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Buchschmuck

Siebzehntes Kapitel.

Es war Markt in Frederiksborg.

Anine stand am Fenster und sah auf die Straße hinaus, wo die Landleute scharenweise hin und her eilten.

Nein, aber –! sie wich vom Fenster zurück.

Gleich darauf trat Jens Ludwig verlegen und mit dunkelrotem Gesicht in das Zimmer.

Guten Tag, Anine! Seine Hand zitterte, als er sie ihr reichte. Ja – ich habe es erfahren – Tante hat es mir geschrieben; ich bin derselben Ansicht wie sie – ich meine auch, es ist so am besten, und jetzt komme ich, um dir recht von Herzen Glück zu wünschen.

Er verzog keine Miene dabei; aber die Thränen liefen ihm unaufhaltsam die Wangen herunter.

Ich danke dir, Jens Ludwig! sagte Anine, während ihr selbst die Thränen in die Augen traten.

Ja, sagte er aufs neue, ich glaube wirklich, es ist das Beste für dich. Ich selbst habe dich ja so innig lieb gehabt und habe dich immer noch unaussprechlich lieb, das darfst du mir glauben; aber gerade deshalb kann ich dir so von Herzensgrund Glück wünschen. Gott gebe, daß du recht, recht glücklich wirst!

Ich danke dir, Jens Ludwig, sagte sie wieder.

Er rieb aufgeregt die Hände ineinander und konnte kein Wort mehr hervorbringen.

Anine ging wieder an das Fenster und sah hinaus.

Denk dir, ich bin den ganzen Weg von Kopenhagen bis hierher zu Fuß gegangen, erzählte er ihr, nachdem er sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte, und jetzt bin ich müde, schrecklich müde. Aber nun bleibe ich ein paar Tage hier und gehe dann weiter nördlich nach Nöddeboe und Gurre. Wie gefällt dir dieser Plan, Anine?

Sehr gut, Jens Ludwig, aber – ich glaube – ich muß dir sagen – ich erwarte nämlich Svend jeden Augenblick.

Das thut nichts – ich glaube wirklich nicht, daß es etwas thut; ich habe Svend Börgesen eigentlich recht gern.

Hier – das ist er sicher! sagte sie atemlos und sah nach der offenstehenden Thür.

Ja – im nächsten Augenblick trat er ein, mit strahlenden Augen, die Hand zum Gruß militärisch an die Schläfe erhoben.

Was? Guten Tag, Alter! grüßte er.

Jens Ludwig gab ihm die Hand, das Gespräch wollte jedoch nicht recht in Gang kommen.

Anine stand am Fenster und machte sich mit bebenden Fingern an einem Blumentopfe zu schaffen.

Svend ging zu ihr hin, faßte sie von hinten um den Leib und rief:

Guten Morgen, schone Jungfer Nielsen!

Sie wandte ihm das Gesicht zu und lächelte, wurde aber gleich wieder ernst und blickte bedeutsam zu Jens Ludwig hinüber.

Dieser war ganz bleich geworden; er saß unruhig auf seinem Stuhl und entfernte mit der Hand ein unscheinbares Stäubchen von seinem Knie.

Dann sprachen die beiden Verlobten eine Weile über ihre bevorstehende Hochzeit miteinander; sie von einer seltsamen Unruhe ergriffen, er von glücklichster Liebessehnsucht erfüllt.

Komm mit! bat er. Es ist so heiß und schwül im Zimmer, wir müssen ja auch verschiednes Küchengerät kaufen.

Was? Geht dort nicht Jens Ludwig! rief sie und deutete mit dem Finger auf die Straße hinaus.

Svend warf zuerst einen Blick auf die Straße, dann sah er sich im Zimmer um. So etwas ist mir aber doch noch nie vorgekommen! rief er.

Ohne ein Wort zu sagen, hatte sich Jens Ludwig zur Thür hinausgeschlichen, Strohhut, Stock und Reisetasche ergriffen, und jetzt war er, trotz aller Müdigkeit – auf dem Wege nach Nöddeboe.

Es thut mir so leid, so furchtbar leid für Jens Ludwig! seufzte Anine.

Warum denn?

Sie zögerte ein wenig. Wir waren sehr gute Freunde.

Das ist doch nicht wahr, Anine?

Doch – aber nur kurze Zeit.

Lange sagte er kein Wort. Das war also Nummer drei, preßte er endlich hervor.

Lieber Svend, ich glaube, du am allerwenigsten solltest irgend jemand eine Nummer geben.

In der ersten Zeit nach ihrer Wiederverlobung mit Svend hatte Anine überall Gespenster gesehen und war in tausend Ängsten herumgegangen. Jetzt war ein Monat seither verflossen, aber im Grunde war sie nicht ruhiger geworden; sie war immer von einer sonderbaren, entsetzlichen Angst erfüllt und konnte nachts nicht schlafen.

Sie gingen zusammen auf den Markt.

Das Treiben auf den Straßen, der Anblick der vielen frohen geputzten Menschen hatte Svend in die glücklichste Festlaune versetzt.

Auf einmal streckte sich ihm eine Hand entgegen, und eine junge schöne Frau, rosig und kindlich lächelnd, grüßte ihn mit treuherziger Redseligkeit.

Ich dachte doch, daß man sich hier treffen würde! Guten Tag Svend! Wie geht es dir? Gieb mir doch die Hand!

Von einer unerklärlichen Macht ihrer Augen angezogen gab er ihr die Hand, ärgerte sich jedoch im nächsten Augenblick darüber und wünschte sie weit fort mit all ihrer üppigen, verführerischen Kindlichkeit.

Er blickte auf die Seite – Anine war fort.

Das ist hübsch, daß man dich endlich wieder einmal getroffen hat, fuhr die kleine, freundliche Frau fort, und es schien beinahe, als ob sie sich wie eine Katze an ihn anschmiegen wollte. Wir haben uns doch früher so nahe gestanden.

Er schwieg und sah sich nur nach allen Seiten um.

Ach Gott ja, seufzte sie, es geht merkwürdig zu in dieser Welt! Mir geht es übrigens gut, und ich bin immer vergnügt. Wie geht es denn dir? Wer war denn das Mädchen, das bei dir war?

Das war Anine. – Er verstand selbst nicht, wie er sich nur einen einzigen Augenblick aufhalten und mit diesem Frauenzimmer sprechen konnte.

Ah so! Dann werdet ihr euch also heiraten?

Ja, wir sind schon aufgeboten.

Was der Tausend! Da hast du es ja sehr wichtig, um alles vorzubereiten zur ... ich hätte beinahe gesagt, zur Taufe, ich meinte aber zur Hochzeit, hihihi, hihihi! Wie geht es dir denn sonst? Hast du nicht Lust, mich einmal in Gilleleje zu besuchen? Ich wohne ganz allein und habe eine nette Wohnung mit Wohn- und Schlafzimmer und allem, was dazu gehört. Sage selbst, wohne ich nicht sehr hübsch? wandte sie sich an ein junges Mädchen, das mit ihr gekommen war.

Da drehte er sich mit einem Ruck auf die Seite und verschwand in der Menge.

Wie geht es dir sonst? fragte sie noch einmal, zugleich aber entdeckte sie, daß er verschwunden war.

Das ist doch recht langweilig, er ist immer noch böse auf mich, sagte sie darauf niedergeschlagen zu dem Mädchen. Ich habe ihn doch immer von Herzen gern gehabt. – Ach Gott ja! so geht es in der Welt! fügte sie seufzend hinzu. Wir wollen jetzt in den Tanzsaal gehen, ich selbst tanze aber nicht, das sage ich dir zum voraus bestimmt.

Als Svend wieder bei Bredals ankam, fand er Anine zitternd in einer Ecke sitzen.

Du liefst von mir fort, Anine.

Sie antwortete nicht.

Warum thatest du denn das?

Was sagst du?

Wir wollten ja Fässer und Küchengeräte kaufen!

Sie richtete ihre Augen auf sein Gesicht, sah ihn eine Weile stumm an und fragte dann mit sonderbar tonlosen hurtigen Worten: Das war sie wohl?

Er wagte es beinahe nicht, ja zu sagen, sie hatte einen so merkwürdigen Ausdruck im Gesicht.

Svend, fuhr sie fort, nachdem sie einige Minuten lang schwer geatmet hatte, es muß wieder aufgegeben werden.

Was muß aufgegeben werden?

Das zwischen uns beiden.

Du bist wohl von Sinnen, Anine!

Sie schwieg eine Weile, dann seufzte sie: Vielleicht, aber ich wage es eben nicht mehr.

Aber Anine! sagte er hart.

Dieser Gedanke ist mir nicht erst jetzt gekommen; schon hundertmal ist er in mir aufgestiegen. Damals, an jenem Morgen, bei der Quelle, da hast du mich überlistet.

Dann mußt du unsern Herrgott dafür anklagen. Ich gestehe dir ganz offen, ich hatte ihn unzählige male angefleht, er solle dich mit Gewalt mir wieder zuwenden; das hat er auch gethan, und nun lasse ich dich nicht wieder los, und wenn ich dich in die Kirche schleppen müßte!

Der Ton echter Männlichkeit, der aus seinen Worten klang, weckte ein leises Gefühl des Wohlbehagens in ihrem Herzen; aber wie ein ferner Wiederhall, schwach und klanglos, kam es wieder wie vorhin: Ich wage es eben nicht.

Du mußt! Er umschlang sie heftig und schaute ihr tief in die Augen.

Ich sage dir: Du mußt, du mußt!

Sie stieß einen Seufzer aus und sank auf den Stuhl zurück. Ja, sagte sie. Sie bebte am ganzen Körper.

Herr und Frau Bredal, die miteinander auf dem Jahrmarkt gewesen waren, traten jetzt in die Stube.

Guten Tag, guten Tag! ... Nun, was giebt es denn? fragte der Adjunkt und riß die Augen weit auf.

Anine will nichts mehr von unsrer Hochzeit wissen.

Frau Bredal sank entsetzt auf einen Stuhl nieder und hob jammernd die Hände zum Himmel empor.

Herr Bredal aber bekam einen roten Kopf und wandte sich an Anine: Ich will dir etwas sagen, Anine, sagte er sehr ernst, jetzt bin ich auf Svends Seite. Und jetzt wollen wir kein weiteres Wort mehr darüber verlieren. Am Freitag feiern wir die Hochzeit, hier in diesem Hause, und damit Punktum!

Ja! war das Einzige, was sie mit matter Stimme hervorbrachte. –

Eine schönere Braut als die braune Kohlenbrennermaid hatte vielleicht noch nie vor dem Altar in der Frederiksborger Schloßkirche gekniet.

Am Abend gegen elf Uhr fuhr das Brautpaar durch den Wald nach dem Hof auf der Alsingröder Markung. Ein leichter Kohlenduft drang von einem brennenden Meiler herüber.

So, Anine, sagte Svend, als sie allein waren, jetzt sind wir Mann und Frau.

Sie fiel ihm mit ihrer alten Heftigkeit um den Hals und wollte ihn nicht wieder loslassen; kein Wort kam über ihre Lippen, sie hielt ihn nur immer krampfhaft fest.

So, so, Anine! Nun laß mich los.

Bleib bei mir, Svend!

Ja, wo sollte ich denn hingehen?

Immer, meine ich.

Er drückte sie zärtlich an sich. Anine, jetzt trau mir doch wieder.

Anine war in der ersten Zeit nach ihrer Hochzeit in einem merkwürdig fieberhaften Glückszustand. Das beständige Zusammensein mit Svend, das Wirtschaften in diesem Hause, wo Elses Stimme so viele Jahre lang befohlen, das Bewußtsein des Glücks, der Pflicht und der Verantwortlichkeit bei jedem Schritt, dazu Elses scharfe, beobachtende Augen, die ihr überall hin folgten – das alles erschien ihr jeden Tag neu und wunderbar.

Die kleine, bleiche Lene Marie, die beinahe nur noch aus Haut und Knochen bestand, lehnte gleich ihr Köpfchen zutraulich an Aninens Arm und nahm die dritte Mutter mit dem ganzen Vertrauen eines kranken, pflegebedürftigen Kindes auf. Else sah scheel darein, aber Anine that, als ob sie es nicht merke, und pflegte das arme Geschöpfchen mit unermüdlicher Treue und Gewissenhaftigkeit.

Sie darf nicht bei Euch drüben in der feuchten, düstern Webstube sein, Mutter, erklärte Anine.

Was macht denn das dir aus?

Könnt Ihr denn nicht verstehen, daß sie so viel als möglich im Sonnenschein und in der frischen Luft sein sollte?

Täglich machte Anine mit der Kleinen einen Spaziergang an der Weide entlang, suchte vierblättrigen Klee mit ihr und richtete es immer so ein, daß Lene Marie ihn fand. Sie sprachen oft über die bunten Blumen auf den Wiesen, über den Storch und die Sterne und über alles Mögliche, das auf der Wiese und den Feldern zu sehen war, und diese kindlichen Zerstreuungen und lieben Gespräche umgaben des Kindes letzte Tage mit einem hellen Glücksschimmer.

Else wurde förmlich eifersüchtig, als sie merkte, wie sehr sich des Kindes Seele Anine zuneigte. Aber noch eine schlimmere Eifersucht wühlte in ihrem Gemüt, wenn sie daran dachte, wie Anine ihren Sohn vollständig für sich gewonnen hatte und auf dem besten Wege war, auch für sie die alte Heimat umzugestalten. Schon daß die junge Frau die Fenster mit Vorhängen schmückte, eine gestickte Zeitungsmappe an die Wand hängte und mit Blumen gefüllte Vasen auf den Tisch und die Truhe stellte, war ihr ein Dorn im Auge, denn das Haus war früher auch immer in jeder Beziehung reinlich und sauber gewesen; aber am meisten litt sie darunter, daß Svend, so oft er von der Arbeit hereinkam, in Lobsprüche über Aninens Erfindungsgabe und Schönheitssinn ausbrach; solches Lob klang ihr dann wie ein Hohn auf die Art der frühem Wirtschaftsführung und Ordnung.

Manchmal saß sie sogar weinend an ihrem Webstuhl und beklagte ihr Schicksal; zu gleicher Zeit arbeitete sie aber doch unaufhörlich für ihn weiter. Sie konnte eben des Lebens hartes Gesetz nicht verstehen, diese anscheinend herzlose Schickung, die sie jetzt nach dreißigjährigem Kampf mit Hunger und Kummer und harter Arbeit auf die Seite schob, nur damit eine junge Frau an ihre Stelle treten konnte.

Der erste Schmerz, der die jungen Eheleute traf, war der Verlust der kleinen Lene Marie, des stillen, siechen Geschöpfchens, das endlich nach vielen und schweren Leiden dieses rätselhafte Dasein verlassen und in ein andres, besseres eingehen durfte.

Es wäre besser gewesen, ich wäre anstatt deiner gestorben! seufzte Else und streichelte das kleine, im Tode verklärte Gesichtchen.

Svend ging hinaus in den Stall, wo ihn niemand sehen konnte, und weinte sich dort aus.

Ach, es giebt so viel Schweres im Leben! sagte Anine, als er eines Tags mit rotgeweinten Augen hereinkam, so viel Schweres, an das wir niemals dachten, solange wir jung waren.

Jung? Wir sind doch noch jung?

Nein, Svend, wir sind nicht mehr jung.

Das war ein Schmerz, der sie beständig verfolgte und quälte: die Zeit der strahlenden Jugend war vorüber. Sie merkte es an ihrer Liebe, die von einer andern Art war als die, die in der ersten Mädchenzeit ihr Herz erfüllt hatte. Und das war so schwer. Ihr Lebensmut war auch nicht mehr, wie er früher gewesen war; nie, nie würde sie sich wieder so stolz und freudig fühlen wie damals! Aber ach! das Klagen konnte nichts nützen, und über was wollte sie sich denn auch eigentlich beklagen? Glücklich, wie sie jetzt war, und glücklich, wie sie es vollends wurde, als sie an einer Wiege neben ihrem Bette kniete.

Ein mildes, bescheidnes Wesen, abwechselnd fröhlich und wieder ernst, manchmal in schnellem Übergang von lustiger Plauderei zu tiefer, wehmütiger Schweigsamkeit, blieb ihr Svend gegenüber das ganze Leben hindurch eigen. Als sie schon Jahre lang verheiratet war, sah sie noch jedes Frauenzimmer, das ihr außerhalb ihrer vier Wände begegnete, scheu und mißtrauisch an.

Die lebenslustige, stets heitere Mille Brammer trat ihr mit der Zeit immer ferner, während ihr Frau Bredal mit jedem Jahre lieber und lieber wurde. Nie war ihr leichter ums Herz, als wenn die kleine, sanfte Frau mit dem leichten Schmerzenszug um den Mund zu ihr herauskam und mit ihr allein in der schönen Schlafstube saß, die Svend als einen Anbau an das Wohnhaus hatte herrichten lassen.

Ja, mein Kind, du darfst froh sein und Gott jeden Tag aufs neue danken, daß es so gegangen ist, wie es jetzt ist.

Ich bin dem lieben Gott auch sehr dankbar dafür.

Wie viele tragen ihr ganzes Leben lang eine heimliche, nie heilende Wunde in ihrem Herzen herum.

Freilich, seufzte Anine.

Ja, diese Wunde ist eben doch da, selbst wenn es aussieht, als ob diese Menschen ganz zufrieden mit ihrem Schicksal und glücklich seien; es kann doch ihr ganzes Leben im Grunde nur ein langes Leiden sein, weil inwendig etwas ist, das beständig nagt, etwas, das nie vergessen werden kann.

Anine ergriff ihre Hand und sah in ihre sanften, mit Thränen gefüllten Augen.

Aber wir beide, du und ich, wir dürfen Gott danken, fuhr Frau Bredal fort, während sie ihre Thränen trocknete und noch sanfter und milder aussah, wir haben allen Grund dazu, denn wir haben beide eine gute Heimat und unser gutes Auskommen und sind – und sind sehr glücklich. – Wie freue ich mich immer, wenn ich herauskomme und sehe, wie hübsch es bei dir ist, wie süß dein kleiner Junge ist, und wie lieb ihr, du und Svend, einander habt.

Gewiß, es geht uns gut; aber nun kommt der Storch bald zum zweitenmal.

Ach, was! Kinder sind eine Gabe Gottes. Du darfst froh sein, daß du so gesund bist, es geht dir ja übrigens ganz ausgezeichnet.

Nicht die Worte selbst waren es, sondern der Inhalt des Gesprächs, der immer tröstend und ermunternd auf Anine wirkte, und auch der Ton war es, der warme, ehrliche Herzenston, aus dem die ruhige Seelenstärke, die ihr ganzes Wesen bezeichnete, hervorklang. Wenn Madame Bredal dagewesen war, fühlte sich Anine immer noch lange nachher froh und lebenslustig.

Svend war auch wirklich sehr gut gegen sie. Sie merkte es wohl, wie er jeden Tag aufs neue mit freundlichen Mienen und zärtlichen Worten seine große Schuld gutmachen wollte, aber sie fühlte auch zugleich mit großer Befriedigung, daß er es that, weil seine Liebe ihn dazu drängte.

Im Laufe der Jahre füllte sich das Haus mit einer großen Kinderschar. Anine hatte alle Hände voll zu thun, um ihrem Hauswesen und ihren Kindern gerecht zu werden; sie fand immer weniger Zeit, ihren Grübeleien nachzuhängen, und ihr Herz fand endlich Ruhe bei den ernsten Pflichten und Gewohnheiten, die sie täglich zu erfüllen hatte.

Es ist merkwürdig, dachte sie oft, wie die Zeit doch alles zu ebnen vermag. So zum Beispiel die Geschichte mit Troels und ihrer Mutter. Zuerst konnte sie sich gar nicht in diese Heirat finden, und es war ihr im Anfang geradezu ekelhaft gewesen, wenn sie von dem verliebten Wesen der alten Frau Troels gegenüber Zeuge sein mußte; aber jetzt war sie ganz an diesen Anblick gewöhnt, und was war denn eigentlich dabei? Ihr Vater schlief darum ebenso gut unter der Erde, und Troels hatte die Heimat vom Untergang gerettet. Nun verkehrten die beiden Nachbarfamilien aufs freundlichste miteinander und waren sich gegenseitig von großem Nutzen.

Svend und Anine konnten wohl hie und da noch einmal aufbrausen und sich ein unüberlegtes Wort ins Gesicht werfen, aber im großen und ganzen genossen sie miteinander ein gleichmäßiges, ruhiges Glück. Svends rohe Naturkraft war im Kampfe geläutert worden und wurde es noch mehr im Umgang mit Anine, deren weiblicher Takt im Verein mit den guten Gewohnheiten des Hauses Bredal von großem erziehendem Einfluß auf ihn war. Selten fanden heftige Liebesausbrüche zwischen ihnen statt; die Gewohnheit des täglichen Zusammenlebens brachte es mit sich, daß sie die täglichen kleinen Liebesbeweise als etwas Selbstverständliches hinnahmen, als etwas, von dem man nicht viel Wesens zu machen brauchte. Wenn Svend aber je einmal von Hause abwesend war, entweder aus politischen Gründen oder in Sparkassenangelegenheiten, dann sehnten sie sich wie Kinder nacheinander, und wenn dann die Stunde des Wiedersehens kam, manchmal erst in später Nachtzeit, dann pochten beider Herzen in heißer Liebe und froher Erwartung. In Zeiten der Not, da lernten sie jedoch am besten verstehen, welchen Schatz eins am andern hatte, besonders in den bösen Tagen, wo ihre Kinderschar durch den Tod gelichtet wurde.

Ja, sie waren glückliche Menschen, das erkannten sie beide. Und doch konnte es sich manchmal wie ein Druck auf ihre Seele legen, wenn in heimlichen Augenblicken jeder für sich allein zugeben mußte, daß das Glück, das unermeßliche, überströmende Glück, von dem sie in ihrer Jugend geträumt hatten, sich nicht einstellte. War es das Alter, oder war es die Gewohnheit, sich jeden Tag zu besitzen, die Gefühle wollten nicht in heißer Glut brennen.

Nun, dachte Svend, die besten Kohlen sind die, die eine milde, gedämpfte und gleichmäßige Wärme ausstrahlen.

Mit dem Kohlenbrennen in Alsingröd – diesem früher ewig duftenden Waldbezirk, wo der Rauch seit den Zeiten des Mittelalters zwischen den Häusern aufgestiegen war – ging es mehr und mehr zurück. Die Gehölze waren verschwunden, und die Zeit brachte neue Aufgaben für die Bewohner, und selbst Svend Börgesen, der Nachkomme eines Geschlechts, das auf ganz Seeland das ausgeprägteste Kohlenbrennergeschlecht war, gab zuletzt das Kohlenbrennen auf.

Seine stolze Hoffnung, einmal in die Ständeversammlung zu kommen, ging zwar nicht in Erfüllung; aber mit seinem stark entwickelten Freiheitssinn, seinen verhältnismäßig reichen Kenntnissen und seiner Beredsamkeit erreichte er doch nach und nach eine hervorragende Stellung als Bauernvertreter in seinem Amt, und wie er einer der wenigen nordseeländischen Bauern war, die das Jahr 1848 mit Freude begrüßten, so war sein Herz immer an allen Kämpfen der Neuzeit beteiligt, solange er lebte.

In einer hellen Maiennacht war es, als Svend zum letztenmal als Kohlenbrenner wachte.

Anine kam zu ihm heraus und setzte sich neben ihn.

Das ist der letzte Meiler, Anine.

Beide sahen stillschweigend auf den rauchenden Hügel, in dessen Innerm es knisterte und krachte, und aus dem ab und zu eine Flammenzunge lodernd emporschlug.

Anine hatte sich in ein warmes Tuch gehüllt und rückte ganz nahe zu ihm hin.

Jedes saß in seine eignen Gedanken versunken da und ließ die lange Reihe der Erinnerungen, die dieser letzte Kohlenmeiler in ihnen erweckte, im Geiste vorüberziehen. Svend sah hinüber zum Gribwalde, der mit seinen Höhen und Tiefen in der vom Mondschein beleuchteten Gegend deutlich zu erkennen war, und wie mit einem Zauberschlag erstand die ganze Romantik seiner nächtlichen Jagdfahrten vor seiner Seele.

Ja – das war zu jenen Zeiten gewesen!

Er dachte daran, wie das Leben seiner Kindheit und ersten Jugend mit dem Leben des Waldes so innig verwachsen war, mit allen seinen Lichterscheinungen, mit allen seinen mannigfaltigen Tönen. In der sonntäglichen Stille des heißen Sommertags hatte er als Knabe im Walde die ersten Ahnungen von dem Glück des Traumlandes empfunden, und bei dem Brausen des Windes in den dunkeln Herbstnächten, bei dessen schaurigem Heulen in den tiefen Waldschluchten war ihm das erste Bewußtsein von dem Kampfe des Lebens aufgegangen. Er dachte daran, wie rasch er jeden Vogel an seinem Flug erkannt hatte, und wie frühzeitig seine Nase den feinen Geruch des Gaißblatts von dem tausendfältig zusammengesetzten Waldesduft unterschieden hatte, wie deutlich er die Nähe eines Fuchses von der Torfausdünstung des Moors unterscheiden konnte, wie scharf sein Ohr auf weite Entfernungen das Girren der Ringeltaube und das Knacken der Zweige unter den Tritten des Rotwilds vernahm – Duft und Laute, Bäume und Tiere, Stille und Sturm vereinigten sich in diesem Augenblick zu einer Welt, die die ganze Jugendkraft, die noch in ihm lebte, aufrüttelte, zu einem verlockenden Reich, in dem er mit vollen Zügen atmete.

Aber diese Zeiten kamen nie wieder!

Es ist so sonderbar, sagte Anine, wenn man daran denkt, daß wir das Kohlenbrennen nun ganz aufgeben.

Ja, es ist sonderbar. Die Meiler haben hier gebrannt, seit – ich weiß nicht, wie viel hundert Jahren, und nun ist dieser hier der letzte.

Der Meiler brannte seit drei Tagen und sollte nun gelöscht werden. Svend erhob sich, ergriff den Spaten und schloß sorgfältig alle Öffnungen, dann setzte er sich wieder neben Anine auf den Rasen.

Seine Gedanken gingen zurück, zu den alten Sagen des Kohlenbrennergeschlechts, die er so gut aus alten Schriften und mündlichen Überlieferungen kannte. Seine Phantasie rief Bilder aus jener fernen, schauerlichen Zeit hervor, wo die halbwilden Bauern aus dem Ardennengebirge in den Wäldern tobten, rauften und plünderten, und aus jenen Zeiten, wo die kalte Blöße, der fahle Hunger und das häusliche Elend in des Fronknechts elender Hütte wohnten. Am längsten aber weilten seine Gedanken bei dem Leben der Kohlenbrenner während des letzten Jahrhunderts, das noch jetzt in frischer Erinnerung in der Gegend hier lebte. Im Geiste sah er die Männer und Frauen, die Burschen und Mädchen bei ihrer Arbeit und in ihren Kämpfen um das tägliche Brot, bei ihren Freuden und ihren Leiden, bei ihrem nächtlichen Treiben im Walde, bei den Meilern und den Festen in der Dorfschenke; rasch eilten die Zeichen ihrer Schlauheit und ihrer angebornen wilden Leidenschaften an ihm vorüber. Er selbst war jetzt von jenem wilden Leben so unendlich weit entfernt und erkannte nur zu gut die Roheit, die darin zu Tage trat, aber er hatte doch auch noch Kohlenbrennerblut in seinen Adern und bewahrte in seinem Innern immer eine Art Bewundrung für die Naturkraft seiner Vorfahren, besonders für ihren unbezwinglichen Mut und ihre Unerschrockenheit. Das waren Leute, die verstanden, den Kopf oben zu behalten; sie grübelten nicht weiter über das Leben nach, sie genossen es einfach in vollen Zügen, und im übrigen übergaben sie sich blindlings und willenlos den unerbittlichen Schicksalsmächten, bei denen der Trotz nichts half, die mit den Seelen im Sonnenschein und im Sturm auf dem Meere des Lebens herumtrieben, die zuletzt allen gnädig sind und sie in einem verheißenen Lande, in einem Lande der Glückseligkeit, wo in alle Ewigkeit süße Musik ertönt, aufnehmen. Ja, das war der Glaube zu jenen Zeiten gewesen.

Indessen sah Anine zum Sternenhimmel empor und ließ ihre Blicke auf ihrem treuen Lieblingsstern, der Wega, verweilen; ja, er flammte und leuchtete noch immer mit den sanften Strahlen, wie in ihrer Jugendzeit.

Von der einen Seite des Meilers fiel ein Rasenstück herunter, wodurch sich eine Öffnung bildete, durch die man in das Innere sehen konnte. Eine blaßgelbe Rauchwolke schlug heraus, und gleich darauf eine kleine, rote Flamme, die mit mattglühendem Purpurschein die beiden ernsthaften Menschenkinder beleuchtete.

Svend sprang auf und verstopfte die Öffnung wieder.

Oftmals haben wir hier auf diese Weise bei einander gesessen, sagte Anine, als er wieder neben ihr Platz genommen hatte.

Ja, sagte er mit einem Seufzer.

Und vor beiden stiegen die zusammen durchwachten Nächte wieder auf, die mit poetischem Zauber erfüllten Nächte, deren Erinnerung unauslöschlich in ihrem Herzen lebte: der Gesang des Rohrsängers, der Mond- und Sternenschimmer, die weißen, vom Moor aufsteigenden Nebel, der gedämpfte Vogelschrei vom Walde herüber, der Duft starkriechender Heidepflanzen und die Flammen der Meiler vereinigten sich auf wunderbare Weise zu einem großen Ganzen, das wie ein wehmütig schöner Traum an ihrer Seele vorüberzog.

Es war drei Uhr morgens geworden, und der erste matte Tagesschein begann im Osten aufzusteigen. Der feine Rauch aus dem Meiler wurde schwächer und schwächer, kein Laut drang mehr aus seinem Innern.

Svend erhob sich, beugte sich tief auf den Meiler herab und horchte wie einer, der auf den letzten Atemzug eines Sterbenden lauscht.

Ich glaube, es ist zu Ende, sagte er.

Dann gingen sie schweigend nach Hause und legten sich zur Ruhe.

*

Auf dem Kirchhof von Alsingröd, der westlichen Mauer entlang, findet man eine Reihe mit Epheu überwachsener und einer Marmortafel geschmückter Gräber, auf denen zu lesen ist, daß hier Svend Börgesen, drei seiner Söhne, sowie seine Eltern u. s. w. begraben liegen. Er selbst starb im Jahre 1879.

Im Jahre 1883 noch konnte man zuweilen draußen auf der Heide eine große, ernste, alte Frau mit schwarzen Augen und ganz weißen Haaren herumgehn sehen. Ihr Sohn, der damals schon seit vielen Jahren den Hof übernommen hatte, war der bekannte Volksabgeordnete Börge Svendsen.

Um die Sommerzeit kam hier und da ein alter, freundlicher Herr von Kopenhagen mit der Bahn nach Hilleröd und wanderte trotz seiner sechsundsiebzig Jahre nach dem Hof hinaus, um mit der Witwe im Silberhaar ein paar Stunden zu verplaudern. Hierauf trank er eine Tasse Kaffee und aß einen Bissen Brot dazu; nicht selten ereignete es sich dann, daß er, besonders in warmen, stillen Mittagsstunden, ein wenig müde und schläfrig wurde und in der Sofaecke einnickte; vorsichtig legte ihm die alte Frau dann ein Kissen unter den Kopf und sah ihn lange und gedankenvoll an.

Ja, ein treuer Freund war er ihr geblieben, Jens Ludwig, der einst so fröhliche, treuherzige Student, Jens Ludwig, dem seine Liebe so bittres Leid gebracht, und der doch in all diesen vielen Jahren an all ihrer Freude und ihrem Leid so treulich teilgenommen hatte. Nun waren sie allein übrig geblieben von dem großen Kreise, worin sich ihr Leben abgespielt hatte, nun waren sie beide alt und grau geworden, und doch lebten in beider Herzen die gemeinsamen Erinnerungen, die sich in einem um so leuchtendern und verklärtern Lichte zeigten, je mehr das Alter sein Recht forderte.

Welche Freude waren für Anine diese Besuche, wie lebendig stiegen die Gestalten der teuern Dahingeschiednen vor ihnen auf, und noch lange nachher, wenn Jens Ludwig wieder gegangen war, belebte ein froher Ausdruck ihre noch immer edeln Züge.

So auch heute. Ruhig schlief Jens Ludwig in seiner Sofaecke, und leise, damit sie ihn nicht störe, ließ sich Anine im Lehnstuhl am Ofen nieder, bis er erwachen würde.

Buchschmuck


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