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Buchschmuck

Vierzehntes Kapitel

Sie sich rasch entwickelnde politische Erweckung der dreißiger Jahre in Dänemark schlug, nachdem das Land seit 1799 in Tod und Winterschlaf gelegen hatte, zwar hauptsächlich in den gebildeten Volksschichten Wurzel, zog aber doch auch wie ein Frühlingswind über den einen und den andern Bauernhof.

Svend Börgesen war einer der wenigen Bauern von Seeland, die aufgeklärt genug waren, an dem Freiheitskampfe teilzunehmen. Mit dem wunderbaren Aneignungsvermögen, das einzelne Menschen haben, der Gabe, sich auf eigne Hand Kenntnisse zu erwerben, mehr als andre Menschen zu sehen und zu hören, und dann alles mit tausend feinen Häkchen im Gedächtnis festzuhalten, hatte Svend im Laufe der Jahre eine Geistesreife erlangt, die zu jener Zeit in seinem Stande beinahe einzig dastand. Indem er sich einzelne Stücke aus den Büchern und Blättern abschrieb, die Jens Ludwig ihm mehrere Jahre lang regelmäßig schickte, hatte er seine Muttersprache annähernd richtig schreiben gelernt.

Als der endgiltige Erlaß der Stände herauskam – am 15. Mai 1834 –, und Svend hörte, daß von nun an auch der Bauer bei der Regierung des Landes ein Wort mitzureden habe, erwachte in ihm der unbestimmte Wunsch, sich geltend zu machen; er wußte zwar nicht, wie und auf welche Weise dies geschehen könnte, allein der Gedanke lag ihm beständig im Sinn, wie wenn ihn ferne Stimmen dazu aufforderten.

Als er bei einer öffentlichen Versammlung die Tisvilder fragte, für wen sie bei der Abgeordnetenwahl des ersten Wahlkreises stimmen würden, sahen sie ihn an und sperrten Nase und Mund auf: Was ging denn das ihn oder sie an? Das war etwas, das nur den König und die Großen beschäftigte. – Nein, gerade der König sei es, erklärte er ihnen, der den Bauern das Wahlrecht gegeben habe, alle Landbesitzer von vier Tonnen und die Pächter von fünf Tonnen Hartkorn dürften wählen. Er setzte ihnen auch die Absicht der neuen, beratenden Versammlungen auseinander und klärte sie unter anderm darüber auf, wie der Bauernstand durch diese das Recht bekommen habe, mit seinen Klagen und mit seinen Vorschlägen zur Verbesserung des Armen- und Schulwesens u. s. w. vor den König selbst zu kommen. Die Tisvilder stutzten: das war doch wirklich großartig, wie gelehrt dieser Kohlenbrenner war.

Ein Beweis für seinen Drang, eine Rolle zu spielen, war auch sein Einfall, sich bei dem Wettrennen auf der Bleichdammswiese zu beteiligen; aber das hätte er sich nie träumen lassen, daß es ein so schöner und stolzer Tag für ihn werden sollte. Als die Hurrarufe über ihn und sein kleines Pferd hinbrausten und der erste Preis für das Bauernwettrennen, einhundert Reichsthaler, ihm überreicht wurden, erhob er das Haupt und blickte wie ein König um sich. Und dann noch das Glück, mit Johannes Hage bekannt zu werden, einem Manne, den er schon lange wegen seiner warmherzigen, freisinnigen Artikel in den Zeitungen bewunderte und liebte. Wie alt sind Sie? hatte Hage ihn gefragt. – Achtundzwanzig Jahre, Herr Hage. – Dann sind Sie noch zu jung, daß Sie diesmal gewählt werden könnten; aber wer weiß – in sechs Jahren, wenn Sie außerdem das nötige Hartkorn besitzen.

Wer weiß – in sechs Jahren! Diese Worte waren es, die seinem einsamen Leben ein wenig Reiz verliehen. Den zur Wählbarkeit nötigen Grundbesitz, der bei der Verordnung für Landeigentümer auf acht Tonnen und für Pächter auf zehn Tonnen festgesetzt war, konnte er vielleicht bis dahin vollends erwerben; aber sechs Jahre sind eine lange Wartezeit, und – – was lag überhaupt an aller Größe?

Die Erkenntnis, wie schlecht er an Anine gehandelt habe, dazu der peinigende Druck der Einsamkeit, die Demütigung durch Aninens verneinende Antwort und Bredals züchtigende Worte – das alles zusammen wie die beständig nagende Erinnerung an Maren jagte am Tage den Frieden aus seinem Herzen und beunruhigte und erregte seine Gedanken während der Nacht.

Wenn man alles zusammenrechnete, so war es vielleicht mehr der Drang, seinem Leben einen neuen Aufschwung zu geben, als die Wirkung eines unabweisbaren Herzensdrangs, der seine Gedanken und Wünsche in das öffentliche Leben hineintrieb. Aber das war ihm auf alle Fälle klar, in diesem weltvergessenen Winkel, wo er jetzt lebte, würde er nie wieder werden, was er früher gewesen war. Daß es trotz all seinem Fleiße mit seinen Sandfeldern nicht vorwärts gehen wollte, konnte allenfalls ertragen werden, aber er war und blieb eben ein Fremder in diesem Hause, ein gefangner Vogel, der es nie lernen würde, in dieser Luft seine Schwingen zu erheben. Nein, dort drüben, wo die Wälder in blauem Dämmerschein herüberwinkten, dort, wo der Arreste erglänzte, wo die heimatlichen Kirchenglocken läuteten, wo sich die Umrisse der Berge erhoben, dort war das Land, wo er zu Hause war, das Land, wohin er zurückkehren mußte, wenn er ein rechter Mann werden sollte!

Wie oft hatte er sich in diesen Jahren zurückgewünscht zu den duftenden Meilern, in die verlockenden Wälder, wo der Rehbock in mondhellen Nächten mit stolz getragnem Kopf dahinwandelt, nach der geliebten alten Heimat, wo Aninens Nähe ihm bei jedem Atemzug fühlbar war.

Ach, Anine, Anine – –!

All seine Sehnsucht, all seine Selbstvorwürfe vereinigten sich in dem Gefühl eines großen unermeßlichen Verlusts, der früh und spät, immer und ewig an seiner Kraft zehrte. Die Kämpfe dieser Jahre hatten ihm gezeigt, wie sehr er sie liebte nein, sie hatten eine neue Liebe geschaffen, eine zehnmal, ja hundertmal reinere und heißere Liebe als die frühere. Niemals fiel es ihm ein, an eine andre Frau zu denken; nur ihre Augen hatten den belebenden Strahl, der in seinem Herzen Licht schaffen konnte.

Die Erinnerung an die glücklichen Stunden, die er in stillen Sommernächten beim Kohlenmeiler mit ihr zusammen verlebt hatte, zogen wie selige Träume an seinem Herzen vorüber, selige und doch so außerordentlich wehmütige Träume. Seine Einbildungskraft umgab ihren Körper und ihren Geist mit dem Gewand der höchsten Vollkommenheit, und in diesem Gewand stand sie nun – rein und schön, unvergleichlich in ihrer stolzen Schönheit – als die Hauptfigur in all seinen Bestrebungen.

Nein nein, er konnte sich die Möglichkeit nicht vorstellen – das Wunder wäre zu groß –, daß sie jemals wieder die Seine würde; er hatte sein Leben zu sehr befleckt! Seine Untreue hatte ein Brandmal auf seine Stirn gedrückt, vor dem sie zurückschaudern mußte, so lange sie lebte. Und doch war die Hoffnung auf die Möglichkeit des Unmöglichen die einzige Nahrung, von der sein Geist lebte.

Die Sehnsucht nach ihr wurde ihm zuletzt unerträglich. Er ritt nach Frederiksborg und ging gerades Wegs zu Bredals.

Frau Bredal öffnete ihm die Thür und riß die Augen vor Verwundrung auf.

Guten Tag, Madame Bredal! Er hörte hurtige Schritte im Zimmer, eine Thür wurde aufgerissen und wieder zugemacht. Ich möchte nur fragen, ob Anine zu Hause ist?

Ja – das heißt – sie ist nicht ganz wohl. Sie sah zurück in die Stube. Nein, sie ist im Augenblick nicht da.

Dann kann ich ja warten.

Tante! erklang eine Stimme innen vom Zimmer her.

Nun ja – stammelte sie; aber ich glaube wirklich nicht, daß sie kommt.

Ist sie denn ausgegangen?

Das Lügen war ein Kunststück, das die kleine Frau Bredal in ihrem ganzen Leben nicht zustande gebracht hatte, ohne jedesmal dunkelrot zu werden. Er erriet denn augenblicklich bei dem tiefen Erröten, mit dem sie ein Ja aussprach, daß diese Antwort eigentlich mit vier andern Buchstaben hätte geschrieben werden müssen und Nein hätte lauten sollen.

Aber kommen Sie nur ein wenig herein und setzen Sie sich, bat sie und bot ihm einen Stuhl an.

Er trat ein. Neben dem Sofa stand Jens Ludwig; er sah aus, als ob alles Blut seines Körpers in diesem Augenblick in seinem Kopfe vereinigt sei.

Guten Tag! grüßte Svend. – Ah, hier trifft man ja gute Freunde!

Guten Tag! Du hast wohl heute einen Ausflug nach Frederiksborg gemacht?

Ja, es war so schönes Wetter, und außerdem hatte ich auch Besorgungen zu machen.

Bitte, setzen Sie sich! wiederholte Frau Bredal und verließ das Zimmer.

Er setzte sich auf einen Stuhl, der vor einer auf die Seite geschobnen Garnwinde stand. Jens Ludwig ging auch hinaus und kam nicht wieder herein.

Svend sah sich im Zimmer um. Also hier in dieser Stube verbrachte Anine ihre Tage! Ein überwältigendes Gefühl erhob sich in seiner Brust, etwas unendlich weiches zog durch sein Herz; noch nie in seinem Leben hatte er eine so behagliche, friedliche Stube gesehen. Er betrachtete den feine», zierlichen braunen Garnhaspel. Hatte sie vielleicht hier gesessen? Er streckte die Hand aus und berührte den Knäuel.

Aber drüben in dem kleinen Zimmer hinter der Küche stand Madame Bredal und beugte sich zärtlich über Anine, die aus einem Stuhl am obern Ende ihres Bettes saß und den Kopf auf die aufgestützten Arme gelegt hatte.

Mein liebes Kind, du bist ja ganz außer dir?

Das Mädchen atmete mit kurzen, heftigen Stößen, und ihre Hand bewegte sich krampfhaft hin und her.

Frau Bredal setzte sich auf das Bett, ergriff ihre Hand und seufzte: Es ist so schwer, so etwas zu vergessen. Und es giebt so wenige, die das verstehen können.

Sie strich dem Mädchen leicht über die Wangen und sprach lange kein Wort.

Ich habe manchmal darüber nachgedacht, mein liebes Kind, begann sie endlich von neuem, ob du dich nicht am Ende überwinden könntest und alles wieder gut machen wolltest.

Anine sah entsetzt auf. Ich? rief sie.

Ja, Anine, denn er ist ja doch immer in deinen Gedanken, zu jeder Stunde bei Tag und bei Nacht.

Jens Ludwig stand am Küchenfenster und sah hinein. Bei diesen Worten mußte er sich festhalten, sonst wäre er umgefallen.

Ja ja, hörte er jetzt die Tante sagen, dann sage ich nur, du seiest nicht wohl.

Als sie gegangen war, eilte er selbst zu Anine hinein. Anine, ich kann das nicht aushalten, sag mir alles, wie es steht!

Ich weiß es ja selbst nicht; ich weiß nur, daß ich so – so – ach, Jens Ludwig, ihn mir den einzigen Gefallen und laß mich jetzt allein!

Seit acht Tagen bin ich nun hier, Anine, und jeden Tag habe ich umsonst versucht, auch nur einen Augenblick ungestört mit dir zu sprechen; es war gerade, als ob du jedesmal vor mir davonliefst, sobald ich mich zeigte. Ich kann das nicht länger aushalten, Anine.

Frau Bredal kam zurück. Ich vergaß mein Taschentuch – Jens Ludwig, ich glaube wirklich nicht, daß du dich hier hineinmischen solltest.

Ich wollte ja nur – Anine ein wenig trösten.

Ja ja. Sag einmal, hörtest du, was ich vorhin zu Anine sagte?

Ja, ich habe es gehört.

Nun, meinst du nicht auch, daß es das Beste wäre?

Er war in peinlicher Verlegenheit und trocknete seine feuchten Hände an seinem Taschentuch.

Meinst du nicht auch? fragte sie noch einmal.

Tante! rief er endlich, Anine und ich, wir sind miteinander verlobt!

Frau Bredal richtete sich auf, die Schleifen an ihrer Haube standen gerade in die Höhe wie im höchsten Entsetzen. Kind, Kind, schluchzte sie und eilte zu Anine hin, was ist denn das, was er da sagt?

Anine rührte sich nicht, sie starrte stumm vor sich hin.

Hörst du nicht, was ich dich frage? Wie ist denn das zugegangen?

Ich weiß es nicht.

Du weißt es nicht?

Es war an einem Tag drüben im Schloßgarten, ich erinnere mich ganz genau, ich sagte, ich habe ihn sehr lieb, und das ist auch ganz wahr.

Und nun bildest du dir ein, damit seiet ihr verlobt? wandte sich Madame Bredal an Jens Ludwig.

Tante, du mußt uns eine nähere Erklärung erlassen. Ich war meiner Sache vollständig gewiß, und ich kann sie nicht wieder aufgeben ... Anine muß mein werden.

Frau Bredal sah aus, als ob ihr ihr ganzes Verstandesvermögen abhanden gekommen wäre.

Jens Ludwig, sagte sie, geh hinein und sprich mit Svend.

Ich kann nicht, Tante.

Aber wir können ihn doch nicht – so mach, daß du fortkommst, dann gehe ich selbst. – Ach Kinder, Kinder!

Bleich und zitternd kam sie zurück zu dem geduldig wartenden Svend. Nein – sie ist gar nicht wohl – sie kann nicht kommen.

Svend sah es Frau Bredal wohl an, daß indessen etwas Besondres vorgefallen sein mußte; er rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

Konnte sie dann nicht vielleicht an einem bestimmten Tag in Abels Wirtshaus kommen und dort mit mir reden?

Das wird sie nicht thun, das kann ich im voraus ganz bestimmt sagen.

Ich könnte ja auch in den Schloßgarten kommen.

Auch dorthin kommt sie nicht.

Ich wollte nur wenige Worte mit ihr sprechen.

Es ist ganz und gar hoffnungslos, darüber mit ihr zu verhandeln.

Er erhob sich. So ist also gar nichts zu machen, seufzte er.

Schlagt euch das lieber ganz aus dem Kopf, Svend; es giebt keinen andern Ausweg – jetzt!

Sie wissen also, was ich von ihr will?

Ich verstehe das Leben ein wenig, Svend Börgesen.

Wollen Sie sie dann wenigstens von mir grüßen und ihr sagen, ich würde warten – warten?

Warten?

Ja, wollen Sie ihr bloß diese paar Worte sagen, Madame Bredal? Bitte, versprechen Sie es mir!

Er sah sie so flehend an; sie fühlte tiefes Mitleid mit ihm; aber doch richtete sie sich gerade auf und sagte ihm, die Wartezeit würde wohl sehr lang werden – ja, zu lang.

Dann ging er.

Viele Tage und Wochen lang hatte Svend zu gar nichts Lust. Er arbeitete auf dem Hofe und den Feldern, nur um seine Gedanken zu betäuben; die Politik war weit von ihm zurückgetreten und schien ihn nichts mehr anzugehen; alles lag so weit zurück, und nur ein einziger Gedanke drehte sich wie ein Feuerrad Tag und Nacht in seinem Gehirn.

Was sollte er thun, um sie zu gewinnen? Denn das fühlte er jetzt stärker als je zuvor, wenn sie nicht die Seinige würde, konnte er ebenso gut jetzt gleich den Flintenlauf an den Mund setzen und losdrücken.

*

Des Abends saß er in der Stube und schrieb in sein Heft, das nach und nach zu einem dicken Buch anwuchs. Nach dem von dem Schriftsteller Bücher gegebnen Vorbilde »Tagebuch eines Dorfschulmeisters« zeichnete er seine Gedanken und Erlebnisse in kleinen Abschnitten auf, und es war in dem folgenden Jahre seine einzige Freude, sich mit diesen Aufzeichnungen zu beschäftigen und die darin niedergelegten Gedanken und Gefühle wieder und wieder zu lesen.

– Es ist gerade, als ob du hier bei mir seist und ich mich mit dir unterhalte; ich bin nie froher, als wenn ich hier allein in der Nacht vor meinem Hefte sitze und schreibe; ich sehe dich dann so deutlich vor mir und höre dich sprechen und lachen, und dann ist es gerade wie in den alten Zeiten, da wir zwei an den Sonntagen allein draußen im Walde waren; die Vögel sangen, und der Waldmeister duftete, ach, das war eine schöne Zeit! Wollte Gott, daß sie wieder käme, geliebte Anine, denn jetzt könnte ich alles viel besser verstehen und würde Gott im Himmel dafür danken! Aber ich werde nie wieder glücklich werden in diesem Leben, wenn du nicht mein sein willst in Liebe und Zuneigung und bei mir sein Willst mit deinem Herzen und mit deiner Liebe, bis die Stunde einst des Todes kommt. –

Von der Dachluke auf der Scheuer kann ich die Zinnen der Frederiksborger Schloßtürme in weiter Entfernung erkennen; sie erheben sich wie zwei feine Spitzen, und oft stehe ich an der Luke und sehe nach ihnen hinüber, wenn ich droben bin und den Roggen umschaufle. Es ist so sonderbar, daß du dort bist, wo die blauen Türme aufragen. –

Jetzt habe ich dich drei lange Jahre nicht gesehen. Ich kann dich mir am besten vorstellen, wie du in jener Nacht in Tingstrup warst, mit dem grünen Kleid und dem neuen roten Halstuch; du warst so schön und sahst so glücklich aus; du sahst mir in die Augen, als wir zusammen tanzten, und du warst so fröhlich und rotwangig. Als wir nach Hanse ritten, hielt ich dich umschlungen, und dein Herz klopfte an meinem Arm; es war so schön mondhell, der Schnee erglänzte weiß und rein, und wir hielten uns den ganzen Weg lang umschlungen, ich kann es nicht verstehen, daß –

Heute ist Sylvesterabend, und die Leute schießen an allen Ecken und Enden, und nur ich sitze hier allein und schreibe; es ist gleich Mitternacht, und in dieser feierlichen Stunde wünsche ich dir so recht von Herzensgrunde, Gott im Himmel möge dir, meine geliebte Anine, ein glückliches Jahr bescheren! Es ist jetzt nicht mehr so, wie in den alten Tagen, da ich zu euch hinüber ging, vor euern Fenstern losknallte und dann mit einem Guten Abend, Anine! in die Stube trat, und wir uns dann so herzlich freuten, daß wir einander sahen. Damals verstand ich freilich nicht, wie glücklich ich war, wenn wir bei einander waren, aber wenn du jetzt bei mir wärest, vielgeliebte Anine, dann würde ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe, denn jetzt verstehe ich es. Wenn ich meinen Kopf auf den Arm lege und die Augen schließe, da ist es mir gerade, als ob du da seiest, und ich meinen Arm um deinen Leib lege, dich an mich drücke und »Anine« zu dir sage; dann setze ich mich nieder und nehme dich auf meinen Schoß und sage: Gott segne dich, mein inniggeliebtes Mädchen, jetzt und in alle Ewigkeit!

Es ist eine finstre Nacht; das Meer braust und tobt; ich bin diesmal gar nicht draußen gewesen und habe kein einziges mal geschossen. –

Meine liebe, kleine Lene Marie, die mir so sehr ans Herz gewachsen ist, ist krank und verlassen und erhält nicht die ihr so notwendige Pflege. Ich sitze oft bei ihr, streichle sie und plaudre mit ihr in der Dämmerung; es ist sonst niemand hier in der Gegend, um den ich mich kümmere, ich bin so niedergedrückt in meinem Gemüt, an den Sonntagnachmittagen fühle ich meine Verlassenheit ganz besonders, und ich kann es beinahe nicht mehr ertragen, nach den Zinnen der. Schloßtürme hinüber zu sehen. Liebe, liebe Anine, es giebt keine andre als du allein, die mir Lebensmut und Freudigkeit zurückgeben kann, ach, wenn du wolltest, so könnte noch etwas aus mir werden. –

Anine, ich verspreche dir hier feierlich, wenn ich je wieder nach Alsingröd zurückkommen sollte, werde ich nie wieder heimlich mit der Büchse in den Wald gehen und nie wieder in der Nacht Brennholz heimführen, wie ich es oft früher gegen deinen Willen gethan habe; dieses verspreche ich dir wahr und wahrhaftig; aber wenn du nicht willst, dann kann ich dieses Leben nicht mehr aushalten. –

Heute hörte ich die Lerche zum erstenmal zwitschern, aber sie zwitschert hier nicht wie bei uns zu Hause in Alsingröd; hier ist es so einsam und still, und ich kann es nächstens nicht mehr aushalten. Das Meer ist jetzt tiefblau, und ich meine mit jedem Tag deutlicher sehen zu können, wie sich die Wälder dort drüben mit neuen Farben schmücken; es ist eine herrliche Zeit, wenn der Frühling kommt, aber was hilft mir das alles, geliebte Anine, wenn du nicht willst. Gott gebe doch, daß du wolltest. –

Ich ruderte heute morgen um vier Uhr lange den Strand entlang und schoß zwei Enten; ich dachte daran, wenn du nun hier wärest, würdest du sie für mich braten und dann selbst neben mir sitzen; hierauf würde ich dir eine gesegnete Mahlzeit wünschen, Anine; aber jetzt habe ich die Enten einer armen Frau geschenkt.

Heute war ich in der Kirche; außer mir waren nur noch zwei Leute darin; ich konnte aber meine Gedanken nicht sammeln und aufmerken, während der Pfarrer predigte, denn du, geliebte Anine, standest fortwährend vor meiner Seele; da bat ich Gott im Himmel, er möchte dich mit Gewalt erfassen und dein Herz mir wieder zuwenden, denn ich sage es noch einmal, ohne dich kann ich es nicht mehr aushalten. Du, du allein wirst stets vorn in allen meinen Gedanken sein, so lange meine Augen in dieser Welt offen sind. –

Der Wahl zu der Roskilder Ständeversammlung schenkte er keine große Aufmerksamkeit, aber als er hörte, daß verschiedne Bauern, fünf Dorfschulzen und ein Pachtbauer, gewählt worden waren, wurde er doch stolz auf seinen Stand und beschäftigte sich wieder mehr mit den Zeitungen.

Gerade als Svend sich am allerverlassensten und unglücklichsten fühlte, bot sich ihm eine günstige Gelegenheit, seinen Hof mit allem, was drum und dran war, zu verkaufen, und das Glück war ihm ferner günstig, denn er gewann dreihundert Reichsthaler, die er auch wohl für seinen vierjährigen, unermüdlichen Fleiß beanspruchen konnte.

Das war ein großer Tag für ihn, als er mit der kleinen Lene Marie, Stern und seinen dreihundert Reichsthalern in der Tasche seinen Einzug in Alsingröd hielt, wo sogar die Armen und Gebrechlichen vor die Thüren traten und ihm mit ihren Krücken und Mützen einen Willkommensgruß zuwinkten.

Seine Mutter, die sich in den letzten Jahren beinahe die Seele aus dem Leibe gearbeitet hatte, übergab ihm nicht allein den Hof, sondern auch den alten Schrein der Großmutter mit den noch unberührten Goldstücken.

Beinahe das erste, was er that, war, einen Kohlenmeiler aufzusetzen. Es war, als ob er ein ganz neuer Mensch würde, als die Zweige unter den Rasenstücken im Feuerherd knisterten, und der dicke Rauch ihm um die Nase zog. Wunderbar erfaßte es ihn, eine Fülle Erinnerungen und Hoffnungen, glühend und farbenreich, tanzten vor ihm in der Luft und woben ein schimmerndes Netz froher Ahnungen in seiner Einbildungskraft. Wie lebhaft fühlte er Aninens Nähe! Ihr Atemzug war in dem Duft des Waldes, in dem Gesang des Rohrsängers, in den Strahlen des Mondes auf dem feuchten Gras.

Ach, Anine, Anine! Könnte nicht alles noch gut werden? Eine brennende Sehnsucht nach ihr überkam ihn. O, nur einmal seinen Arm um ihren schlanken Körper legen, nur einmal seine Lippen auf ihren warmen Mund pressen zu können!

Daß ihm seine Mutter den Hof übergeben wollte, war ihm eine große Überraschung gewesen; aber als er eines Tages unversehens hinter sie trat, während sie in der Oberstube vor einer der großen Truhen stand, und er sah, wie sie ihr Totenhemd in der Hand hielt, da verstand er ihre Gründe. Arme, alte Mutter, wie sah sie aus? Die Brust eingefallen, die eine Schulter ausgewachsen, das weiße Haar so dünn, so spärlich, und das eingefallne, runzlige Gesicht wie vertrocknete Erde mit einem grauen Schein überzogen!

Aber noch wohnte ein Rest von der Härte des alten Kohlenbrennergeschlechts in dem abgemagerten Körper, und das bekam die kleine Lene Marie jedesmal zu fühlen, so oft ihr Svend einen besonders guten Bissen zukommen ließ, und an den harten Blicken und zornigen Worten der Alten konnte sie Wohl erraten, daß diese ihr Svends Fürsorge nicht gönnte, sondern das arme Kind als einen Eindringling betrachtete, der nur die Zahl der Menschen, die auf dem Hof satt werden sollten, vermehrte.

Wenn irgend jemand die alte, abgearbeitete Kohlenbrennersfrau ganz durchschauen und einen Einblick in die verschiednen Kammern ihres innern Lebens hätte erlangen können, so hätte er unter einer beinahe unüberwindlichen Ansammlung versteinerter Gedanken und neben den Abdrücken der Speziesthaler ein warmes Gefühl entdeckt, das ihn in großes Erstaunen gesetzt hätte.

Was war es denn aber gewesen, das sie so viele Jahre lang von Arbeit zu Arbeit trieb, das sie zwang, ihre Butterbrote dünner und dünner zu streichen, und sie des Morgens in aller Frühe, ehe noch irgend ein Mensch im ganzen Dorfe ein Auge geöffnet hatte, herausrief? Sie wußte recht gut, man nannte sie habsüchtig und geizig, sie wußte, man mache sich auf allen Höfen über ihre saure Milch lustig, aber sie ließ die Leute schwatzen und lachte darüber. Gott im Himmel kannte ja wohl ihre Sorge und ihre Kämpfe, er wußte, sie hatte einen Sohn – er hatte ihn ihr ja selbst geschenkt –, und er war ihres Lebens einzige Freude; er allein, er war die Ursache ihres rastlosen Fleißes gewesen.

Von der Zeit an, wo er als Säugling an ihrer Brust gelegen hatte, hatte sie ihn mit heißer Leidenschaft geliebt, und in all den vergangnen Jahren war er ihr geheimer Stolz gewesen. Um seinetwillen hatte sie sich jedes Vergnügen versagt, hatte gehungert, gewacht und gearbeitet, um seinetwillen hatte sie sich, wie peinlich es ihr auch gewesen war, herabgewürdigt, von der alten Boline Thaler auf Thaler zu erbetteln. Wie es mit ihr selbst ging, ob sie der Spott der ganzen Welt wurde, ob sie schließlich am Krückstock gehen mußte, der Hof mußte ihm erhalten bleiben. Aber sie sah bald, daß Svend ein gut Teil von des Vaters Wildheit geerbt hatte, und sie erschrak vor dem Gedanken, daß er in kurzer Zeit mit allem wieder fertig werde, wenn er zu bald Herr auf dem Hofe würde; deshalb hatte sie diesen selbst behalten und nie etwas von einer Übergabe hören wollen. Ja, wenn er gesetzt geworden war und sich ein wenig in der Welt umgesehen hatte, dann konnte er kommen. Und wenn sie dann einmal mit gefalteten Händen fünf Fuß tief unter der Erde lag, dann würde er ihr für alle ihre unermüdliche Liebe danken und auf die eiserne Platte über ihren Häupten schreiben: Hier ruht eine treue Mutter.

Dann hatte sich die merkwürdige Tisvilder Geschichte zugetragen. Boline war es gewesen, die auf ihre eigne schlaue Weise die beiden jungen Leute zusammengebracht hatte, das verstand sie nachher sehr gut; aber es war doch ein großes Glück, weil ein Hof dabei war. Als sie dann sah, wie Svend abmagerte, konnte sie wohl erraten, daß das Glück nicht sonderlich groß sein könne. – Aber jetzt, nach all der schweren Zeit, in der Gott ihn selbst in die Kur genommen und ihn das Nachdenken gelehrt hatte, jetzt war wohl endlich die Zeit gekommen, wo sie ihre Thür öffnen und sagen konnte: Sieh, hier ist dein Hof, dein Eigentum!

Svend nahm eine tüchtige Magd zu Hilfe, die das Haus in Ordnung hielt; aber Else, der das Befehlen und Regieren jetzt zur andern Natur geworden war, war beständig hinter ihr her und untersuchte jeden Winkel; es war ein fortwährender Aufruhr in Küche und Speisekammer. Schließlich mußte Svend seiner Mutter Vernunft predigen, indem er ihr zugleich versprach, er wolle der Magd selbst scharf auf die Finger sehen, und nach und nach, wenn auch langsam, zog sich die alte Frau doch von dem Hauswesen zurück, saß aber dafür tagelang in der feuchten, dunkeln Hinterstube am Webstuhl.

Zu Svends großer Verwunderung verschwand ihre Abneigung gegen das kleine Mädchen mit der Zeit ganz und machte einer innigen Teilnahme Platz, die das kleine, kränkliche Mädchen auch recht nötig hatte. Es war, als ob Elses heiße Mutterliebe sich von ihrem frühern Gebiet abgekehrt und einem neuen zugewandt hätte, wo sie neue Aufgaben und neuen Grund zur Bethätigung fand.

Komm, Kleine, setz dich zu mir in die Webstube!

Zuerst fiel es Svend außerordentlich schwer, sich von den alten, verbotnen Gewohnheiten zurückzuhalten und die nächtlichen Waldausflüge zu unterlassen; aber so sehr es ihn auch in hellen Mondscheinnächten lockte, er hielt doch der Versuchung Stand.

So oft er vor seine Thür trat, überflog sein Auge den Nachbarhof, allein sie, nach der er suchte, war nicht mehr da; dagegen bemerkte er bisweilen einen dickhalsigen Mann und eine große, ältliche Frau, die sich mit jugendlicher Behendigkeit um den Mann zu schaffen machte, ihm bei dieser oder jener Arbeit half, offenbar in dem glücklichsten Einvernehmen mit ihm.

Immer und immer beschäftigten sich seine Gedanken damit, was er denn thun könne, um Anine wiederzugewinnen? Ach, was gab es denn andres für ihn zu thun, als zu warten, sich in der Umgegend einen guten Ruf zu erwerben und einer von denen zu sein, deren Name mit Achtung genannt würde. Alles, was er unternahm, that er in Gedanken an sie. Was würde sie sagen, wenn sie seinen Namen da und dort geschrieben fand? In das »Vaterland,« das sich, wie er wußte, Herr Bredal hielt, schrieb er einige Artikel, die in Frederiksborg großes Aufsehen machten.

Rechtsanwalt Frandsen interessierte sich immer noch lebhaft für Svend, und er brachte es durch seine persönliche Bekanntschaft mit dem Amtmann dahin, daß der junge, talentvolle Bauer, als der alte Schultheiß gestorben war, zum Schultheiß von Alsingröd ernannt wurde. Damit rückte Svend auf einen Platz vor, der ihm ein großes Ansehen im Dorfe verlieh, ein Platz, der wohl auch von Frederiksborg aus bemerkt wurde.

Um das Interesse für die Ständeversammlung zu wecken, entbot Svend alle Schultheißen des Bezirks zu einer Zusammenkunft, bei der die verschiednen Gemeindeanliegen, wie Fronfuhren, Hetzjagden, der Hausierhandel und verschiednes andre beraten werden sollten, und die ihm zugleich Anlaß zu einer Reise im Bezirk herum geben sollte; der Polizeidirektor erhielt indes Nachricht von diesem eigenmächtigen Vorgehen und verbot die Zusammenkunft in Rücksicht auf eine soeben erschienene Polizeiverordnung (vom 13. September 1835); der junge Schultheiß bekam einen Wischer für seinen Diensteifer, aber die Befriedigung hatte er doch davon, daß er noch lange der Held des Frederiksborger Bezirks war.

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