies 3) Unklarheit darüber, welche antike Cultur sie meinen 4) in den Mitteln vieles Verkehrte z. B. Gelehrsamkeit 5) Verquickung mit Christenthum.

5 [40]

Gesunder gewandter Körper, reiner und tiefer Sinn in der Betrachtung des Allernächsten, freie Männlichkeit, Glaube an gute Rasse und gute Erziehung, kriegerische Tüchtigkeit, Eifersucht im αοιστευειν, Lust an den Künsten, Ehre der freien Muße, Sinn für freie Individuen, für das Symbolische.

5 [41]

Ein Colleg über „System der Cultur".

1. Das endlich klar erkannte Ziel der Cultur.

2. Geschichte der Ziele und ihrer Irrthümer.

3. Mittel der Cultur.

5 [42]

Pläne für das Leben.

Unzeitgemässe Betrachtungen. Für die dreissiger Jahre meines Lebens.

Die Griechen. Für die vierziger Jahre meines Lebens.

Reden an die Menschheit. Für die fünfziger Jahre meines Lebens.

5 [43]

Wenn das Gymnasium zur Wissenschaft erziehn soll, so sagt man jetzt: es kann die Vorbereitung zu keiner Wissenschaft mehr geben, so umfassend sind die Wissenschaften geworden. Folglich muß man allgemein d. h. für alle Wissenschaften d. h. für die Wissenschaftlichkeit vorbereiten – und dazu dienen die klassischen Studien! – Wunderlicher Sprung! Eine sehr verzweifelte Rechtfertigung! Das Bestehende soll Recht behalten, auch nachdem klar eingesehn ist, daß das bisherige Recht, auf dem es ruhte, zum Unrecht geworden ist.

5 [44]

In Betreff der Einfachheit des Alterthums steht es wie bei der Einfachheit des Stils; es ist das Höchste, was man erkennt und nachzuahmen hat, aber auch das Letzte. Man denke daß die klassische Prosa der Griechen auch ein spätes Resultat ist.

5 [45]

Das Fundament, auf dem noch die allgemeine Schätzung des Alterthums ruht, sind Vorurtheile: werden diese beseitigt, so dürfte sich die Schätzung in einen gründlichen Haß verwandeln. Hegen nun die Philologen auch diese Vorurtheile? Dann kennen sie das Alterthum nicht. Hegen sie dieselben nicht – wie steht es dann mit ihrer Redlichkeit! Wo zeigt sich aber, daß sie dieselben absichtlich zerstörten?

5 [46]

Kennen die Philologen die Gegenwart? Ihre Urtheile über dieselbe als perikleische, ihre Verirrungen des Urtheils, wenn sie von einem Homer congenialen Geiste Freitags reden usw., ihr Nachlaufen, wenn die Litteraten voranlaufen. Ihr Verzichtleisten auf den heidnischen Sinn, den gerade Goethe als den alterthümlichen bei Winckelmann entdeckt hatte.

5 [47]

Unsre Stellung zum klassischen Alterthum ist im Grunde die tiefe Ursache der Unproduktivität der modernen Cultur: denn diesen ganzen modernen Culturbegriff haben wir von den hellenisirten Römern. Wir müssen im Alterthum selbst scheiden: indem wir seine einzig produktive Zeit kennen lernen, verurtheilen wir auch die ganze alexandrinisch-romanische Cultur. Aber zugleich verurtheilen wir unsre ganze Stellung zum Alterthum und unsre Philologie zugleich!

5 [48]

Es giebt eine Art, sich philologisch zu beschäftigen, und sie ist häufig: man wirft sich besinnungslos auf irgend ein Gebiet oder wird geworfen: von da aus sucht man rechts und links, findet manches Gute und Neue – aber in einer unbewachten Stunde sagt man sich doch: was Teufel geht mich gerade das alles an? Inzwischen ist man alt geworden, hat sich gewöhnt und läuft so weiter, so wie in der Ehe.

5 [49]

Im Ganzen hat die heutige Philologie den leitenden Faden verloren: die welche sie früher leiteten, werden verneint; aber im Ganzen beruht die ganze Wirkung und Schätzung noch auf dem Ruhm jener frühern Leitung, z. B. dem der Humanität.

5 [50]

Es giebt Dinge, über die das Alterthum belehrt, über welche ich nicht leicht mich öffentlich aussprechen möchte.

5 [51]

Es ist fast lächerlich zu sehen, wie fast alle Wissenschaften und Künste in der neueren Zeit wieder aus dem Samen aufwachsen, der aus dem Alterthum zugeweht wird, und wie das Christenthum hier nur als ein böser Frost einer langen Nacht erscheint, bei dem man glauben sollte, es sei für alle Zeit mit der Vernunft und der Ehrlichkeit der Menschen vorbei. Der Kampf gegen den natürlichen Menschen hat den unnatürlichen Menschen gemacht.

5 [52]

Wie man die jungen Leute mit den Alten bekannt macht, hat was Respektwidriges: noch schlimmer, es ist unpädagogisch; denn was soll die Bekanntschaft mit Dingen, die der Jüngling unmöglich mit Bewußtsein verehren kann! Vielleicht soll er lernen zu glauben; und desshalb wünsche ich es nicht.

5 [53]

Denen, welche sagen: "aber immer bleibt doch noch das Alterthum übrig als Objekt reiner Wissenschaft, wenn auch alle seine erziehenden Absichten geleugnet werden", ist zu antworten: was ist hier reine Wissenschaft! Es sollen Handlungen und Eigenschaften beurtheilt werden, und der Urtheilende muß darüber stehen: also hättet ihr erst dafür zu sorgen, das Alterthum zu überwinden. Bevor ihr das nicht thut, ist eure Wissenschaft nicht rein, sondern unrein und beschränkt: wie es zu spüren ist.

5 [54]

Wie es mit den Philologen steht, zeigt ihre Gleichgültigkeit beim Erscheinen Wagner's. Sie hätten noch mehr lernen können als durch Goethe – und sie haben noch keinen Blick hingeworfen. Das zeigt: es führt sie kein starkes Bedürfniß: sonst hätten sie ein Gefühl, wo ihre Nahrung zu finden ist.

5 [55]

Plan zu Capitel 1.

Philologie von allen Wissenschaften bis jetzt die begünstigtste: grösste Zahl, seit Jahrhunderten, bei allen Völkern gefördert, die Obhut der edlern Jugend und somit den schönsten Anlass sich fortzupflanzen und Achtung vor sich zu erwecken. Wodurch hat sie diese Macht erlangt?

Aufzählung der verschiedenen Vorurtheile zu ihren Gunsten.

Wie nun, wenn diese als Vorurtheile erkannt würden? – Bliebe wohl Philologie noch übrig, wenn man das Interesse eines Standes, eines Broterwerbes abrechnete? Wenn man über das Alterthum und seine Befähigung für die Gegenwart zu erziehn die Wahrheit sagte?

Cap. 2.

Um darauf zu antworten, sehe man die Erziehung zum Philologen, seine Genesis an: er entsteht gar nicht mehr, wenn jenes Interesse wegfällt.

Cap. 3.

Wenn unsre öffentliche Welt dahinter käme, was das Alterthum eigentlich für ein unzeitgemässes Ding ist, so würden die Philologen nicht mehr zu Erziehern bestellt.

Cap. 4.

Nur das Bündniss zwischen den Philologen, die das Alterthum nicht verstehen wollen oder nicht können, und der öffentlichen Meinung, die von Vorurtheilen über dasselbe geleitet ist, giebt der Philologie jetzt noch ihre Kraft.

Cap. 5.

Der zukünftige Philologe als Sceptiker über unsre ganze Cultur und damit auch als Vernichter des Philologen-Standes.

5 [56]

Würde die Philologie noch als Wissenschaft existiren, wenn ihre Diener nicht Erzieher, mit Besoldungen wären? In Italien gab es solche. Wer stellt einen Deutschen neben Leopardi z. B.?

5 [57]

Wirkung auf Nicht-Philologen gleich Null. Würden sie imperativisch und verneinend, o wie würden sie angefeindet! Aber sie ducken sich.

Die Griechen wirklich und ihre Abschwächung durch die Philologen.

5 [58]

Alle Geschichte ist bis jetzt vom Standpuncte des Erfolges und zwar mit der Annahme einer Vernunft im Erfolge geschrieben. Auch die griechische Geschichte: wir besitzen noch keine. Aber so steht es überhaupt: wo sind Historiker, die nicht von allgemeinen Flausen beherrscht die Dinge ansehn? Ich sehe nur einen – Burckhardt. Überall der breite Optimismus in der Wissenschaft. Die Frage: "was wäre geschehn, wenn das und das nicht eingetreten wäre" wird fast einstimmig abgelehnt, und doch ist sie gerade die kardinale Frage, wodurch alles zu einem ironischen Dinge wird. Man sehe nur sein Leben an. Wenn man nach Plan in der Geschichte sucht, so suche man ihn in den Absichten eines gewaltigen Menschen, vielleicht in denen eines Geschlechtes, einer Partei. Alles übrige ist ein Wirrsal. – Auch in der Naturwissenschaft ist diese Vergötterung des Nothwendigen. –

Deutschland ist die Brutstätte für den historischen Optimismus geworden: daran mag Hegel mit Schuld sein. Aber durch nichts hat die deutsche Cultur verhängnissvoller gewirkt. Alles durch den Erfolg Unterdrückte bäumt sich allmählich auf; die Geschichte als der Hohn der Sieger; servile Gesinnung und Devotion vor dem Faktum – "Sinn für den Staat" nennt man's jetzt: als ob der noch hätte gepflanzt werden müssen! Wer nicht begreift, wie brutal und sinnlos die Geschichte ist, der wird auch den Antrieb gar nicht verstehn die Geschichte sinnvoll zu machen. Nun sehe man, wie selten eine solche sinnvolle Erkenntniss des eignen Lebens ist wie die Goethes: was soll nun aus allen diesen verschleierten und blinden Existenzen Vernünftiges geschehn, wenn sie mit und gegeneinander chaotisch wirken.

Besonders naiv ist es nun, wenn Hellwald, der Verfasser einer Cultur-Geschichte, von allen "Idealen" abwinkt, weil die Geschichte immer eins nach dem andern abgethan habe.

5 [59]

Griechen und Philologen.

Die Griechen huldigen der Schönheit Philologen sind Schwätzer und Tändler.

sie entwickeln den Leib hässliche Gehege.

sie sprechen gut Stammler.

religiöse Verklärer des Alltäglichen schmutzige Pedanten.

Hörer und Schauer Wortklauber und Nachteulen.

für das Symbolische Unfähigkeit zur Symbolik

freie Männlichkeit Staatssclaven mit Inbrunst

reiner Blick in die Welt verzwickte Christen

Pessimisten des Gedankens Philister

5 [60]

Es ist wahr, der Humanismus und die Aufklärung haben das Alterthum als Bundesgenossen in's Feld geführt: und so ist es natürlich, dass die Gegner des Humanismus das Alterthum anfeinden. Nur war das Alterthum des Humanismus ein schlecht erkanntes und ganz gefälschtes: reiner gesehn ist es ein Beweis gegen den Humanismus, gegen die grundgütige Menschen-Natur usw. Die Bekämpfer des Humanismus sind im Irrthum, wenn sie das Alterthum mit bekämpfen: sie haben da einen starken Bundesgenossen.

5 [61]

Religionen verstehe ich als Narkosen: aber werden sie solchen Völkern gegeben wie den Germanen, so sind es reine Gifte.

5 [62]

Welchen Zustand nahmen nur die Griechen als Vorbild für ihr Leben im Hades? Blutlos, traumhaft, schwach: es ist die nochmalige Steigerung des Greisenalters: wo das Gedächtniß noch mehr schwindet und der Leib auch noch mehr. Das Greisenalter des Greisenalters – so leben wir in den Augen des Hellenen.

5 [63]

Wie wirklich die Griechen selbst in reinen Erfindungen waren, wie sie an der Wirklichkeit fortdichteten, nicht sich aus ihr hinaus sehnten.

5 [64]

Erziehung ist erst Lehre vom Nothwendigen, dann vom Wechselnden und Veränderlichen. Man führt den Jüngling in die Natur, zeigt ihm überall das Walten von Gesetzen; dann die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft: hier wird schon die Frage rege: mußte dies so sein? Allmählich braucht er Geschichte, um zu hören, wie das so geworden ist. Aber damit lernt er, daß es auch anders werden kann. Wie viel Macht über die Dinge hat der Mensch? dies ist die Frage bei aller Erziehung. Um nun zu zeigen, wie ganz anders es sein kann, zeige man z. B. die Griechen. Die Römer braucht man, um zu zeigen wie es so wurde.

5 [65]

Die Griechen als das einzig geniale Volk der Weltgeschichte; auch als Lernende sind sie dies, sie verstehen dies am besten und wissen nicht bloß zu schmücken und zu putzen mit dem Entlehnten: wie es die Römer thun.

Die Constitution der Polis ist eine phönizische Erfindung: selbst dies haben die Hellenen nachgemacht. Sie haben lange Zeit wie freudige Dilettanten an allem herum gelernt; wie auch die Aphrodite phönizisch ist. Sie leugnen auch gar nicht das Eingewanderte und Nicht-Ursprüngliche ab.

5 [66]

Die Aegypter sind vielmehr ein litterarisches Volk als die Griechen. Dies gegen Wolf.

5 [67]

Das erste Korn in Eleusis, die erste Rebe in Theben, der erste Ölbaum, Feigenbaum.

5 [68]

Aegypten hatte seinen Mythus wesentlich verloren.

5 [69]

Das leibhafte Erscheinen von Göttern, wie bei Sappho's Anrufung der Aphrodite, ist nicht als poetische Lizenz zu verstehen, es sind häufige Hallucinationen. Vieles, wie auch den Wunsch zu sterben, fassen wir flach auf, als rhetorisch.

5 [70]

Griechen das Genie unter den Völkern.

Kindes-Natur. Leichtgläubig.

Leidenschaftlich. Unbewußt leben sie der Erzeugung des Genius. Feinde der Befangenheit und Dumpfheit. Schmerz. Unverständiges Handeln. Ihre Art von intuitiver Einsicht in das Elend, bei goldenem genial-frohem Temperament. Tiefsinn im Erfassen und Verherrlichen des Nächsten (Feuer Ackerbau). Lügnerisch. Unhistorisch. Die Kulturbedeutung der Polis instinktiv erkannt; Centrum und Peripherie für den großen Menschen günstig. (Die Übersichtlichkeit einer Stadtgemeinde, auch die Möglichkeit sie als Ganzes anzureden.) Das Individuum zur höchsten Kraft durch die Polis gesteigert. Neid, Eifersucht wie bei genialen Leuten.

5 [71]

Die Erholungen der Spartaner bestanden in Festen, Jagd und Krieg: ihr alltägliches Leben war zu hart. Im Ganzen ist ihr Staat doch eine Karikatur der Polis und ein Verderben von Hellas. Die Erzeugung des vollkommnen Spartaners – aber was ist er Großes, daß seine Erzeugung einen so brutalen Staat brauchte!

5 [72]

Die griechische Cultur ruht auf dem Herrschafts-Verhältniß einer wenig zahlreichen Classe gegen 4-5mal so viel Unfreie. Der Masse nach war Griechenland ein von Barbaren bewohntes Land. Wie kann man die Alten nur human finden! Gegensatz des Genie's gegen den Broderwerber, das halbe Zug- und Lastthier. Die Griechen glaubten an eine Verschiedenheit der Rasse: Schopenhauer wundert sich, daß es der Natur nicht beliebt habe, zwei getrennte Species zu erfinden.

5 [73]

Zum Griechen verhält sich der Barbar, wie „zum freibeweglichen, ja geflügelten Thiere die an ihren Felsen gekittete Muschel, welche abwarten muß, was der Zufall ihr zuführt". Schopenhauer'sches Bild.

5 [74]

"Im Einzelnen stets das Allgemeine zu sehen ist gerade der Grundzug des Genie's" Schopenhauer. Man denke an Pindar, an die Ποομηθεια usw. Die "Besonnenheit", nach Schopenhauer, hat zunächst ihre Wurzel in der Deutlichkeit, mit welcher die Griechen der Welt und ihrer selbst inne werden und dadurch zur Besinnung darüber kommen.

5 [75]

Das „ weite Auseinandertreten des Willens und des Intellektes" bezeichnet die Genies, und auch die Griechen.

5 [76]

"Die dem Genie beigegebene Melancholie beruht darauf, daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekte er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt." Schopenhauer. Cf. die Griechen!

5 [77]

Wie stechen die Römer durch ihren trockenen Ernst gegen die genialen Griechen ab! Schopenhauer: „der feste praktische Lebensernst, welchen die Römer als gravitas bezeichneten, setzt voraus, daß der Intellekt nicht den Dienst des Willens verlasse, um hinauszuschweifen zu dem, was diesen nicht angeht."

5 [78]

Die Mäßigkeit der Griechen in ihrem sinnlichen Aufwand, Essen und Trinken und ihre Lust daran: die olympischen Spiele und ihre Vergötterung – das zeigt, was sie waren.

5 [79]

Beim Genie wird "der Intellekt die Fehler zeigen, die bei jedem Werkzeuge, welches zu dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht wird, nicht auszubleiben pflegen." "Er läßt den Willen oft sehr zur Unzeit im Stich: so wird das Genie für das Leben mehr oder weniger unbrauchbar, ja erinnert in seinem Betragen mitunter an den Wahnsinn."

5 [80]

"Wenn die abnorm erhöhte Erkenntnißkraft sich plötzlich, mit aller ihrer Energie, auf die Angelegenheiten und Miseren des Willens richtet – da wo alles zu lebhaft, in zu grellen Farben, zu hellem Lichte, ins Ungeheure vergrößert; dann verfällt das Individuum auf lauter Extreme."

5 [81]

Es fehlt den Griechen die Nüchternheit. Übergroße Sensibilität, abnorm erhöhtes Nerven- und Cerebralleben, Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Wollens.

5 [82]

Das glücklichste Loos, welches dem Genie werden kann, ist Entbindung vom Thun und Lassen und freie Muße: und so wußten die Griechen zu schätzen. Segen der Arbeit! nugari nannten die Römer alles Tichten und Trachten der Hellenen.

Es hat keinen glücklichen Lebenslauf, es steht im Widerspruch und Kampf mit seiner Zeit. So die Griechen: sie bemühten sich ungeheuer, instinktiv, sich ein sicheres Gehäuse (in der Polis) zu schaffen. Endlich gieng alles in der Politik zu Grunde.

Sie waren gezwungen nach außen hin Stand zu halten: das wurde immer schwieriger, endlich unmöglich.

5 [83]

Mit einer Veränderung eines Wortes von Bako von Verulam kann man sagen: infimarum Graecorum virtutum, apud philologos, laus est, mediarum admiratio, supremarum sensus nullus.

5 [84]

Der kindliche Charakter der Griechen von den Aegyptern empfunden.

5 [85]

Das Steigern des Gegenwärtigen ins Ungeheure und Ewige z.B. bei Pindar.

5 [86]

Die unmathematische Schwingung der Säule in Pästum z. B. ist ein Analogon zur Modifikation des Tempos: Belebtheit an Stelle eines maschinenhaften Bewegtseins.

5 [87]

Es ist das Werk aller Erziehung, bewußte Thätigkeiten in mehr oder weniger unbewußte umzubilden: und die Geschichte der Menschheit ist in diesem Sinne ihre Erziehung. Der Philologe nun übt eine Menge Thätigkeiten so unbewußt: das will ich einmal untersuchen, wie seine Kraft, d. h. sein instinktives Handeln, das Resultat von ehemals bewußten Thätigkeiten ist, die er allmählich als solche kaum mehr fühlt: aber jenes Bewußtsein bestand in Vorurtheilen. Seine jetzige Kraft beruht auf jenen Vorurtheilen, z. B. die Schätzung der ratio wie bei Bentley, Hermann. Die Vorurtheile sind, wie Lichtenberg sagt, die Kunsttriebe des Menschen.

5 [88]

Fertigkeiten erwartet man von der Beschäftigung mit den Alten: früher z. B. Schreiben und Sprechen können. Aber welche erwartet man jetzt! – Denken und Schließen: aber dies erlernt man nicht von den Alten, sondern höchstens an den Alten, vermittelst der Wissenschaft. Zudem ist aber alles historische Schließen sehr bedingt und unsicher: man sollte das naturwissenschaftliche vorziehn.

5 [89]

Proklos, der den aufgehenden Mond in feierlicher Weise anbetet.

5 [90]

Die ererbte Abrichtung der jetzigen Philologen: eine gewisse Unfruchtbarkeit der Grundeinsichten hat sich ergeben; denn sie bringen die Wissenschaft, aber nicht die Philologen vorwärts.

5 [91]

Das politische Unterliegen Griechenlands ist der größte Mißerfolg der Cultur: denn es hat die gräßliche Theorie aufgebracht, daß man die Cultur nur pflegen könne, wenn man zugleich bis an die Zähne bewaffnet und mit Fausthandschuhen angethan sei. Das Aufkommen des Christenthums war der zweite große Mißerfolg: die rohe Macht dort, der dumpfe Intellekt hier kamen zum Siege über das aristokratische Genie unter den Völkern. Philhellene sein heißt Feind der rohen Macht und der dumpfen Intellekte sein. Insofern war Sparta das Verderben von Hellas, insofern es Athen zwang bundesstaatlich zu wirken und sich ganz auf Politik zu werfen.

5 [92]

Sicher steht im Ganzen Großen das Wachsen der militärischen Kraft der Menschheit. Der Sieg der kräftigeren Nation: allmählich ist es nicht nur der Maaßstab des körperlicher, sondern noch mehr des geistigen Kräftiger-seins.

5 [93]

In Sokrates haben wir einen Vorgang des Bewußtseins gleichsam vor uns offen liegen, aus dem später die Instinkte des theoretischen Menschen entstanden sind. Daß jemand lieber sterben will als alt und schwach im Geiste werden.

5 [94]

Mit dem Christenthum erlangte eine Religion das Obergewicht, welche einem vorgriechischen Zustand des Menschen entsprach: Glaube an Zaubervorgänge in allem und jedem, blutige Opfer, abergläubische Angst vor dämonischen Strafgerichten, Verzagen an sich selbst, ekstatisches Brüten und Halluciniren, der Mensch sich selber zum Tummelplatz guter und böser Geister und ihrer Kämpfe geworden.

5 [95]

Es wäre viel glücklicher noch gewesen, daß die Perser als daß gerade die Römer über die Griechen Herr wurden.

5 [96]

Der herrliche Sinn für Ordnung und Gliederung hat den Staat der Athener unsterblich gemacht. – Die zehn Strategen in Athen! toll! gar zu sehr ein Opfer auf dem Altar der Eifersucht.

5 [97]

Statut der Gesellschaft der Unzeitgemässen.

Jeder hat vierteljährlich einen schriftlichen Bericht über seine Thätigkeit einzusenden.

O. R. G. B. N.

5 [98]

Zur Einleitung der Gesammtherausgabe der Unzeitgemässen".

Die Entstehung zu schildern: meine Desperation wegen Bayreuth, ich sehe nichts mehr, was ich nicht voll Schuld weiss, ich entdecke bei tieferem Nachdenken, auf das fundamentalste Problem aller Cultur gestossen zu sein. Mitunter fehlt mir alle Lust fortzuleben. Aber dann wieder sage ich mir: wenn einmal gelebt sein soll, dann jetzt. – Straussen hielt ich eigentlich für mich für zu gering: bekämpfen mochte ich ihn nicht. Ein paar Worte Wagner's in Strassburg.

5 [99]

Wenn nun die Römer die griechische Cultur verschmäht hätten: sie wäre vielleicht radikal zu Grunde gegangen. Woran hätte sie wieder erwachen sollen? Christenthum und Römer und Barbaren – das wäre ein Ansturm gewesen. Völlig verwischt. Wir sehen die Gefahr, unter der das Genie lebt. Cicero ist so schon einer der größten Wohlthäter der Menschheit. – Es giebt für das Genie keine Vorsehung: nur für die gewöhnlichen massenhaften Menschen und ihre Nöthe giebt es so etwas; sie finden ihre Befriedigung, später ihre Rechtfertigung.

5 [100]

Aus der gegenseitigen Todtfeindschaft erwächst die griechische πολις, und das αιεν αοιστευειν. Hellenisch und philantropisch waren Gegensätze, obschon die Alten genug sich geschmeichelt haben.

5 [101]

Homer, in der Welt der hellenischen Zwietracht, der panhellenische Grieche.

Der Wettkampf der Griechen zeigt sich auch im Symposion, in der Form des geistreichen Gesprächs.

5 [102]

Das Genie macht alle Halbbegabten tributpflichtig: so schickten Perser selbst ihre Gesandtschaften an die griechischen Orakel.

5 [103]

Zu einem griechischen Polytheismus gehört viel Geist; es ist freilich sparsamer mit dem Geist umgegangen, wenn man nur einen <Gott> hat.

5 [104]

Die Moral beruht nicht auf der Religion, sondern auf der πολις.

Es gab nur Priester einzelner Götter, nicht Vertreter der ganzen Religion: also keinen Stand. Ebenfalls keine heilige Urkunde.

5 [105]

Die "leichtlebenden Götter" ist die höchste Verschönerung, die der Welt zu Theil geworden ist; im Gefühl wie schwer es sich lebt.

5 [106]

Ob es viele begabte Philologen gegeben hat? Ich zweifle; denn zu langsam bricht sich die Vernunft bei ihnen Bahn (Handschriften zählen usw.) – Wort- und Sach-philologie – dummer Streit! – und dann die übertriebene Schätzung irgend eines klugen Mannes unter ihnen!

5 [107]

Das Humanistische ist von Karl dem Großen mächtig angepflanzt worden, während er gegen das Heidnische mit den härtesten Zwangsmitteln vorgieng. Die antike Mythologie wurde verbreitet, die deutsche wie ein Verbreden behandelt. Ich glaube, hier lag das Gefühl zu Grunde, daß das Christenthum eben schon fertig geworden sei mit der antiken Religion: man fürchtete sie nicht, aber benutzte die auf ihr ruhende Cultur des Alterthums. Die deutsche Götterwelt fürchtete man. – Eine große Äußerlichkeit in der Auffassung des Alterthums, fast nur die Schätzung seiner formalen Fertigkeiten und seiner Kenntnisse, muß hier gepflanzt worden sein. Es sind die Mächte zu nennen, die einer Vertiefung der Einsicht ins Alterthum im Wege gestanden haben. Zunächst 1) wird die alterthümliche Cultur als Reizmittel zur Annahme des Christenthums benutzt: es ist gleichsam das Draufgeld für die Bekehrung. Die Versüßung beim Einschlürfen jenes Giftes. Dann war man der Hülfsmittel der antiken Cultur benöthigt, 2) als Waffen zum geistigen Schutz des Christenthums. Selbst die Reformation konnte die klassischen Studien in diesem Sinne nicht entbehren. Dagegen beginnt nun die Renaissance mit reinerem Sinne die klassischen Studien, aber durchaus auch im christenfeindlichen; sie zeigt ein Erwachen der Ehrlichkeit im Süden, wie die Reformation im Norden. Vertragen konnten sie sich freilich nicht, denn ernstliche Neigung zum Alterthum macht unchristlich. Es ist der Kirche im Ganzen gelungen, den klassischen Studien eine unschädliche Wendung zu geben: der Philologe wurde erfunden, als Gelehrter, der im übrigen Priester oder sonst so etwas ist: und auch im Bereiche der Reformation gelang es, den Gelehrten ebenfalls zu castriren. Deshalb ist Friedrich August Wolf merkwürdig, weil er den Stand von der Zucht der Theologie befreite: aber seine That wurde nicht völlig verstanden, denn ein angreifendes aktives Element, wie es den Poeten-Philologen der Renaissance anhaftet, wurde nicht entwickelt. Die Befreiung kam der Wissenschaft, nicht den Menschen zu Gute.

5 [108]

Das Unvolksthümliche der neuen Renaissance-Kultur! Eine furchtbare Thatsache!

5 [109]

Was ist nun jetzt noch das Alterthum, gegenüber moderner Kunst und Wissenschaft und Philosophie? Nicht mehr die Schatzkammer aller Kenntnisse, in Natur- und Geschichtskenntniß ist es überwunden. Die Unterdrückung durch die Kirche ist gebrochen. Es ist jetzt eine reinere Kenntniß des Alterthums möglich, aber auch wohl eine wirkungslosere, schwächere? – Das ist richtig: wenn man die Wirkung nur als Massenwirkung kennt; aber für die Erzeugung der größten Geister ist das Alterthum mehr wie je kräftig. Goethe als deutscher Poet-Philolog; Wagner als noch höhere Stufe: Hellblick für die einzig würdige Stellung der Kunst; nie hat ein antikes Werk so mächtig gewirkt, wie die Oresteia auf Wagner. Der objektive-kastrirte Philolog, der im übrigen Bildungsphilister und Kulturkämpfer ist, und daneben reine Wissenschaft treibt, ist freilich eine traurige Erscheinung.

5 [110]

Bentley war zugleich defensor fidei; und Scaliger war freilich ein Feind der Jesuiten, und sehr angegriffen.

5 [111]

Zwischen unsrer höchsten Kunst und Philosophie und zwischen dem wahrhaft erkannten ältern Alterthum ist kein Widerspruch: sie stützen und tragen sich. Hier liegen meine Hoffnungen.

5 [112]

Es giebt Gebiete, wo die ratio nur Unfug anrichten wird, und der Philolog, der nichts weiter hat, damit verloren ist und nie die Wahrheit sehen kann, z. B. bei Betrachtung der griechischen Mythologie. Natürlich hat ein Phantast auch noch keinen Anspruch: man muß griechische Phantasie und etwas von griechischer Frömmigkeit haben. Selbst der Dichter braucht in sich nicht consequent zu sein: überhaupt ist Consequenz das Letzte, wozu sich die Griechen verstehen würden.

5 [113]

Fast alle griechischen Gottheiten sind angesammelte, eine Schicht wieder über der andern, bald verwachsen, bald nothdürftig verkittet. Dies wissenschaftlich auseinanderzuklauben scheint mir kaum möglich: denn dafür kann es keine gute Methode geben: der elende Schluß der Analogie ist hier schon ein sehr guter Schluß.

5 [114]

Wie fern muß man den Griechen sein, um ihnen eine solche bornirte Autochthonie zuzutrauen wie O. Müller! Wie christlich, um mit Welcker die Griechen für ursprüngliche Monotheisten zu halten! Wie quälen sich die Philologen mit der Frage ab, ob Homer geschrieben habe, ohne den viel höheren Satz zu begreifen, daß die griechische Kunst eine lange innere Feindseligkeit gegen Schriftwesen hatte und nicht gelesen werden wollte.

5 [115]

Die Griechen waren von der Lust zu fabuliren gräßlich geplagt. Gar im Alltagsleben war es schwer, sie vom "mythischen", vom Schwindeln fernzuhalten: wie alles Poetenvolk eine solche Lust zur Lüge hat, nebst der Unschuld dazu. Die benachbarten Völker fanden das wohl verzweifelt.

5 [116]

Auf Bergen zu wohnen, viel Reisen, schnell von der Stelle zu kommen – darin kann man sich jetzt schon den griechischen Göttern gleichsetzen. Wir wissen auch das Vergangne und beinahe das Zukünftige. Was ein Grieche sagen würde, wenn er uns sähe? –

5 [117]

Die Götter machen den Menschen noch böser; so ist Menschennatur. Wen wir nicht mögen, von dem wünschen wir, daß er schlechter werde und freuen uns dann. Es gehört dies in die düstere Philosophie des Hasses, die noch nicht geschrieben ist, weil sie überall das pudendum ist, das jeder fühlt.

5 [118]

Der Panhellene Homer hat seine Lust an der Leichtfertigkeit der Götter; aber erstaunlich ist, wie er ihnen wieder Würde geben kann. Dieses ungeheure Sich-Aufschwingen ist aber griechisch.

5 [119]

Thukydides über den Staat.

Das tyrannische Element in jedem Aristokraten großgenährt: das verräth sich in den Gebeten (Xenophon Socrates). Sie hielten sich gegenseitig in Schranken: das Volk hielt wieder alle zusammen in Schranken, so gut es gieng.

5 [120]

Woher stammt nun der Neid der Götter? man glaubt nicht an ein ruhend stilles Glück, sondern nur an ein übermüthiges. Es muß den Griechen schlecht zu Muthe gewesen sein, allzu leicht verwundet war ihre Seele: es erbitterte sie, den Glücklichen zu sehen. Das ist griechisch. Wo es ein ausgezeichnetes Talent gab, da mag die Schaar der Eifersüchtigen ungeheuer groß gewesen sein: traf jenes ein Unglück, so sagte man aha! der war auch zu übermüthig". Und jeder hätte ebenso sich benommen, wenn er das Talent gehabt hätte, übermüthig; und jeder hätte gern etwas den Gott gespielt, der das Unglück schickt.

5 [121]

Die griechischen Götter verlangten keine Sinnesänderung und waren überhaupt nicht so lästig und zudringlich: da war es auch möglich, sie ernst zu nehmen und zu glauben. Zu Homer's Zeiten war das griechische Wesen übrigens fertig: Leichtfertigkeit der Bilder und der Phantasie ist nöthig, um das übermäßig leidenschaftliche Gemüth etwas zu beschwichtigen und zu befreien. Spricht bei ihnen der Verstand, o wie herbe und grausam erscheint das Leben! Sie täuschen sich nicht. Aber sie umspielen das Leben mit Lügen: Simonides rieth, das Leben wie ein Spiel nehmen: der Ernst war ihnen als Schmerz zu bekannt. Das Elend der Menschen ist den Göttern ein Genuß, wenn ihnen davon gesungen wird. Das wußten die Griechen, daß einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genuße werden könne, vide tragoediam.

5 [122]

Das eigentlich wissenschaftliche Volk, das Volk der Litteratur, sind die Aegypter und nicht die Griechen. Was wie Wissenschaft bei den Griechen aussieht, stammt daher und später kehrt es nach Aegypten zurück, um sich mit dem alten Strome wieder zu vereinigen. Alexandrinische Cultur ist eine Verquickung von Hellenisch und Aegyptisch: und wenn die neuere Welt an die Cultur der Alten anknüpft, dann hat sie – – –

5 [123]

Der Seher muß liebevoll sein, sonst hat er kein Vertrauen bei den Menschen: v. Kassandra.

5 [124]

Klassische Philologie ist der Herd der flachsten Aufklärung: immer unehrlich verwendet, allmählich ganz wirkungslos geworden. Ihre Wirkung ist eine Illusion mehr am modernen Menschen. Eigentlich handelt es sich nur um einen Erzieher-Stand, der nicht aus Pfaffen besteht: hier hat der Staat sein Interesse daran.

Ihr Nutzen ist vollständig aufgebraucht; während z. B. Geschichte des Christenthums noch ihre Kraft zeigt.

5 [125]

Aus den Reden über Philologie, wenn sie von Philologen stammen, erfährt man nichts, es ist die reinste Schwätzerei z. B. Jahn („Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland"). Gar kein Gefühl, was zu vertheidigen, was zu schützen ist: so reden Leute, die noch gar nicht darüber nachgedacht haben, daß man sie angreifen könnte.

5 [126]

Es ist gar nicht wahr, daß die Griechen nur auf dieses Leben ihre Blicke gerichtet hatten. Sie litten auch an der Todes- und Höllenangst. Aber keine Reue und Zerknirschung.

5 [127]

„Die frevelhafte gegenseitige Zernichtung (unvermeidlich, so lange noch eine einzige πολις leben wollte), ihr Neid gegen alles Höhere, ihre Habsucht, die Zerrüttung ihrer Sitte, die Sklavenstellung für die Frau, die Gewissenlosigkeit im Eidschwur, in Mord und Todschlag." B<urckhardt>.

5 [128]

Ungeheure Kraft der Selbstüberwindung z. B. im Bürger, in Sokrates, der zu allem Bösen fähig war.

5 [129]

Die Eigenschaften des Genialen ohne die Genialität treffen wir bei dem Durchschnittshellenen, im Grunde alle die gefährlichsten Eigenschaften des Gemüths und des Charakters.

5 [130]

Der „Dulder" ist hellenisch. Prometheus, Herakles.

Der Heroenmythus ist panhellenisch geworden; dazu gehörte freilich ein Dichter.

5 [131]

Wagner bildet die innere Phantasie des Menschen aus; spätere Generationen werden Zeugen von Bildwerken sein. Die Poesie muß der bildenden Kunst voran gehen.

5 [132]

„Klassische Bildung"! Was sieht man darin! Ein Ding, das nichts wirkt außer – Befreiung von militärischen Lasten und Doktortitel!

5 [133]

Den Stand der Philologen als Problem zu empfinden.

5 [134]

Wagner ehrt seine Kunst viel zu hoch, um sich in einen Winkel zu stecken wie Schumann. Entweder unterwirft er sich dem Publikum (Rienzi) oder er unterwirft es sich. Er züchtet es heran. Auch die Kleinen wollen ein Publikum, aber sie suchen es durch unkünstlerische Mittel, etwa Presse, Hanslick usw.

5 [135]

Philologen, die von ihrer Wissenschaft reden, rühren nie an die Wurzeln, sie stellen nie die Philologie als Problem hin. Schlechtes Gewissen? oder Gedankenlosigkeit?

5 [136]

"Aufklärung" und alexandrinische Bildung ist es – besten Falls! -, was Philologen wollen. Nicht Hellenenthum.

5 [137]

Die Consequenz, die man am Gelehrten schätzt, ist den Griechen gegenüber Pedanterie.

5 [138]

Klassische Bildung! Ja wenn es nur wenigstens soviel Heidenthum wäre, wie viel Goethe an Winckelmann fand und verherrlichte – es war nicht gar zu viel. Aber nun das ganze unwahre Christenthum unserer Zeiten mit dazu, oder mitten darunter – das ist mir zu viel und ich muß mir helfen, indem ich meinen Ekel einmal darüber auslasse. – Man glaubt förmlich an Zauberei, in Betreff dieser "klassischen Bildung"; aber natürlich müßten doch die, welche das Alterthum noch am meisten haben, auch diese Bildung am meisten haben, die Philologen: aber was ist an ihnen klassisch!

5 [139]

Früher schrieb man dem Teufel oder bösen Geistern seine Anfechtungen und Lüste zu: das gilt jetzt als Mährchen. So wird es auch ein Mährchen sein, einem Gotte seine guten Regungen und Erfolge zu danken. Beides sind Erleichterungen, man machte sich's damit bequem. Zu beweisen, wie bei der Religion ganz vornehmlich für die Bequemlichkeit gesorgt worden ist: nahe und bereite Ausreden und Ausflüchte.

5 [140]

Fünfjähriges Schweigen. Schüler Pfleger Erzieher.

5 [141]

Was ist Begabung? – Ein hohes Ziel und die Mittel dazu zu wollen.

5 [142]

Philologen sind solche Menschen, welche das dumpfe Gefühl der modernen Menschen über ihr eigenes Ungenügen benutzen, um darauf hin Geld und Brod zu erwerben.

Ich kenne sie, ich bin selber einer.

5 [143]

Die deutschen Gelehrten und sogenannten Denker, der wirklichen Geschichte fernstehend, haben die Geschichte zu ihrem Thema gemacht und, als geborene Theologen, den Nachweis ihrer Vernünftigkeit versucht. Ich fürchte, eine spätere Zeit wird als die heilloseste Mitgift diesen deutschen Beitrag zur europäischen Cultur erkennen: ihre Geschichte ist falsch!

5 [144]

Wir behandeln unsre Jünglinge als seien sie unterrichtete gereifte Männer, wenn wir ihnen die Griechen vorführen. Was eignet sich denn vom griechischen Wesen überhaupt für die Jugend? Zuletzt bleibt's gar beim Formalen, Einzelnes vorzuführen. Sind das Betrachtungen für junge Leute? –

Die beste und höchste Gesammtvorstellung von den Alten bringen wir doch den jungen Leuten entgegen? Oder nicht? Das Lesen der Alten wird so betont.

Ich glaube, die Beschäftigung mit dem Alterthum ist in eine falsche Stufe des Lebens verlegt. Ende der zwanziger fängt es an zu dämmern.

5 [145]

Alle Schwierigkeiten des historischen Studiums einmal durch das größte Beispiel zu verdeutlichen.

In wiefern unsre Jünglinge nicht zu den Griechen passen.

Folgen der hodmüthige Anticipation

Philologie: Bildungsphilisterei

Überschätzung von Lesen und Schreiben Ungründlichkeit Entfremdung vom Volk und Volks-Noth.

Die Philologen selbst (und Historiker und Philosophen <und> Juristen, alles durchräuchert vom Dunste).

Es sind wirkliche Wissenschaften der Jugend beizubringen.

Ebenso wirkliche Kunst.

So wird auch, in höherem Leben, Verlangen nach wirklicher Historie dasein.

Philologe, Entstehung überhaupt und jetzt.

Die Jugend und der Philologe.

Die Folgen der Philologie.

Aufgabe für die Philologie: Untergang.

Die Inhumanität: selbst aus der Antigone, selbst aus der goethischen Iphigenie.

Der Mangel an Aufklärung.

Das Politische ist nicht für Jünglinge verständlich.

Das Dichterische – eine schlimme Anticipation.

5 [146]

Kritik der Entwicklung.

Falsche Annahme einer naturgemässen Entwicklung.

Die Entartung ist hinter jeder grossen Erscheinung her; in jedem Augenblick ist der Ansatz zum Ende da. Die Entartung liegt in dem leichten Nachmachen und Äusserlich-Verstehen der grossen Vorbilder: d. h. das Vorbild reizt die eitlern Naturen zum Nachmachen und Gleichmachen oder überbieten.

Die Kette von einem Genius zum andern ist selten eine gerade Linie: so zwischen Aeschylus und Sophocles keineswegs. Es lagen eine Masse Entwicklungswege nach Aeschylus noch offen; Sophocles schlug einen von ihnen ein.

Das Verhängnissvolle aller grossen Begabungen: sie reissen mit sich fort und veröden um sich, wie Rom in einer Einöde liegt. Viele Kräfte, embryonisch noch, werden so erdrückt.

Zu zeigen, wie überwiegend auch in Hellas die Entartung ist, wie selten und kurz das Grosse, wie mangelhaft (von der falschen Seite) geschätzt.

Wie steif müssen die Anfänge der Tragödie bei Thespis gewesen sein! d. h. die kunstmässigen Nachformungen der urwüchsigen Orgien. So war die Prosa erst sehr steif im Verhältniss zur wirklichen Rede.

Die Gefahren sind: man hat die Lust am Inhalte oder man ist gleichgültig gegen den Inhalt und erstrebt Sinnesreize des Klanges usw.

Das Agonale ist auch die Gefahr bei aller Entwicklung; es überreizt den Trieb zum Schaffen. – Der glücklichste Fall in der Entwicklung, wenn sich mehrere Genie's gegenseitig in Schranken halten.

Ob nicht sehr viele herrliche Möglichkeiten im Keime erstickt sind? Wer würde z. B. Theocrit noch zu seiner Zeit für möglich halten, wenn er nicht da wäre?

Die grösste Thatsache bleibt immer der frühzeitig panhellenische Homer. Alles Gute stammt doch von ihm her: aber zugleich ist er die gewaltigste Schranke geblieben, die es gab. Er verflachte, und deshalb kämpften die Ernstern so gegen ihn, umsonst. Homer siegte immer.

Das Unterdrückende der grossen geistigen Mächte ist auch hier sichtbar, aber welcher Unterschied: Homer oder eine Bibel als solche Macht!

Die Lust am Rausche, die Lust am Listigen, an der Rache, am Neide, an der Schmähung, an der Unzüchtigkeit – alles das wurde von den Griechen anerkannt, als menschlich, und darauf hin eingeordnet in das Gebäude der Gesellschaft und Sitte. Die Weisheit ihrer Institutionen liegt in dem Mangel einer Scheidung zwischen gut und böse, schwarz und weiss. Die Natur, wie sie sich zeigt, wird nicht weggeleugnet, sondern nur eingeordnet, auf bestimmte Culte und Tage beschränkt. Dies ist die Wurzel aller Freisinnigkeit des Alterthums; man suchte für die Naturkräfte eine mässige Entladung, nicht eine Vernichtung und Verneinung. – Das ganze System von neuer Ordnung ist dann der Staat. Er war nicht auf bestimmte Individuen, sondern auf die regulären menschlichen Eigenschaften hin construirt: es zeigt sich in seiner Gründung die Schärfe der Beobachtung und der Sinn für das Thatsächliche, besonders für das Typisch-Thatsächliche, was die Griechen zur Wissenschaft Historie Geographie usw. befähigte. Es war nicht ein beschränktes priesterliches Sittengesetz, welches bei der Gründung des Staates befahl. Woher haben die Griechen diese Freiheit? Wohl schon von Homer; aber woher hat er's? – Die Dichter sind nicht die weisesten und logisch gebildetsten Wesen; aber sie haben die Lust am einzeln Wirklichen jeder Art und wollen es nicht verneinen, aber doch so mässigen, dass es nicht alles todt macht.

5 [147]

Die Nothwendigkeit der Entladung, der χαθαοσις, ein Grundgesetz des griechischen Wesens.

Ansammlung und Entladung in gewaltsamen, zeitlich getrennten Stössen. Ob die Tragödie daher zu erklären?

5 [148]

Es müssen philosophische Köpfe darüber kommen und einmal die Gesammtabrechnung des Alterthums vorlegen. Sobald diese vorliegt, so wird es überwunden sein. Man ist viel zu stark mit allem Fehlerhaften, was uns quält, vom Alterthum abhängig, als dass man es noch lange milde behandeln wird. Die ungeheuerste Frevelthat der Menschheit, dass das Christenthum möglich werden konnte, so wie es möglich wurde, ist die Schuld des Alterthums. Mit dem Christenthum wird auch das Alterthum abgeräumt werden. – Jetzt ist es sehr nahe hinter uns, und gerecht zu sein gewiss nicht möglich. Es ist in der scheusslichsten Weise zur Unterdrückung benutzt worden und hat die religiöse Unterdrückung unterstützt, dadurch dass es sie mit „Bildung" maskirte. Der Hauptwitz war: "das Alterthum ist durch das Christenthum überwunden worden"! Dies war eine historische Thatsache und so wurde die Beschäftigung mit ihm unschädlich. Ja es ist so plausibel, die christliche Ethik "tiefer" zu finden als Socrates! Mit Plato konnte man es schon aufnehmen! Es ist eine nochmalige Wiederkäuung desselben Kampfes, der <sich> in den ersten Jahrhunderten schon abspielte. Nur dass jetzt ein ganz blasses Gespenst an Stelle des damals recht sichtbaren Alterthums getreten ist, und freilich auch das Christenthum recht gespenstisch geworden ist. Es ist ein Kampf nach der Entscheidungsschlacht, ein Nachzittern. Zuletzt sind alle die Mächte, aus denen das Alterthum besteht, im Christenthum in der rohesten Gestalt zu Tage getreten, es ist nichts Neues, nur quantitativ extraordinär.

5 [149]

Ach es ist eine Jammergeschichte, die Geschichte der Philologie! Die ekelhafteste Gelehrsamkeit, faules unthätiges Beiseitesitzen, ängstliches Unterwerfen. – Wer hat denn etwas Freies gehabt?

5 [150]

Der religiöse Cultus ist auf das Erkaufen oder das Erbetteln der Gunst der Gottheiten zurückzuführen. Es kommt darauf an, wo man ihre Ungunst fürchtet. – Also dort, wo man nicht einen Erfolg durch eigne Kraft erringen kann oder will, sucht man übernatürliche Kräfte: also zur Erleichterung der Lebensmühe. Wo man etwas nicht durch die That wieder gut machen will oder kann, bittet man die Götter um Gnade und Verzeihung, also zur Erleichterung des bedrängten Gewissens. Die Götter sind zur Bequemlichkeit der Menschen erfunden: zuletzt noch ihr Cultus die Summe aller Erholungen und Ergötzlichkeiten.

Man nehme sie hinweg: alle Lasten sind dann schwerer, und es giebt viel weniger Leichtigkeit. – Wo die Olympier zurücktraten, da war das griechische Leben düsterer. – Wo wir forschen und arbeiten, da feiern die Griechen Feste. Sie sind die Festefeiernden.

Sie sehen über sich die Götter nicht als Herren, sich nicht als Knechte, wie die Juden. Es ist die Conception von einer glücklicheren und mächtigeren Kaste, ein Spiegelbild der gelungensten Exemplare der eignen Kaste, also ein Ideal, kein Gegensatz des eignen Wesens. Man fühlt sich durchaus verwandt. Es besteht gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Man denkt vornehm von sich, wenn man sich solche Götter dichtet. Und so hat auch das Erbetteln und Erkaufen ihrer Gunst etwas Vornehmes. Es ist ein Verhältniss, wie von niederem zu höherem Adel; während die Römer eine rechte Bauernreligion haben, Ängstlichkeit gegen Kobolde und Spukereien.

5 [151]

Ich will mich so der Litteratur bemächtigen, daß ich z. B. die αναγνωοισις vergleiche die Prologe im Drama usw.

5 [152]

Entwurf für 18 Vorlesungen

  1. Kritik der Entwicklung, absoluter Werth.
  2. Unsre Verluste, Größe, Gründe des Verlustes.
  3. Einige Grundsätze für das Studium der Litteratur.
  4. Fälschungen. Litterarhistorische Mythologie.
  5. Die Kunstwerke für alle und die für einen bestimmten Kreis.
  6. Nichtgriechen und Griechen, geographische Betheiligung.
  7. Sklaven und ganz niedere Leute.
  8. Sehr vornehme Leute.
  9. Ehren bei Städten, Fürsten, Festen, Opfern usw. Tyrannen.
  10. Gruppen des Umgangs, desgleichen Strebens.
  11. Verbreitung durch Schülerthum.
  12. Abtrünnige Schüler.
  13. Persönliche Feindschaften, Wettkämpfe.
  14. Verschweigen.
  15. Geringschätzen und Nichtverstehen vom Früheren.
  16. Verbreitung durch Vortrag, Reisen, Buchhandel, Bibliotheken.
  17. Einfluß auf den Staat und bei Seite stehen.
  18. Todesarten.

5 [153]

Ein Fürst ist immer eine Karikatur, etwas überladenes; und wenn ein Volk den Fürsten noch nöthig hat, so ist es ein Beweis, daß der politische Trieb des Einzelnen noch zu schwach ist. Wer es besser gekostet, denkt mit Ekel an das Nach-oben-Blicken, und mit Bedauern an die, welche so sich stellen müssen, als ob sie „von oben" herab blickten.

5 [154]

Wenn ich sehe wie alle Staaten jetzt die klassische Bildung fördern, so sage ich „wie unschädlich muss sie sein!" Und dann "wie nützlich muss sie sein". Sie erwirbt diesen Staaten den Ruhm, die "freie Bildung" zu fördern. Nun sehe man die Philologen an, um diese "Freiheit" richtig zu taxiren.

5 [155]

Im religiösen Cultus ist ein früherer Culturgrad festgehalten, es sind „Überlebsel". Die Zeiten, welche ihn feiern, sind nicht die, welche ihn erfinden. Der Gegensatz ist oft sehr bunt. Der griechische Cultus führt uns in eine vorhomerische Gesinnung und Gesittung zurück, ist fast das älteste, was wir von den Griechen wissen; älter als die Mythologie, welche die Dichter wesentlich umgebildet haben, so wie wir sie kennen. – Kann man diesen Cult griechisch nennen? Ich zweifle. Sie sind Vollender, nicht Erfinder. Sie conserviren durch diese schöne Vollendung.

5 [156]

Auf immer trennt uns von der alten Cultur, dass ihre Grundlage durch und durch für uns hinfällig geworden ist. Eine Kritik der Griechen ist in sofern zugleich eine Kritik des Christenthums, denn die Grundlage im Geisterglauben, im religiösen Cultus, in der Naturverzauberung ist dieselbe. – Es giebt jetzt noch zahlreiche rückständige Stufen; aber sie sind schon im Begriff zu verfallen.

Dies wäre eine Aufgabe, das Griechenthum als unwiederbringlich zu kennzeichnen und damit auch das Christenthum und die bisherigen Fundamente unsrer Societät und Politik.

5 [157]

Aufgabe: der Tod der alten Cultur unvermeidlich: die griechische ist als Urbild zu kennzeichnen und zu zeigen, wie alle Cultur auf Vorstellungen ruht, die hinfällig sind.

Gefährliche Bedeutung der Kunst: als Bewahrerin und Galvanisirung abgestorbener und absterbender Vorstellungen. Der Historie, insofern sie uns in überwundene Gefühle zurückversetzen will. "Historisch" empfinden, "gerecht sein gegen Vergangenes" ist nur möglich, wenn wir zugleich darüber hinaus sind. Aber die Gefahr bei der hier geforderten Anempfindung ist gross: lassen wir doch die Todten ihre Todten begraben: so nehmen wir nicht selber Leichengeruch an.

5 [158]

Der Tod der alten Cultur.

1. Bisherige Bedeutung der Alterthumsstudien, unklar, lügnerisch.

2. Sobald sie ihr Ziel erkennen, verurtheilen sie sich zum Tode: denn ihr Ziel ist, die alte Cultur selbst als eine zu vernichtende zu beschreiben.

3. Sammlung aller der Vorstellungen, aus denen die hellenische Cultur herausgewachsen ist. Kritik der Religion, Kunst, der Gesellschaft, des Staates, der Sitte.

4. Die christliche ist mit verneint.

5. Kunst und Historie – gefährlich.

6. Ersetzung der Alterthumsstudien, die für die Jugenderziehung hinfällig geworden sind.

So ist die Aufgabe der Wissenschaft der Geschichte gelöst, und sie selber ist überflüssig geworden: wenn der ganze innerlich zusammenhängende Kreis vergangner Bestrebungen verurtheilt worden ist. An ihre Stelle muss die Wissenschaft um die Zukunft treten.

5 [159]

Der Lese- und Schreiblehrer und der Corrector sind die ersten Typen des Philologen.

5 [160]

Unsre Philologen verhalten sich zu wirklichen Erziehern, wie die Medizinmänner der Wilden zu wirklichen Ärzten. Welche Verwunderung wird eine ferne Zeit haben!

5 [161]

Alles mit Kritik.

2. Litteratur.

2. Religiöse Vorstellungen.

2. Sittliche Vorstellungen.

1. Erziehung.

1. Verkehr, der Geschlechter, der Länder usw. der Stände.

2. Staat.

1. Kunst der Sprache, Begriff des Gebildeten und Ungebildeten.

2. Die Philosophie und Wissenschaft.

1. Über klassische Philologie und das Alterthum in der neueren Zeit.

1. Über Griechen und Römer.

Nach 5 ½Jahren, d. h. Herbst 1875 – Ostern 81.

Ostern 82 + 7 ½ = 89 ½, z. B. 45-46 Jahre alt.

5 [162]

Die Dichter sind rückständige Wesen und eine Brücke zu ganz fernen Zeiten, eigentlich immer Epigonen. Sind sie also nöthig? Es ist ihnen vorzuwerfen, was der Religion vorzuwerfen ist, dass sie vorläufige Beruhigungen geben und etwas Palliativisches haben. Sie halten die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung zu arbeiten, indem sie selbst die Leidenschaft der Unbefriedigung aufheben und ableiten.

5 [163]

Die Mittel gegen Schmerz, welche die Menschen anwenden, sind vielfach Betäubungen. Religion und Kunst gehören zu den Betäubungen durch Vorstellungen. Sie gleichen aus und beschwichtigen; es ist eine Stufe der niedrigen Heilkunst seelischer Schmerzen. Beseitigung der Ursache des Leidens durch eine Annahme, z. B. wenn ein Kind gestorben, anzunehmen, es lebe noch, schöner, und es gebe einmal eine Vereinigung. So soll die Religion für den Armen da sein, mit ihrer Vertröstung.

Ist die Tragödie für den noch möglich, der keine metaphysische Welt glaubt? Man muss zeigen, wie auch das Höchste der bisherigen Menschheit auf dem Grund jener niederen Heilkunst gewachsen ist.

5 [164]

Wir sehen auf eine ziemliche Zeit Menschheit zurück; wie wird eine Menschheit einmal aussehen, welche auf uns ebenso fernher hinsicht? Welche uns noch ganz ertränkt findet in den Überbleibseln der alten Cultur. Welche nur im „Hülfreich und Gutsein" ihren Trost findet und alle andern Tröstungen abweist! – Wächst auch die Schönheit aus der alten Cultur heraus? Ich glaube, unsre Hässlichkeit hängt von unsern metaphysischen Überbleibseln ab; unsere Verworrenheit der Sitte, unsre Schlechtigkeit der Ehen usw. ist die Ursache. Der schöne Mensch, der gesunde und mässige und unternehmende Mensch formt um sich dann auch zum Schönen, zu seinem Abbild.

5 [165]

Im griechischen Götterwesen und Cultus findet man alle Anzeichen eines rohen und düstern uralten Zustandes, in dem die Griechen etwas sehr verschiedenes geworden wären, wenn sie drin verharren mussten. Homer hat sie befreit, mit der eigenthümlichen Frivolität seiner Götter. Die Umbildung einer wilden düstern Religion zu einer homerischen ist doch das grösste Ereigniss. Nun beachte man die Gegenströmungen, das Sich-offenbaren der alten Vorstellungen, das Ergreifen verwandter, ausländischer.

  1. Rohe und düstere Urzeiten. Fetischdienst. Menschenopfer usw. Todtenangst und Dienst.
  2. Schauspiele des Cultus.
  3. Spätere Regungen und Aufleben der ältesten düsteren Religion.
  4. Die Erleichterung und Frivolität der Religion. Die Dichter Joniens.
  5. Betäubungen und Ausflüchte gegen den Schmerz und die Schwierigkeiten des Lebens.
  6. Das Deuteln und Dichten am Mythus, das Versöhnen und Mengen.
  7. Der Unglaube.
  8. Die Kunst als rückständig und gegen die Aufklärung, im Ganzen wirkend.
  9. Der Staat sucht sein Fundament, im Religiösen. Ebenso die Gesellschaft.
  10. Die Religion, um das Volk zu unterhalten, gegen Noth und Langeweile zu bewahren.

Cultus.

  1. Gebet. (Fluch, Eid.)
  2. Opfer.
  3. Ekstase und ihre Mittel. Mantik. Orakel. Beschwörung. Zauberei. Der Priester.
  4. Orientirung. (Tempelf<orm>)
  5. Reinigung. (Mysterie.)
  6. Complicirte Formen: Feste mit Schauspielen.
  7. Staatsculte.
  8. Gent<ile> Culte
  9. Häuslicher Cult
  10. d) Todtencult.

5 [166]

Über Religion.

I Die Liebe der Kunstgriff des Christenthums in seiner Vieldeutigkeit. (Die Geschlechtsliebe im Alterthum bei Empedokles rein gefaßt.)

II Die christliche Liebe, auf Grund der Verachtung.

III Die Thätigkeit des Christen im Gegensatz zu der buddhistischen Ruhe.

IV Keine Religion der Rache und Gerechtigkeit! die Juden das schlechteste Volk.

V Eingeschmuggelte Begriffe: stellvertretender Tod.

VI Der Priesterstaat. Heuchler. Abneigung gegen ernste Fassung aller Probleme. (Cultus Opfer, Zwingung der Götter.)

VII Die größte Versündigung am Verstand der Menschheit ist das historische Christenthum.

VIII Gott ganz überflüssig.

IX Der Untergang der Menschheit: nichts Ewiges.

X Verächtlichkeit aller Motive, Unreinheit des Denkens, Grundfehler aller Typen, Stände, Bestrebungen.

XI Entweder unter Illusionen allein leben: oder in der schwierigen Weise, ohne Hoffnung, ohne Täuschung, ohne Vorsehungen, ohne Erlösungen und Unsterblichkeiten: aber mit einem Blick erbarmensvoller Liebe gegen sich selbst. Scheidung zweier Weltbetrachtungen, die des Alltags und die der seltensten Augenblicke des Gefühls und des Denkens. (Verachtung und Liebe, Einsicht und Gefühl gleich mächtig.) Diese Fassung der Religion fordert die Wissenschaft (als Werkzeug der verachtungsvollen Einsicht in die Schwäche und Ziellosigkeit der Menschen). Sie nimmt immer zu, je höher die Erkenntniß der Welt steigt. – Der Kampf mit der Nothwendigkeit – das eine Princip des Lebens. Die Einsicht in das Täuschende aller Ziele und Erbarmen mit sich selbst – das andre.

5 [167]

Das Griechenthum durch die That zu überwinden wäre die Aufgabe. Aber dazu müßte man es erst kennen! – es giebt eine Gründlichkeit, welche nur der Vorwand der Thatenlosigkeit ist. Man denke, was Goethe vom Alterthum verstand; gewiß nicht soviel als ein Philologe und doch genug, um fruchtbar mit ihm zu ringen. Man sollte sogar nicht mehr von einer Sache wissen, als man auch schaffen könnte. Überdies ist es selbst das einzige Mittel, etwas wahrhaft zu erkennen, wenn man versucht es zu machen. Man versuche alterthümlich zu leben – man kommt sofort hundert Meilen den Alten näher als mit aller Gelehrsamkeit. – Unsre Philologen zeigen nicht, daß sie irgend worin dem Alterthum nacheifern – deshalb ist ihr Alterthum ohne Wirkung auf die Schüler.

Studium des Wetteifers (Renaissance, Goethe) und Studium der Verzweiflung!

5 [168]

Es liegt nicht viel an einem richtig emendirten Autor.

5 [169]

Das falsche Bild der Beschäftigung mit den Alten hemmt selbst die Besseren.

5 [170]

Die Wissenschaften werden vielleicht einmal von den Frauen betrieben: die Männer sollen geistig schaffen, Staaten Gesetze Kunstwerke usw.

5 [171]

Man soll das vorbildliche Alterthum nur studiren, wie man einen vorbildlichen Menschen studirt: also so viel man begreift, nachahmend, und wenn das Vorbild sehr fern ist, über die Wege und Vorbereitungen sinnend, und Mittelstadien erfindend.

Das Maaß des Studiums liegt darin: nur was zur Nachahmung reizt, was mit Liebe ergriffen wird und fortzuzeugen verlangt, soll studirt werden. Da wäre das Richtigste: ein fortschreitender Kanon des Vorbildlichen, angepaßt für jüngere junge und ältere Menschen.

5 [172]

In der Art hat Goethe das Alterthum ergriffen: immer mit wetteifernder Seele. Aber wer sonst? Man sieht nichts von einer durchdachten Pädagogik dieser Art: wer weiß, daß es Erkenntnisse des Alterthums giebt, die Jünglingen unmittheilbar sind!

5 [173]

Der knabenhafte Charakter der Philologie: für Schüler von Lehrern erdacht.

5 [174]

Immer allgemeinere Gestalt des Vorbildlichen: erst Menschen, dann Institutionen, endlich Richtungen Absichten oder deren Mangel.

Höchste Gestalt: Überwindung des Vorbildes mit dem Rückgange von Tendenzen zu Institutionen, von Institutionen zu Menschen.

5 [175]

Die Förderung einer Wissenschaft auf Unkosten der Menschen ist die schädlichste Sache von der Welt. Der verkümmerte Mensch ist ein Rückschritt der Menschheit; er wirft in alle Zeit hinaus seinen Schatten. Es entartet die Gesinnung, die natürliche Absicht der einzelnen Wissenschaft: sie selber geht daran endlich zu Grunde; sie steht gefördert da, wirkt aber nicht, oder unmoralisch auf das Leben.

5 [176]

Menschen nicht als Sache benutzen!

5 [177]

Von der sehr unvollkommenen Philologie und Kenntniß des Alterthums gieng ein Strom von Freiheit aus, unsere hochentwickelte knechtet und dient dem Staatsgötzen.

5 [178]

Je besser der Staat eingerichtet ist, desto matter die Menschheit.

Das Individuum unbehaglich zu machen: meine Aufgabe!

Reiz der Befreiung des Einzelnen im Kampfe!

Die geistige Höhe hat ihre Zeit in der Geschichte, vererbte Energie gehört dazu. Im idealen Staat ist es damit vorbei.

5 [179]

Die geistige Cultur Griechenlands eine Aberration des ungeheuren politischen Triebes nach αοιοτευειν. – Die πολις höchst ablehnend gegen neue Bildung. Trotzdem existirte die Cultur.

5 [180]

Höchstes Urtheil über das Leben nur aus der höchsten Energie des Lebens, der Geist muß am weitesten von der Mattheit entfernt sein.

In der mittleren Weltgeschichte wird das Urtheil am richtigsten sein, weil da die größten Genien existiren.

Erzeugung des Genius als des Einzigen, der das Leben wahrhaft schätzen und verneinen kann.

5 [181]

Walter Scott liebte die Gesellschaft, weil er erzählen wollte; er übte sich, wie ein Virtuose sieben Stunden Klavier übt.

5 [182]

Rettet euren Genius! soll den Leuten zugerufen werden, befreit ihn! Thut alles, um ihn zu entfesseln!

5 [183]

Die Matten, geistig Armen dürfen über das Leben nicht urtheilen.

5 [184]

Wenn gute Freunde usw. mich loben, so bin ich öfter aus Höflichkeit und Wohlwollen scheinbar erfreut und dankbar; aber in Wahrheit ist es mir gleichgültig. Mein eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und ist keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten wo es liegt herauszuwälzen. – Aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute.

5 [185]

Man muß von der Zukunft der Menschheit nicht erwarten, was bestimmte Vergangenheiten erzeugten z. B. die Wirkungen des religiösen Gefühls. Vielleicht ist der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellekts möglich, mit der es vorbei ist. Selbst die Höhe der Intelligenz ist vielleicht einem Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen. Ungeheure Energie des Willens, auf geistige Bestrebungen übertragen (aberration) – nur möglich, so lange jene Wildheit und Energie groß gezüchtet war. Dem Ziel der Menschheit kommt sie vielleicht auf der Mitte ihres Weges näher als am Ende. – Es könnten Kräfte, von denen die Kunst bedingt ist, aussterben z. B. die Lust am Lügen, am Undeutlichen Symbolischen usw., auch der Rausch könnte in Mißachtung kommen. Und im Grunde: ist das Leben im idealen Staate geordnet, dann ist keine Dichtung der Gegenwart mehr möglich: besten Falls blickt sie mit Sehnsucht zurück, nach den Zeiten des unidealen Staates.

5 [186]

Kindheit und Knabenalter hat sein Ziel in sich, ist nicht Stufe.

5 [187]

Ich wünsche ein Buch über die Lebensweise der Gelehrten.

5 [188]

Ziele.

Der Werth des Lebens kann nur durch den höchsten Intellekt und das wärmste Herz gemessen werden.

Wie sind die höchsten Intelligenzen zu erzeugen? –

Die Ziele der menschlichen Wohlfahrt im Groben sind ganz andre: als die höchste Intelligenz zu erzeugen. Das Wohlleben gilt viel zu hoch und ist ganz äußerlich genommen, auch die Schule und die Erziehung.

Der ideale Staat, den die Socialisten träumen, zerstört das Fundament der großen Intelligenzen, die starke Energie.

Wir müssen wünschen, daß das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte, daß wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden. Das Urtheil über den Werth des Daseins ist das höchste Resultat der kräftigsten Spannung im Chaos.

Nun will das wärmste Herz Beseitigung jenes gewaltsamen, wilden Charakters; während es doch selbst aus ihm hervorgieng! Es will Beseitigung seines Fundaments! Das heißt, es ist nicht intelligent.

Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in Einer Person zusammen sein. Die höchste Intelligenz ist höher als alle Güte, auch diese ist nur etwas bei der Gesammtrechnung des Lebens Abzuschätzendes, der Weise steht darüber.

Der Weise muß den Gedanken der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an der Wiedererzeugung seines Typus liegt. Mindestens kann er nicht den idealen Staat fördern. – Christus förderte die Verdummung der Menschen, er hielt die Erzeugung des großen Intellekts auf. Consequent! Sein Gegenbild würde vielleicht der Erzeugung von Christus' hinderlich sein. – Fatum tristissimum generis humani!

5 [189]

Procemium

Wäre ich schon frei, so würde ich das ganze Ringen nicht nöthig haben, sondern mich zu einem Werke oder Thun wenden, an dem ich meine ganze Kraft erproben könnte. – Jetzt darf ich nur hoffen, allmählich frei zu werden; und ich spüre bis jetzt, daß ich es immer mehr werde. So kommt auch wohl mein Tag der eigentlichen Arbeit noch, und die Vorbereitung zu den olympischen Spielen ist vorüber.

5 [190]

Es steht mir noch bevor, Ansichten zu äußern, welche als schmählich für den gelten, welcher sie hegt; da werden auch die Freunde und Bekannten scheu und ängstlich werden. Auch durch dies Feuer muß ich hindurch. Ich gehöre mir dann immer mehr. –

5 [191]

Wer zum Bewußtsein über die Erzeugung des Genies käme und die Art, wie die Natur verfährt, auch praktisch durchführen wollte, würde so böse und so rücksichtslos wie die Natur selbst sein müssen.

5 [192]

Ich finde Xenophons Memorabilien sehr interessant. Man muß Sokrates' Vorbild noch anerkennen: es ist sofort noch nachahmbar. Die ανδοαποδισται εαυτων stechen mich.

5 [193)

Platon's Sokrates ist im eigentlichen Sinne eine Carricatura, eine Überladung.

5 [194]

Mißhandelt die Menschen, treibt sie zum Äußersten, und das durch Jahrtausende – da springt, durch eine Verirrung der Natur, durch einen abspringenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal der Genius hervor. – So redet die Geschichte zu mir. Schreckliches Gesicht! Weh! Ich ertrag' dich nicht! –

5 [195]

Die Griechen der Kaiserzeit sind matt und nehmen sich ganz gut als Typen der zukünftigen Menschheit aus. Sie erscheinen menschenfreundlich, namentlich gegen Rom, verabscheuen Gladiatorenkämpfe usw. – Es ist ganz falsch, von da aus Schlüsse auf ihre Jugendzeit zu machen.

5 [196]

Homer ist in der vermenschlichten Götterwelt so zu Hause und hat als Dichter ein solches Behagen, daß er tief unreligiös gewesen sein muß. Er verkehrt wie der Bildhauer mit seinem Thon und Marmor.

5 [197]

Die griechische Polis ist ausschließend gegen die Bildung, ihr politischer Trieb war auf dieser Seite höchst lähmend und stabilisirend. Es sollte keine Geschichte kein Werden in der Bildung sein, sie sollte ein für allemal fest sein. So wollte es später auch Plato. Trotz der Polis entstand die höhere Bildung: indirekt sogar durch sie, weil der Ehrgeiz des Individuums durch sie aufs Höchste gehoben wurde. Gerieth ein Grieche auf die geistige Auszeichnung, so ging er bis in's letzte Extrem.

5 [198]

Urbevölkerung griechischen Bodens: mongolischer Abkunft mit Baum- und Schlangenkult. Die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt. Hier und da Thrakier. Die Griechen haben alle diese Bestandtheile in ihr Blut aufgenommen, auch alle Götter und Mythen mit (in den Odysseusfabeln manches Mongolische). Die dorische Wanderung ist ein Nachstoß, nachdem schon früher alles allmählich überfluthet war. Was sind "Rassegriechen"? Genügt es nicht anzunehmen, daß Italiker mit thrakischen und semitischen Elementen gepaart Griechen geworden sind?

5 [199]

Denkt man an die ungeheure Masse von Sklaven auf dem Festlande, so waren Griechen immer nur sporadisch zu finden. Eine höhere Kaste von Nichtthuern Politikern usw. Ihre Feindschaften hielten sie in leiblicher und geistiger Spannung. Sie mußten ihre Superiorität an Qualität festhalten – das war ihr Zauber über die Massen.

5 [200]

Die Rede des Perikles ein großes optimistisches Trugbild, die Abendröthe, bei der man den schlimmen Tag vergißt – die Nacht kommt hinterdrein.


 << zurück weiter >>