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Buchschmuck

Fünfzehntes Kapitel

Am 3. Oktober 1833 sollte endlich die erste seeländische Ständeversammlung in Roskilde zusammentreten. Svend Börgesen ahnte wohl, daß dieser Tag in der Geschichte Dänemarks für alle Zeiten ein festlicher Erinnerungstag bleiben werde, und hatte große Lust, die Feierlichkeit mitzumachen. Als nun der große Tag angebrochen war, spannte er seinen Wagen an und fuhr der alten Bezirksstadt zu.

Es wimmelte von Fremden in der Stadt; Fahnen wehten von den Dächern und den Fenstern, Herrschaftswagen mit vornehmen Kutschern rollten neben rasselnden Bauernwagen mit roten und grünen Wagenkästen die Straßen entlang, und vor dem Rathaus stand die Bürgerwehr des Orts im größten Staat. Svend konnte sich ohne Scheu sehen lassen, denn seine Pferde waren in sehr gutem Zustand, und er hatte sich vor kurzem einen neuen, lackierten Wagen mit eisernen Achsen und glänzend schwarzen, mit Leder bezognen Bänken gekauft.

Nach einem feierlichen Gottesdienst in der Domkirche versammelte sich der hohe »Folkeraad,« um die Wahl der Beamten vorzunehmen, und um viereinhalb Uhr nachmittags war im Schloß das Festessen. Eine ungeheure Menschenmenge drängte sich um das Schloß: vergnügte Bürger und Bauern, die in der allerfreundschaftlichsten Stimmung einander auf die Zehen traten und sich nach allen Seiten pufften und stießen.

Svend wurde plötzlich in die unfreiwillige Umarmung einer kleinen Frau gedrückt.

Was – Sie hier?

Ja, es war wirklich Frau Bredal; sie und ihr Mann waren teils um der Festlichkeit willen, teils um ihre Schwester zu besuchen, die sie seit sieben Jahren nicht gesehen hatte, hierher gefahren.

Ist sonst niemand mitgekommen?

Nein, sonst war niemand da. Jens Ludwig sollte zwar auch von Kopenhagen herübergekommen sein, denn er war jetzt an der »Kopenhagener Post« angestellt und sollte das Fest beschreiben, allein wo er im Augenblick war, davon hatte Frau Bredal keine Ahnung.

Nun kam auch Herr Bredal herbei, er zog seine Frau und Svend, den er noch nicht gesehen hatte, heftig am Ärmel und rief: Habt ihrs gehört? Schouw ist zum Präsidenten gewählt!

Guten Tag, Herr Bredal! sagte Svend.

Ah, guten Tag, guten Tag! So, jetzt habe ich eigentlich genug für heute! ... Der Tausend! Svend, du bist wohl noch böse auf mich, von damals her?

Nein, jetzt nicht mehr.

Doch, doch, denn ich war damals sehr hart gegen dich.

Nicht härter, als ich verdient hatte.

Herr Bredal schlug ihm freundlich auf die Schulter. Das gefällt mir, mein Freund; du gestehest deinen Fehler ehrlich ein, dafür achte ich dich doppelt!

Ist Anine nicht auch hier?

Nein, sie geht nirgends hin, sie hat wieder eine lange schwere Zeit durchgemacht.

Ist denn etwas Besondres vorgefallen?

Ja freilich; ich kann es aber nicht gut – ich möchte nur wissen, wo Jens Ludwig bleibt?

In diesem Augenblick sah Herr Bredal seine Frau blaß werden und sehr bewegt mit einem großen, ältern Herrn sprechen, während ihre Schwester sie sozusagen mit ihrem Körper deckte; dann gab der Fremde beiden die Hand und ging weiter.

Bredal näherte sich seiner Frau und fragte sie, wer der Herr gewesen sei; aber da ließ sie gerade ihren Sonnenschirm fallen und mußte sich bücken, um ihn aufzuheben.

Ihre Schwester dagegen ergriff Herrn Bredals Arm und sah ihn bittend an: Du mußt sie nicht danach fragen, flüsterte sie.

Es ist ein ganz gefährliches Gedränge hier, sagte nun Frau Bredal und fuhr mit dem Taschentuch über ihr Gesicht. Es wird einem ganz heiß – da ist ja Jens Ludwig – nein – doch, er ist es – Jens Ludwig! hör einmal!

Aber als der Kandidat Svend bei seinen Verwandten stehen sah, machte er sich rasch davon.

Später stieß Svend direkt mit ihm zusammen; nun hatte er aber nicht einmal Zeit zu einem ordentlichen Gruße; er mußte sich notwendige Notizen in sein Taschenbuch machen. Übrigens war es auffallend, wie mager er geworden war.

Ein wirres Durcheinander von Stimmen klang durch die Luft; ein Summen von Grüßen und Ausbrüchen der Freude. Einer oder der andre schrie dazwischen hinein: Heraus mit den Ständen! Wir wollen sie sehen!

Die Versammlung vor dem Schlosse wurde immer unruhiger und brach zuletzt in ein donnerndes Hurrarufen aus, das laut in den glänzenden Festsaal drang.

Zuletzt mußten der königliche Kommissar Örsted und die beiden Präsidenten Schouw und Hvidt sich dem Volke zeigen, während der Professor David, Fabrikant Drewsen und viele andre wohlbekannte Männer an den offnen Fenstern erschienen. Die Huldigungsrufe wollten kein Ende nehmen, als Örsted, dieser »Mann des Königs und des Volks,« der populärste Mann in ganz Dänemark, von den letzten Strahlen der Abendsonne beleuchtet, aus dem Schlosse heraustrat und freundlich mit der Hand grüßte.

Dann hielt er eine Ansprache, und dieser ersten Rede folgten noch mehrere andre, wodurch die schon vorher freudige Stimmung zur wärmsten Begeisterung erhoben wurde.

Keiner gab auf einen jüngern Bauern acht, der mit glänzenden Augen, die Mütze in der Hand, zu Örsted und Schouw aufblickte, während ihm die Thränen langsam die Wangen herunterrollten; aber auf einmal wandten sich alle Gesichter ihm zu, denn er war auf eine Bank gestiegen und sprach nun mit lauter Stimme:

Euch Bauern, euch allen, die ihr hier versammelt seid – euch sage ich: Dies ist heute ein Festtag für uns alle! Und ich sage euch: Laßt uns die Hüte abnehmen vor den Männern, die da oben stehen, und ihnen Dank sagen, weil sie an uns Bauern und Kleine gedacht haben, ebenso wie an die Vornehmen und Großen. Wenn uns Gott im Himmel gute Verhältnisse schenken will, wie man jetzt hoffen darf, und wenn unser guter König und die Vornehmen wirklich gut gegen uns handeln, dann werden sie schon erfahren, daß wir Bauern noch zu anderm tüchtig sind, als Fronfuhren zu leisten und bei den Hetzjagden mit dem Spieß an die Bäume zu klopfen. Wir haben auch ein Herz in der Brust, meine ich, und der Schultheiß von Windinge, sowie die andern Bauern, die dort oben stehen, werden das den Ständen beweisen. Und wir sagen unserm König Dank, sowie auch euch, ihr geliebten dänischen Männer, Örsted, Schouw und allen andern, weil ihr uns auch dabei haben wollt in der neuen Verfassung, die wir jetzt bekommen haben, die auch mit Gottes Hilfe unserm Vaterland zum Glück und Segen gereichen soll!

Seine freudige Haltung, sein kräftiges, gebräuntes Gesicht, aber vor allem der Klang echter Empfindung, der durch seine Worte ging, riefen einen wahren Beifallssturm hervor. Wer ist er denn? Wo kommt er her! ertönte es von allen Seiten.

Da schwang sich Bredal auf die Bank.

Ein Hurra dem jungen Kohlenbrenner, Schultheiß Svend Börgesen in Alsingröd!

Er lebe hoch! schrie ein Bürger mit einer Donnerstimme aus der Menge heraus, und: Er lebe hoch! stimmte ein tausendstimmiger Chor aus kräftigen Bauern- und Bürgerkehlen mit ein.

Svend wußte gar nicht, wie ihm geschah; die Eindrücke dieser großartigen Festlichkeit, die fröhliche Aufregung des Tages, der Gedanke, daß Bredal, ja Bredal, dieses Lebehoch für ihn ausgebracht habe, und die Hoffnung, daß Jens Ludwig vielleicht etwas von diesem Auftritt in der »Kopenhagener Post« bemerken werde (was er aber nicht that), wirkten so überwältigend auf ihn, daß er ganz verwirrt wurde.

Den ganzen Abend hallten die Straßen, bis tief in die Nacht hinein, von Gesang und fröhlichem Rufen wieder; die hellerleuchteten Fenster, die Flammen der Laternen und Pechfackeln erfüllten die stille Oktobernacht mit einem Zauber, der unauslöschliche Erinnerungen in Tausenden von Herzen schuf.

Svend übernachtete in Roskilde; er lag aber den größten Teil der Nacht wachend auf seinem Lager und warf sich mit fieberisch erregtem Gehirn unruhig hin und her. Anine – die Stände – Örsted – ein von Bildern, Namen, Lichtern und Hurrarufen ganz sonderbar zusammengesetztes Wogen und Brausen ging durch seinen Kopf und verlor sich erst gegen Morgen in der Bewußtlosigkeit des Schlafs.

Als er am nächsten Morgen heimwärts fuhr, erschien ihm sein Glück und seine Größe von gestern in der strahlendsten Beleuchtung; aber plötzlich fiel sein Blick auf den leeren Sitz des neuen Wagensitzes neben ihm, und gleich kam die schwere Stimmung des Verlassenseins und der Sehnsucht wieder über ihn und überzog alles mit einer grauen, trüben Färbung.

Da stieg eine heiße Sehnsucht nach der kleinen Lene Marie in seinem Herzen auf; er war in den letzten vier Jahren keine einzige Nacht von ihr entfernt gewesen. Wie es ihr wohl gegangen war, dem kleinen Geschöpf? Sie war in der letzten Zeit so gar elend gewesen!

Zu Hause angekommen warf er den Pferden die Zügel über den Rücken und eilte der Wohnung zu. Da ging die Thür auf, ein kleines, bleiches Mädchen eilte heraus und stürzte in sein Arme.

Wie geht es dir, Kleine?

Es geht mir gut, Vater!

Sieh einmal, was ich dir mitgebracht habe!

Seine ganze Tasche war voll Honigschweinchen und Zuckerstangen.

Ach – wie schön! Danke, danke!

Mein liebes, liebes Kind! sagte er und drückte sie innig an sich.

Dann ging er wieder an seine gewohnte Arbeit bei den Meilern und auf der Tenne. Jeden Tag ging er hinaus und sah nach den blauen Türmen hinüber, jeder Wagen, der auf der Straße von Frederiksborg daherrollte, jede einzelne Frauengestalt in einem grünen Kleide zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er wußte ja wohl, es war umsonst, ganz und gar hoffnungslos, sich auch nur danach umzudrehen, aber trotzdem – es schwebte doch allemal wie eine Ahnung durch die Luft, so lange es dauerte.

Die Wellenlinien der Hügel waren nun in Nebel gehüllt, die Wälder erschienen wie graue Wolken und bedeckten mit ihrem farblosen Schleier die Erde, die im Winterschlaf darunter begraben lag.

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