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Buchschmuck

Elftes Kapitel

Svend Börgesen wurde mager; das Essen schmeckte ihm nicht, und oft ging er mitten in der Nacht auf die Felder hinaus.

Die Sache mit Maren kam zuletzt dahin, daß er wohl eine Scheidung erreichte, aber er mußte den Hof behalten und ihr dafür 1000 Reichsthaler auszahlen, sowie eine Verschreibung über 300 weitere Thaler geben. Dadurch waren die den Hof belastenden Schulden etwa bis zur Höhe seines wirklichen Werts angewachsen, und nur durch das besondre Wohlwollen des Rechtsanwalts Frandsen und mit großen Nebenausgaben konnte er das von ihr verlangte Geld zusammenbringen.

Ach! könnte er doch das Leben der letzten fünf Monate ungeschehen machen! Die Schande, den Zorn, die Demütigung, die er zwischen diesen vier verfallnen Mauern durchgemacht hatte!

Wie hatte das Leben die Lose verändert! Während seiner ganzen Kindheit und seiner Burschenzeit war er das Wunder seines ganzen Heimatsorts gewesen, voll Großmut, der Gegenstand allgemeiner Bewundrung und Achtung. Wo war einer, der so wie er reiten, schießen, tanzen und dreinschlagen konnte? Wo war der Soldat, den man mit ihm vergleichen konnte? Wer konnte einen Kohlenmeiler bauen wie er? Wer hatte eine so stolze Haltung, einen so schnellen Verstand, solch ein frisches Aussehen? Wohin er kam, lachten ihm die Mädchen entgegen, er durfte nur die Hand ausstrecken – gleich öffneten sich zwei Arme für ihn!

Und was war nun aus allem geworden? Mit einem Schlag war er aus seiner Höhe herabgestürzt und ging nun hier im Altenteil wie ein einsam verachteter Hahnrei herum, ausgelacht und verspottet von einer leichtsinnigen Dirne und ihrem Buhlen – er, Svend Börgesen!

Aber es sollte es nur einer wagen, mit dem Finger auf ihn zu deuten und zu sagen: Da siehst du! War er auch selbst schuld an seinem Unglück, so war er auch der Mann dazu, es ungebeugt zu tragen.

Was er von Anine hörte, lautete immer gleich betrübt und niederschlagend, ja an manchen Tagen sollte sie kaum zur Vernunft zu bringen sein. Marianne dürfe seinen Namen nie in ihrer Gegenwart aussprechen, und seine eigne Mutter war nicht mehr zu bewegen, einen Fuß in Bredals Haus zu setzen, seit sie dort einmal Anine begegnet war, und diese sie mit so schrecklichen Blicken angestarrt hatte, wie wenn sie sie durchbohren wollte.

Nun zogen die Herbstnebel über die Felder; überall bildete das Wasser Pfützen und sickerte durch halbvertrocknete Grasbüschel auf den Wegen und am Grabenrand in den weichen Sandboden; schwer und lautlos versanken die Holzschuhe im Sand – Öde, Dunkelheit, verzehrende Einsamkeit herrschte überall, und das alles wirkte wie eine Grundmelodie zu der ewig seufzenden Totenklage des Meeres.

Svend versenkte sich nicht mit Bewußtsein in die Einzelheiten dieser Naturstimmungen; sich selbst unbewußt ließ er sie auf sich einwirken, wie sie sich zeigten, groß und vollendet und sich in ihren Tönen mit den Regungen seiner eignen Seele vermischend. Oft überkam ihn das erdrückende Gefühl der Verlassenheit, es war ihm, als ob sich der frische Lebensstrom seiner Jugend plötzlich in eine Wüste verlaufen habe und dort in dem toten Sande versinke.

Hätte er nur wenigstens einen Menschen gehabt, bei dem er sich hätte aussprechen können! Aber im ganzen Dorf gab es nicht einen einzigen, zu dem es ihn hingezogen hätte; er lebte in seiner Welt, und die Leute des Dorfs in der ihrigen; alle waren ihm fremd, und jetzt, nach der Geschichte mit Maren, konnte er sich noch weniger als vorher zum Ausgehen entschließen.

Es kam ein lauernder Ausdruck in seine Augen; fortwährend verfolgte ihn der Gedanke, daß alle Leute nur darauf aus seien, sich in seine Sachen zu mischen. Mit seinen Nachbarn bekam er Streit über das Vieh und die Heckenzäune; einen von ihnen prügelte er sogar an einem Sonntag Morgen auf dem Wege zur Kirche gründlich durch. Der Pfarrer des Orts sagte von ihm, er habe noch ein Stück der alten Barbarennatur an sich, stets habe er die Hand um die Streitaxt geballt, nur trage er diese für gewöhnlich auf dem Rücken verborgen.

Manchmal brach sich auch das Gesunde in seiner Natur wieder Bahn und schob alle harten Gedanken, alles Böse und alles Krankhafte auf die Seite, indem es die alte Lebenslust wieder in ihm anfeuerte; aber schon nach wenig Tagen, während er darüber nachgedacht hatte, was er nun anfangen solle, schwand aller Mut aufs neue, und er versank wieder in eine dumpfe, trotzige Gleichgiltigkeit.

Ein kleines, verwahrlostes Mädchen lief auf dem Hof herum, ein scheues, magres Ding, bei dem sich schon der Anfang eines verwachsenen Rückens zeigte; es hatte als kleines Kind die englische Krankheit gehabt und litt noch an deren traurigen Folgen.

Wohl hatte Svend das Kind durch eine kluge Frau mit Glockenfett einreiben und Kirchenblei in ihr Hemdchen nähen lassen, es auch unter einem gabelförmig gewachsenen Schiefbaum durchgehen lassen; aber alles war vergebens. Es war ein Jammer, das arme, bleiche Geschöpfchen anzusehn!

Ach! schon seit mehreren Jahren trippelte dieses arme Kind wie ein verscheuchtes Hühnchen auf dem Hofe herum und wußte nicht recht, wo es hingehörte. Es war auch so sonderbar! Zuerst war seine Mutter, seine richtige Mutter fortgeblieben, sie wußte nicht wo; dann war eines Tages eine neue Mutter gekommen, dann war der Vater fortgegangen, und dann kam auf einmal wieder ein neuer Vater; die neue Mutter hatte ihr gesagt, es würde bald ein kleiner Bruder oder ein Schwesterchen kommen, aber das war nicht wahr, denn es kam ja keins. Und eines Tages war auch die neue Mutter fortgeblieben – – –

Svend saß eines Abends in der Stube neben ihr, als sie sich auskleidete. Lieber Gott! was für magre Ärmchen hatte das Kind! Die reinen Stecken! Die Thränen traten ihm in die Augen; er nahm es auf seinen Schoß und drückte es an sich: Arme, kleine Lene Marie!

Dann war auch Stern da. Er hatte die Sehnsucht nach dem treuen Tier nicht länger ausgehalten und hatte es gegen ein viel kräftigeres und jüngeres Pferd für sich eingetauscht. Wohl zehnmal den Tag ging er in den Stall und legte seinen Kopf an des Tieres harte Kinnladen: Du guter Kerl! – Jawohl, jawohl, mein guter Alter! ... Erinnerst du dich an jene Nacht, als zwei auf deinem Rücken saßen? – O ja, du weißt es noch ganz gut! Es war eine schöne, klare Nacht!

Zuweilen war er mit der Büchse draußen und kam auch öfters mit einem Hasen oder ein paar Feldhühnern heim; aber oft vergaß er die Jagdbeute ganz und gar, und sie verdarb in seiner Tasche.

So oft Svend nach Frederiksborg kam, ging er in der Mörkestraße an Bredals Haus vorüber und ließ seine Augen forschend über die Fenster gleiten; allein sie, die er suchte, sah er niemals. Einmal saß Madame Bredal am Fenster, und er sah ihr gerade in die Augen, aber sie erhob sich ganz entsetzt und streckte abwehrend die Hand aus, wie um jemand, der weiter hinten im Zimmer war, abzuhalten, näher zu treten.

Der Winter verging mit Lesen, Jagen und einsamen Kämpfen. Oft war es recht schön hier draußen, das konnte er nicht leugnen; die großen, öden Felder und die Küste von Schweden in ihrer feinen, glänzenden Reinheit konnten wunderbar schön aussehen und bei Sonnenauf- oder -Niedergang in der herrlichsten, rosenroten Farbe erglühen; und das dunkelblaue, sich weit vor ihm ausbreitende Meer wirkte an stillen Tagen doppelt anziehend in seiner unendlichen Schönheit und großartigen Ruhe. Dann konnte wohl zuweilen ein Glanz über sein Gesicht ziehen, wie ein leiser, leiser Hoffnungsschimmer aus der Tiefe seiner beschwerten Seele.

Aber die Abende daheim waren schrecklich. Drüben am Ofen, einem riesigen alten Kachelofen, der beständig rauchte, saßen das Mädchen und die Wirtschafterin mit Spinnen und Wollkarden beschäftigt, jede auf einer Seite der eisernen von der Decke herunterhängenden Lampe. Der Knecht lag auf der Ofenbank, und der Stalljunge saß in der Ofenecke und flocht Salbandschuhe. Der über dem Tisch hängende rote Vogel drehte sich schläfrig in dem vom Fenster kommenden Luftzug, und die neben dem Ofen aufgehängten Tücher bewegten sich leicht beim Schnurren des Spinnrads. Den ganzen Abend wurde kein Wort gesprochen, es war ein ordentlich wohlthuendes Geräusch, wenn das einförmige Kratzen der Karden und das Schnurren des Spinnrads durch den unschuldigen Lärm unterbrochen wurde, den der Stalljunge hie und da verursachte, wenn er einen seiner lose sitzenden Holzschuhe zu Boden fallen ließ.

Oft zündete sich Svend ein Licht an und setzte sich mit einem Buch an den Tisch, um zu lesen; aber gewöhnlich blies er das Sparlicht bald wieder aus und blieb bei dem qualmenden Docht in tiefe Gedanken versunken sitzen. – – Was sie jetzt wohl that? Um welche Zeit gingen Bredals zu Bett? Ob sie das neue grüne Kleid am Werktag trug? Ob sie allein in ihrem Zimmer schlief? Wie solch ein feines Bett wohl eigentlich aussah? – – Dann wanderten seine Gedanken hinaus in die Zukunft, in die verhüllte Zukunft, und beschäftigten sich mit all den Möglichkeiten des Schicksals, die ihm seine erhitzte Einbildungskraft vorspiegeln konnte.

Im Anfang März hörte er, Maren habe ein totgebornes Mädchen zur Welt gebracht, und vierzehn Tage nachher sei sie auf einem Tanzfest im Wirtshaus Gilleleje gewesen. Obgleich es eine Erleichterung für ihn war, als er hörte, daß das Kind tot sei – man sagte, sie habe es im Schlafe erdrückt –, so ging es doch lange mit ihm herum, und er war ganz krank vor lauter schweren Grübeleien; sein ganzer Haß, sein ganzer Ekel und Zorn entbrannte aufs neue, er konnte es auf dem Hofe kaum aushalten, es war ihm, als ob ihm Maren in jedem Winkel entgegenträte.

Da war es für Svend eine freudige Überraschung, als Jens Ludwig ihn im Juli eines Tages besuchte – müde und staubig, mit einer Reisetasche über der Schulter.

Ich bin auf einer Fußreise, sagte er, ich will nach Seeborg und Hornbeck; da erinnerte ich mich, daß Sie hier in der Nähe wohnen, und wollte einmal nach Ihnen sehen. Darf ich heute bei Ihnen übernachten?

Natürlich, mehr als einmal, so lange Sie wollen!

Danke, danke! Ach, wie schön ist es hier!

Er öffnete den Mund und atmete die frische Luft in langen Zügen ein. Welch herrliche Luft!

Kommen Sie von Frederiksborg?

Ja, ganz direkt; Onkel und Tante und Mille fuhren nach Slangerup, und da dachte ich, ich wolle auch ein wenig ausfliegen.

Dann ist beinahe niemand mehr zu Hause?

Doch, das Dienstmädchen ... er wurde plötzlich rot und machte sich eifrig daran, seine Tasche zu öffnen; sie können das Haus nicht ganz allein lassen ... Hören Sie, was denken Sie denn von dem königlichen Sendschreiben vom 28. Mai vorigen Jahres?

Welchem Sendschreiben?

Dem königlichen Sendschreiben wegen der Stände.

Von dem weiß ich gar nichts.

Ach, das bedeutet einen Sieg für das Volk! Ich sprach kürzlich mit einem Mann, Namens Grüne, darüber, der sagte, dieser Sieg sei »der erste Stich in den Busen der Souveränität.«

Der junge Freiheitsschwärmer, dessen Radikalismus einen sonderbaren Gegensatz zu seinem zarten, mädchenhaften Aussehen und seinem ganzen zurückhaltenden Wesen bildete, und der auch in politischer Hinsicht einen ziemlich vereinzelten Standpunkt in der damaligen Studentenwelt einnahm, indem er das Lob der französischen Schriftsteller sang, war von glühendem Zorn gegen die allmächtige Souveränität erfüllt und benutzte jede Gelegenheit, diesen Zorn auch andern einzupflanzen.

Es ist doch sonderbar, Svend Börgesen, daß diese Idee der uneingeschränkten Souveränität ihrer innersten Natur nach empörend ist. Meinen Sie das nicht auch? Denken Sie sich: das Schicksal ganzer Völker von der Laune eines einzigen Menschen abhängig zu machen!

Ja –

Es kann vielleicht ein edler und tugendhafter Mensch sein, aber ebenso kann es auch ein Henker, ein wahnsinniges Tier sein. Denken Sie nur an das römische Ungeheuer, den Cajus Caligula!

Ich weiß nicht viel von ihm.

Er ließ den Leuten, die ihm widersprachen, die Zunge aus dem Munde reißen, sperrte die Menschen in Kisten ein, in denen sie ganz krumm liegen mußten; er zwang seine Ratsherrn, neben seinem Wagen herzulaufen, bis ihnen das Blut aus der Nase quoll. Und als seine Schwester starb, ließ er einer ganzen Menge Leute, die nicht darüber weinten, den Kopf abschlagen. Und andre, die weinten, ließ er kreuzigen.

Er muß verrückt gewesen sein.

Ganz und gar verrückt! Aber er saß nach dem Recht der Gesetze auf dem Thron, bis ihm dreißig Dolche in den Leib gestoßen wurden. Das ist gerade das Gräßliche, daß solche Alleinherrscher das Recht haben, so zu sprechen wie er: Ich bin Gott, und Gott hat das Recht, zu thun, was er will.

Jens Ludwig ging einmal im Zimmer auf und ab und trat dann wieder auf Svend zu.

Was meinen Sie wohl, was unser allergnädigster König und Landesvater sagen würde, wenn er hören könnte, was ich eben jetzt mit Ihnen gesprochen habe? Ich würde zum Tode verurteilt.

O! –

Es entstand eine kleine Pause. Jens Ludwig ging wieder im Zimmer auf und ab und fuchtelte mit seinem Stock wild durch die Luft.

Wie geht es sonst in Frederiksborg? begann Svend von neuem.

Nein, es ist empörend, empörend, meinen Sie nicht auch?

Ja, freilich ...

Wieder Stille.

Wie geht es sonst in Frederiksborg? fragte Svend noch einmal.

O, es giebt nichts neues, soviel ich weiß ... Nein, aber Sie müssen doch verstehen, Svend Börgesen, wie das in einem kocht, wenn man all diese Dinge in der Nähe betrachtet!

Das kann ich gut verstehen; aber ich meine doch, wir haben einen guten König. Denken Sie nur daran, was er schon als Kronprinz mit Bernsdorff, Reventlow, Colbjörnsen und allen diesen Männern zusammen gethan hat. Das war zur Zeit meiner Großeltern; Sie können glauben, wir Bauern vergessen so etwas nicht.

Das ist auch vollkommen recht und gut. Denk an alles Gute der Vergangenheit, aber vergiß die Zukunft nicht, so heißt es.

Sonst stimme ich natürlich ganz mit Ihnen überein. Es giebt mir jedesmal einen Stich ins Herz, wenn ich daran denke, wie in frühern Zeiten die Großen mit den Bauern umgegangen sind.

Wenn sie sie in den Stock spannten.

Ja, und noch vieles andre. Meine Großmutter erzählte so manches, das sie in alten Zeiten selbst gehört hatte, und ich habe auch ziemlich viel gelesen und hie und da etwas aufgeschrieben, denn es ist ganz gut, wenn man bei Gelegenheit so etwas nachschlagen kann.

Das waren freilich schreckliche Zeiten. Wie kann man sich da wundern, daß die Nachkommen dieser Ärmsten jetzt noch in der größten Unwissenheit leben und eine vollständige Gleichgiltigkeit zeigen, sowohl gegen die menschliche Gesellschaft als gegen die eigne Lage; Sie allerdings nicht, Svend, aber sonst beinahe alle Bauern; es finden sich bei ihnen überhaupt noch manche Spuren des alten Sklavengeistes bis auf den heutigen Tag.

Bei einigen freilich, das kann sein.

Wie erbärmlich ist es zum Beispiel, einen Bauern zu beobachten, wenn er auf irgend ein öffentliches Amt muß. Zuerst steht er lange im Hausflur, schnaubt und putzt sich die Nase, dann zieht er die Holzschuhe ab, streicht sorgfältig jedes Strohhälmchen von den Strümpfen, reibt sich das Gesicht ab, hält die Mütze krampfhaft in der Hand und zittert vor Angst. Dann klopft er ehrfurchtsvoll an die Thür und wagt nicht einmal gleich aufzumachen, wenn auch »Herein« gerufen wird. Schließlich öffnet er die Thür, sieht sich mit ängstlichen Augen um und kommt dann kriechend näher ... Ach, das ist erbärmlich! Sind denn das nicht auch Menschen, vielleicht zehnmal bessere, als die mit Orden behängten Dummköpfe, die sie herumhunzen?

Da stimme ich ganz mit Ihnen überein. Sie dürfen mir glauben, ich mache keinen krummen Buckel vor solchen Leuten.

Das gefällt mir! wir zwei verstehen uns ... Hören Sie, wollen wir nicht »du« zu einander sagen? Wir kennen uns jetzt doch schon seit vielen Jahren!

Sie drückten sich die Hände mit dem warmen Freundschaftsgefühl der Jugend.

Jens Ludwig blieb eine ganze Woche da; er machte kleine Ausflüge nach den Quellen, dem Grab und den Ruinen des Klosters Adserbö. Jeden Tag führte er lange Gespräche über die neuen, noch leisen Frühlingswinde, die über das Volk hinwehten, und mit jedem Tag wuchs sein Erstaunen, als er sah, wie aufgeklärt der junge Bauer für seine Verhältnisse war.

Kannst du schreiben ... ich meine, selbst etwas zusammensetzen?

Svend holte sein Schreibheft. Im letzten Winter und im Frühjahr habe ich manchmal am Sonntag etwas zusammengeschmiert; aber ich kann keinen Staat damit machen.

Jens Ludwig schlug das Heft auf. Ach, das sieht ja gar nicht so schlimm aus! Laß einmal sehen; was ist das hier?

Etwas vom Bauern:

Zu der zeit, da der bauer versunken war in armut und unwissenheit vermittelst schlechten zeiten und ungünstigkeit der witterung und unterdrückung, da war die bebauung des bodens nächstens eine unmöglichkeit für den kleinen mann; ich kann mich erinnern, daß meine großmutter mir erzählte, daß ihr vater, der ein zinsbauer war, niemals saatkorn hatte wegen seiner armut und es entlehnen mußte und acht pferde vor den wagen spannen, von denen zwei so mager und ausgemergelt waren, daß sie einmal in einem morast stecken blieben und umkamen ...

Er schlug das Blatt um und las auf der andern Seite.

... aber wenn die großen uns bauern einen bessern unterricht geben und uns ein wenig im lande mttreden lassen würden, so sollten sie bald sehen, daß wir bauern ebenso gute gaben haben wie die städter und die herrenleute und können unserm könig und unserm land ebenso viel helfen wie sie, vielleicht noch ein wenig mehr als alle die studierten die auf uns heruntersehen darum daß wir friesröcke und rote mützen tragen ...

Svend Börgesen! rief der Student, du bist aus dem rechten Holz gemacht! Du mußt studieren und aber studieren! Ich werde dir Bücher leihen, ich kann dir so viele, als du nur willst, verschaffen!

Wie willst du das machen?

Rask ist mein guter Freund – du weißt, Rasmus Rask, der Sprachgelehrte –, er ist Bibliothekar an der Universitätsbibliothek, und wenn er hört, daß die Bücher für einen jungen, vorwärtsstrebenden Bauern sind – er ist ja selbst der Sohn eines armen Häuslers –, dann bin ich ganz gewiß, daß ich alles bekomme, was ich haben will.

Da bin ich dir sehr dankbar dafür. Aber wie soll ich sie hierher bekommen?

Ich schicke sie mit dem Fuhrmann, Jens Nelleröd, nach Frederiksborg und trage ihm auf, er soll sie bei meinem ... oder halt ... in Abels Wirtshaus abgeben.

Das wäre schön, denn jetzt im Winter wüßte ich gar nicht, wie ich die Zeit totschlagen sollte.

Svends Augen glänzten bei diesen Gesprächen, aber dazwischen hinein war es doch immer wieder, als ob sich seine Augen in etwas ganz weit Entferntem verlören.

Bis wann gedenkst du wieder in Frederiksborg zu sein?

Jens Ludwig meinte, in drei bis vier Tagen.

Nun – Svend zögerte und spielte mit seinem auf dem Tisch liegenden Schreibheft ... ist bei Bredals alles wohl, geht es ihnen gut?

Nicht ganz: das heißt, Onkel und Tante sind wohl, Mille auch, sie sind alle gesund.

Svend wartete eine Weile. Wem geht es denn nicht gut? fragte er langsam.

Hm! Lieber Freund, laß uns lieber ... ich weiß nicht ... er wurde wie gewöhnlich dunkelrot, ... es ist so traurig; aber sie vergißt es wohl mit der Zeit.

Du meinst das mit Troels?

Ja, ich meine ... das Ganze, es ist ja so verwickelt.

*

Svend Börgesen arbeitete den ganzen Sommer und Herbst in seiner Sandwüste, aber er hatte keine rechte Ruhe dabei, ging von einer Arbeit zur andern, ehe die erste ganz fertig war, oder versank über seinen Rechnungen in tiefe Gedanken.

An den Sonntagen und später auch an den langen Winterabenden saß er über seinen Büchern und seinem Schreibheft, das durch neueingeheftete Papierbogen zu einem dicken Buch heranwuchs. Zuweilen ritt er nach Frederiksborg oder heim zu seiner Mutter, die immer noch über die Folgen ihrer schweren Krankheit klagte. Die Leute erkannten schon von ferne den schweigsamen, vornübergebeugten Reiter, der in sausendem Galopp daherjagte und schon von weitem jedem Vorübergehenden gewissermaßen »Platz da« zuzurufen schien.

Die Einsamkeit bei seinem Kummer und den bösen Erinnerungen machte ihn krank im Gemüt und wollte ihm öfters jeglichen Lebensmut rauben. Hütte er nicht seine guten Verbündeten, die Bücher gehabt, so wäre ihm dieses Leben hier draußen in der fremden Gegend, wo er nicht einmal einen Kohlenmeiler errichten konnte, unerträglich geworden.

Das Lesen wurde ihm immer lieber und angenehmer. In mancher stillen Stunde wurde er durch die mahnenden Stimmen der Bücher aus seinem Grübeln herausgerissen und in eine ganze Welt neuer Vorstellungen hineingeführt, in der sein Geist mehr und mehr aufwachte und die geistige Nahrung fand, nach der er sich sehnte. Und Ludwigs aufreizende Worte hatten in seinem Herzen Wurzel geschlagen, und je mehr er sich in die Bücher und Blätter vertiefte, die ihm sein Freund von Zeit zu Zeit schickte, um so mehr erwachte in ihm die Lust, sich mit der politischen Bewegung, die zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts begonnen hatte, in Verbindung zu setzen, sowie das Interesse für den Drang nach Freiheit und Gleichheit, der jetzt alle Gemüter bewegte.

Er las eine ganze Reihe Bücher der damaligen epochemachenden Schriftsteller und Fortschrittsmänner. Am meisten interessierte er sich für das neue politische Tageblatt »Die Kopenhagener Post,« wo junge, warmherzige, freiheitsbegeisterte Männer mit großer Gewandtheit die Angelegenheiten des Fortschritts besprachen. Oft meinte er da in der Ferne ein Brausen zu vernehmen, einen dumpfen Lärm von heranrückenden, aus jungen Leuten bestehenden Truppen, die ihm zuriefen: Komm, komm zu uns!

Aber dann erklang wieder eine ganz andre Stimme in seinen Ohren. Je mehr sein Verhältnis zu Anine und alles, was mit der Liebe zu ihr zusammenhing, zurückzutreten schien, um so deutlicher fühlte er, daß sie ihm unentbehrlich sei. Was waren sie doch ihr ganzes Leben lang einander gewesen? Wenn er sein früheres Leben überdachte, so kam es ihm jetzt vor, als ob ihr Leben ein Teil seines eignen gewesen sei; diese beiden Leben waren mit Sagen- und Waldespoesie, mit Kohlenduft, mit gemeinsamen Hoffnungen und Erinnerungen so innig verschlungen, sie rankten sich ineinander wie zwei Hopfenpflanzen, die seit vielen Jahren ihre Ranken ineinander gewebt haben und sich nun nicht mehr trennen können, ohne zerrissen zu werden.

Und sie waren auch nicht getrennt; sie wurden mit unsichtbaren Armen noch zusammengehalten, sie wuchsen auf demselben Erdboden, atmeten dieselbe Luft. Daß Anine hinter den dunkeln Erinnerungen trotz allem noch immer an ihrer großen, warmen Liebe festhielt, das sagte ihm ja ihr Benehmen ganz klar; was ihn selbst anbelangte, so mußte er gestehen, daß er erst jetzt richtig erkannte, wie teuer sie ihm war.

Ach, wie leuchtend würden ihm die öden Felder von Tisvilde erscheinen, wenn sie bei ihm wäre! Wie behaglich würde es sich dann in diesen Stuben wohnen lassen!

Als die Sperlinge im Frühjahr mit langen Roßhaaren im Schnabel herumflogen, und es mild von den Wäldern herüberwehte, nahm Svend eines Tages seinen Gänsekiel, sein Tintenfaß und Schreibpapier zur Hand, setzte sich an den Tisch und schrieb:

 

Tisvilde, 8. April 1833.

Teure Freundin!

Ich ergreife heute die Feder, um dir zu schreiben, was ich allerdings noch nie gethan habe; aber ich will dir aus wahrhaftigem Herzen sagen, meine liebe Freundin, daß ich sehr oft bereut habe, was ich gethan; aber ich habe auch viel mehr gelitten, als irgend ein Mensch weiß, sodaß es wieder quitt ist und als ausgelöscht betrachtet werden kann.

Nachdem er dann von seiner Einsamkeit gesprochen hatte, von dem kleinen, mutterlosen Mädchen, das etwas Pflege sehr notwendig brauchen könnte, sowie von dem »großen Ansehen, das er in Tisvilde genieße, wo alle Respekt und Achtung vor mir haben,« und hierauf fein angedeutet hatte, welcher Art sein derzeitiger und sein zukünftiger Vermögensstand sei, schloß er, wie folgt:

Wenn du darum gesonnen bist, teure Freundin, wie ich glaube, daß du es wirklich bist, so teile ich dir mit, daß ich unsre Freundschaft wieder aufrichten will, wie sie vorher gewesen ist, und ich will dann kommen und dich besuchen und in Glück und Unglück für immer dein bester Freund sein. Gott der Allmächtige wird uns beschützen, wenn noch einige Zeit darüber hingehen sollte, ehe wir uns in Gottes Haus vor dem heiligen Altar die Hände reichen können. Und nun bitte ich dich, deine geneigte Antwort am Ostersamstag dem Sören in Abels Wirtshaus zu übergeben, und bin mit freundlichem Gruß von mir

dein
Svend Börgesen,
Hofbesitzer in Tisvilde.

 

Er las den Brief aufmerksam noch einmal durch, setzte da und dort noch ein Komma, wo eigentlich keins hingehörte, verstärkte die Unterschrift kräftig mit der Feder, warf den Kopf zurück und überblickte das ganze Schreiben mit wichtiger Miene.

Merkwürdigerweise war keine Antwort darauf gekommen, als er sich am Sonnabend bei dem Knecht in dem genannten Wirtshaus danach erkundigte. Ob sie denn am Ende den Brief nicht bekommen hatte? Ein wenig niedergedrückt und beunruhigt kehrte er auf seinen einsamen Hof zurück.

Am Ostermontag war entsetzlich stürmisches Wetter. Da kam ein Wagen angefahren, und ein Mann stieg aus. Er hatte seine Pelzmütze mit einem Tuch festgebunden, das ihm die Ohren und einen Teil des Gesichts verdeckte und oben auf dem Kopf zugeknöpft war.

Guten Tag, Svend Börgesen.

Svend stand unter der Thür und hielt seine Mütze fest; er wurde vom Sturm beinahe umgeblasen. Das ist ja Herr Bredal! rief er, und sein Gesicht überzog sich mit dunkler Röte.

Der Angekommne, der nicht verstehen konnte, was Svend sagte, schob das Tuch zur Seite und rief: Ich bin der Adjunkt Bredal!

Ja, ich kenne Sie gut, seien Sie willkommen!

Meine Frau und ich haben einige Tage bei meinem Schwager in Helsingör zugebracht, und da dachte ich, ich könnte zugleich einen kleinen Ausflug hierher machen.

Sie sind sehr willkommen, Herr Bredal! Bitte, fahren Sie herein, ich will das Thor aufmachen, dann kann der Knecht das Fuhrwerk versorgen.

Er rannte wie ein junges Füllen.

Sie gingen in die Stube hinein und sprachen zuerst eine Weile vom Wetter, von dem Helenengrab und den wunderthätigen Quellen. Bei jeder kleinen Pause blickte Svend Herrn Bredal aufmerksam von der Seite an.

Wie geht es deiner Mutter?

Danke! Sie hat Mühe und Sorge wie immer, antwortete Svend, indem er die Achseln zuckte.

Es ist doch sonderbar, daß du auf diese Weise von ihr getrennt bist!

Das ist nun einmal so Gottes Wille gewesen.

Bredal lächelte. Gott hat viele böse Fehler gemacht, scheint es mir. Wenn er einmal Rechenschaft ablegen soll, so wird es ihm recht schlecht gehen, denn er wird nicht wissen, wie er sich verteidigen soll.

Svend sah ihn erstaunt an.

Aber nun sag mir, fuhr Herr Bredal fort, wie geht es eigentlich Marianne?

Svend schwieg ein Weilchen, dann sagte er: Sie ist wieder gesund.

Aber es geht wohl recht knapp bei ihr zu? Man sagt, Troels bekomme nie einen Groschen Zins von seinem Gelde.

Das ist sehr wahrscheinlich.

Und man denkt, sie könne den Hof nicht mehr lange halten.

So?

Es ist nur gut, daß Anine nun weiß, was aus ihr wird.

Des jungen Mannes Augen fingen bei diesen Worten an zu glänzen.

Das ist ein gutes Mädchen, Svend Börgesen.

Ja gewiß, das ist sie.

Und ein Mädchen, das Charakter hat.

Ja ... das hat sie.

Wir haben sie wie eine Tochter lieb gewonnen, und sie hat jetzt auch angefangen, sich an uns wie eine Tochter anzuschließen.

Hm!

Und darüber sind wir recht froh.

Sagen Sie, Herr Bredal ... haben Sie keine Botschaft für mich?

Nein, ich habe keine Botschaft – von ihr; aber ich wollte nicht, daß du hier in Ungewißheit herumgehst und dich abquälst; deshalb fuhr ich herüber.

Ist denn etwas Besondres vorgefallen?

Ich will dir erzählen, Svend, wie es sich zugetragen hat. Dein Brief kam eines Tages, da wir gerade beim Mittagessen saßen. Sie las ihn gleich und wurde ganz bleich. Was giebt es, Anine? fragte ich. Sie antwortete kein Wort, ging ganz ruhig zum Ofen hin und warf den Brief ins Feuer ... ja, ich glaube, es ist das Beste, du erfährst es gerade heraus.

Sagte sie denn gar nichts?

Wir wußten natürlich gleich, von wem der Brief war, aber erst später, als meine Frau mit ihr allein war, kam alles heraus. Der Brief war von Svend, sagte sie, er hat wieder um mich gefreit. – Und du willst nicht? fragte meine Frau. – Nein, antwortete sie fest und ruhig.

Svend war sehr bleich geworden, und sein Gesicht zeigte einen verlegnen Ausdruck. Dann muß sie es eben bleiben lassen, sagte er und rieb seine Handflächen auf der Tischkante hin und her. Ich kann schon eine andre finden.

Ja – vielleicht wieder eine Maren.

Was soll das heißen?

Das soll heißen, mein junger Freund, daß sich nach solchen Geschichten kein ordentliches Mädchen mit dir einläßt.

Svend stieg das Blut in den Kopf, es sauste ihm in den Ohren.

Nun, Herr Bredal, darf ich vielleicht fragen, was meine Geschichten Sie angehen?

O, ich stecke meine Nase nicht in deine Geschichten; ich gebe zu, sie gehen mich gar nichts an; aber Aninens »Geschichten« gehen mich etwas an, verstehst du? Ich bin in guter Absicht hierhergekommen, aber da ich merke, daß du den Kopf noch immer sehr hoch trägst, so sollst du nun hören, was dir wohl bis jetzt noch keiner gesagt hat: du hast dich wie ein Esel gegen Anine benommen.

Herr Bredal, ich verbitte mir ...

Du hast ihr Leben verdorben, du hast ...

Ich handelte ehrlich und redlich gegen Anine ...

Svend Börgesen! Sieh mir gerade in die Augen, und dann sage das noch einmal, wenn du kannst.

Ich hatte ihr gesagt ...

Sieh mir in die Augen, sage ich!

Der eine ließ den andern nicht ausreden, beide waren in einem Augenblick dunkelrot im Gesicht geworden.

Ich hatte ihr gesagt, daß es zwischen uns beiden nichts werden würde, und so hatte ich das Recht ...

Das ist nicht wahr! Du warfst ihr eines Abends ein übereiltes Wort an den Kopf, ein Wort, das sie nicht im entferntesten für Ernst nehmen konnte, da sie dazu gar keinen Grund hatte, ganz besonders, da sie fest überzeugt war, du würdest von selbst zur Vernunft kommen, wenn du ein wenig darüber nachgedacht hättest, wie ungegründet und unverschämt du in deinem Zorn gegen sie gewesen warst.

Sie selbst lief von mir fort.

Es war nicht ein oberflächliches Verhältnis zwischen euch, wie zwischen ein paar Kindern, fuhr Herr Bredal fort, ohne darauf zu hören, was der andre sagte, es war ein ernsthaftes Verhältnis, und diese Art Verbindungen löst man nicht wieder, es sei denn nur nach schweren Herzenskämpfen und mit gegenseitiger Übereinstimmung; solche Verbindungen zerstört man nicht mit einem in der Übereilung hingeworfnen Worte, das man doch nicht im Ernst meint.

Sie selbst ging von mir fort.

Die Sache war jedoch die, daß du, ehe du es selbst wußtest, dich so tief in die Netze dieser Dirne hier verstrickt hattest, daß du nicht wieder los kommen konntest.

Herr Bredal, ich frage Sie noch einmal, was gehen Sie ...

Gut, ich stecke meine Nase nicht in deine Geschichten ... aber das sage ich dir wieder: sieh mir gerade in die Augen, Svend Börgesen, und kannst du dann vor Gott und deinem eignen Gewissen zu mir sagen: Es ist gelogen, Bredal! dann, ja dann will ich mir selbst auf den Mund schlagen und wie ein Hund davon schleichen.

Svend rieb seine Hand mit so starkem Druck auf der Tischkante hin und her, daß ihm die Handflächen brannten; ihm war, als ob die Blitze aus den großen, grauen Augen, die unmittelbar vor seinem Gesicht aufleuchteten, ihm wie Messerstiche ins Herz drängen, und es war ihm, als müsse er die Wirkung dieser Blicke ableiten, indem er den Schmerz in der Hand hervorrief.

Lassen Sie es nun gut sein, Herr Bredal.

Jawohl! Lassen Sie es nun gut sein! Danke du deinem Gott dafür, Svend Börgesen, daß Anine den Weg in das Haus Bredal gefunden hat. Denn sonst hätte es sein können, daß du, so oft du nach Alsingröd gekommen wärst, den vergnüglichen Anblick hättest genießen können, ein verrücktes, junges Mädchen zu sehen, das sich scheu in den Straßen herumgedrückt hätte.

O!

O ja! Ich will dir noch eins sagen – was kein Mensch ahnt –, es gab Zeiten, da mußten wir bei Nacht an ihrer Thür Wache halten, und meine Tochter wagte dann nicht, in demselben Zimmer mit ihr zu schlafen!

Svend blickte auf, schlug aber sogleich die Augen wieder nieder.

So könnte ich dir noch Verschiednes erzählen, das du nicht so leicht wieder abschütteln könntest, mein junger Freund, doch will ich dir nachgeben – lassen wir es jetzt gut sein.

Er erhob sich, nahm seine Pelzmütze, die wie ein geängstigtes Tier zwischen seinen Fingern zitterte.

Diese Art Sommernachtstraum in der Johannisnacht rächt sich, mein Freund. Es kann ja wohl die Sinne kitzeln, mit solch einer verliebten Dirne Hochzeit zu feiern, aber nachher, da kommt der Ekel ...

Svend war auch aufgestanden; er knirschte mit den Zähnen.

Aber, wie gesagt, ich stecke meine Nase nicht in deine Geschichten; ich habe dir nur sagen wollen, und ich sage es dir jetzt noch einmal: Du hast dich wie ein Esel und wie ein Schuft gegen Anine benommen; du hast sie mit deiner Untreue an den Rand der Verzweiflung und des Selbstmords gebracht und Unglück und Schande ihr ganzes Leben lang auf sie gehäuft; ja, das hast du gethan! Doch, wie gesagt – wir wollen es gut sein lassen. Deshalb laß das Mädchen jetzt in Frieden, denn das kann ich dir mit Bestimmtheit sagen: Niemals, niemals in diesem Leben wird Anine, die Tochter Niels Bendtsens, deine Frau! Guten Tag!

Der Sturm wurde im Laufe des Tages noch heftiger als am Morgen. Es war einer jener rasenden Stürme, die von dem Aufruhr in der Natur Zeugnis geben, der dem Wiedererwachen des Frühlings vorangeht. Die Geister des Winters, die im Walde gelauert hatten und sich in den Wolken des Nebels versteckt halten, fühlen, daß ihre Herrschaft zu Ende ist, und mit Johlen und wahnsinnigen Stößen fliehen sie aus dem Lande.

Svend ging, nachdem Herr Bredal fortgefahren war, hinaus und machte sich in den Nebengebäuden zu schaffen; er stopfte Stroh in die Löcher, verschloß Thüren und Riegel, stellte die Gerätschaften von einem Ort zum andern, aber er that alles wie im Taumel. Ein alter Kübel, der ihm im Wege stand, erhielt einen Stoß, daß die Dauben nach allen Seiten flogen.

Wohl eine ganze Stunde lang stand er im Pferdestall bei Stern, den Ellbogen auf dessen Rücken gestützt, halb auf dessen Seite liegend. Jeden Augenblick wandte das gute Tier wie teilnehmend den Kopf nach ihm und wieherte, aber er hörte es gar nicht.

Dann ging er hinein und nahm seine Büchse herunter, legte sie jedoch gleich wieder hin, warf sich auf die Bank, stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub den Kopf in seine Hände.

Die kleine Lene Marie sah ihn lange aufmerksam an; schließlich ging sie zu ihm hin und legte die Hand auf sein Knie.

Er strich ihr leicht mit der Hand über die Haare; keins sagte ein Wort.

Als die Leute am Abend ins Bett gegangen waren, zog er ein Buch hervor und begann zu lesen, aber er verstand nicht ein Wort von dem, was er las. Er stieß das Buch auf die Seite, nahm es wieder auf, stieß es von neuem fort, lehnte sich zurück an die Wand und schaute mit trüben Blicken zur Decke empor.

Ach! Was bedeutete doch das alles? Anine ... die Dirne ... Netze ... Warum hatte er ihn denn nicht zur Thür hinausgeworfen?

Er ballte die Faust und schlug sich damit auf die Kniee, daß das Handgelenk krachte.

Verrücktes Mädchen ... vor der Thür Wache halten ... das war Lüge und Übertreibung! ... Warum nahm ich ihn nicht gleich beim Wort und sagte ihm direkt ins Gesicht: Es ist gelogen, Bredal!

Aber die Torfgrube ...?

Konnte ich denn etwas dafür? Sie ließ sich mit Troels ein, und darüber wurde sie verrückt. Überdies – habe ich nicht alles gethan, was ich konnte, damit alles wieder gut würde?

Er wischte sich die Stirn mit dem Ärmel ab, fiel müde zurück, richtete sich jedoch schnell wieder auf. Nein, das war nicht die Wahrheit. Das Ganze war mit schlauer Kunst ineinandergewebt; das thun die studierten Leute, wenn es gilt, uns kleine Leute einzuschüchtern! Warum hatte er auch nicht gleich »du« zu ihm gesagt? Es reute ihn, er hätte ihm zurufen müssen: Kümmere dich um deine eignen Geschichten und halt dein Maul, Schulmeister! – Warum hielt ich ihm nicht die Faust vor das Gesicht? Was gehen ihn meine und Aninens Angelegenheiten an?

Seine Augen fielen aus ein altes rotes, geblümtes Taschentuch, das Bredal auf der Bank hatte liegen lassen: Svend nahm es, zerriß es in kleine Fetzen, warf die auf den Boden und stampfte mit des Füßen darauf:

Es wurde ihm immer klarer, der Adjunkt und seine Frau, diese setzten ihr solche Dinge in den Kopf, diese waren es gewesen, die so lange an ihr herumgearbeitet hatten, bis sie den Brief in den Ofen warf. Aber wenn sie mich entbehren kann, so kann ich ... der Teufel! sie auch entbehren!

Er erhob sich rasch, setzte sich jedoch gleich darauf wieder auf die Ofenbank.

Ernsthaftes Verhältnis ... Herzenskämpfe ...?

Hatte sie denn seinen Brief nicht verstanden? Konnte sie denn nicht daraus ersehen, wie er jetzt gekämpft hatte, zum mindesten ebensoviel wie sie?

Es brauste ihm im Kopf, wie wenn ihm alles Blut wild in den Ohren kochte.

Und nun dieses gräßliche Wetter! Er konnte deutlich hören, wie die Sparren und Balken in allen Fugen krachten; die alte wurmstichige Zimmerdecke hob und senkte sich mit dem Sausen des Windes, und einmal nach dem andern fiel ein Regen von wurmzerfressenem Mehl herab; der rote Vogel schaukelte ängstlich hin und her, aus allen Ecken des Hofes heulte es hervor, Blätter und Sand und kleine Zweige schlugen an die Fensterscheiben, und das Meer brüllte, wie wenn Millionen von Stieren auf einmal brüllten.

Er erhob den Kopf und horchte hinaus. Er meinte einen Notschrei vom Norden her durch den Sturm gehört zu haben. Sollte am Ende ein Schiff gestrandet sein?

Seine erhitzte Phantasie vergaß alles andre, sie malte ihm das Bild eines zertrümmerten Schiffs mit jammernden Frauen und Kindern vor; ein unbestimmter Drang, hinauszukommen, hinein in den Kampf mit Wind und Wogen, trieb ihn in die Dunkelheit hinaus und beschleunigte seinen Lauf durch den heulenden Sandsturm.

Atemlos erreichte er die Felswand und starrte hinaus. Nein, es war nichts zu sehen; überall Nacht und Finsternis, nur von matten, weißlichen Streifen, die kamen und gingen, unterbrochen.

Was für ein entsetzlicher Sturm war es aber! Der Fels unter seinen Füßen schwankte wirklich, die Luft war mit zischendem Schaum erfüllt, der ihm in die Augen peitschte und eine scharfe Salzschicht auf seinen Wangen absetzte. Donner auf Donner rollte durch die schwarze Öde, die Steine am Ufer entlang rasselten dumpf bei jedem Wellenschlag; heulende, zischende, brüllende Laute vereinigten sich miteinander in einem betäubenden Lärm.

Er stand eine Weile still und stellte sich vor, wie die Millionen lebender Tiere des Meeres – Krebse, Fische, Seehunde – entsetzt in den kochenden Wogen herumwirbelten, wie ganze Wälder von Seetang, aus dem Meeresgrund herausgerissen, mit Sand und schleimigen Fetzen von Quallen ans Ufer geworfen wurden. Er mußte doch morgen ... ach! zum Teufel mit dem Tang und allem andern dazu!

Er warf sich auf die feuchte Erde und ließ den Sturm ungehindert durch sein Haar und seine Kleider fahren; die Kälte that ihm wohl, und es war ihm, als ob diese unergründliche Finsternis und des Meeres lange, brausende Atemzüge ihn für eine Weile von seinen qualvollen Gedanken erlöst hätte.

Aber auf einmal drehte er sich auf die Seite, verbarg das Gesicht in beide Hände, drückte den Kopf in das nasse Gras und schluchzte und schluchzte!

Buchschmuck


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