Marie Nathusius
Tagebuch eines armen Fräuleins
Marie Nathusius

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Den 7. Oktober.

Der helle schöne Sonntagsmorgen verscheuchte diese Gedanken. Ich habe meine Hände gefaltet und lange in das tiefe Blau geschaut. Herr, lehre mich den Weg, den ich wandeln soll. Ich zog den Vers: »Darum spricht der Herr: wer glaubet, der fleucht nicht. Denn allein die Anfechtung lehrt aufs Wort merken.« Ja Herr, ich glaube, du wirst mir durchhelfen, ich will nicht nachlassen dich zu bitten. – Ich war sehr freudig, Sofie trat ein, ich hätte gern ein Kapitel in der Bibel mit ihr gelesen, doch fürchtete ich, voreilig zu sein. Lange werde ich mich freilich nicht halten können, und ich zweifle nicht, Lucie und Sofien zu gewinnen – lieber Herr, mit deiner Hilfe. Ich forderte Lucie auf, mich in die Kirche zu begleiten: sie versicherte, die Tante hätte es ihr verboten. So ging ich für heute allein, und eigentlich sehr gern. Ich war noch vor dem Läuten auf dem Kirchhof, wie still lag der Sonnenschein auf den Gräbern, einzelne Rittersporn und gelbe Totenblumen standen zwischen dem gelblichen Grase, ich wandelte von Stein zu Stein, von Kreuz zu Kreuz, und machte Bekanntschaft mit der stillen Gesellschaft. Aber zugleich auch mit den Lebenden im Dorfe. In dem Hause, las ich, wird eine Mutter, dort ein Vater, dort werden Kinder betrauert. In einem ganz frischen Grabe ruhet eine Witwe, die fünf Kinder zurückgelassen. Ihr armen Waisenkinder, ob es euch auch wohl so gut geht, als es mir ging, ob ihr auch so treue Liebe gefunden habt, als ich sie fand? Ich legte eine Aster auf dies bescheidene Grab, dachte dabei, ob ich den Waisenkindern nichts könnte zu Liebe thun. Beim ersten Glockenton ging ich in die Kirche, es war so still und rein, und licht, ein rechtes Gotteshaus. Die Stühle sind von dunkelem, geschnitztem Eichenholz, der Schloßstuhl ganz besonders schön. Das schönste aber sind zwei Seitenbilder des Altars, links ein knieender Ritter, fünf Söhne hinter ihm, rechts die Edelfrau mit fünf Töchtern. O wie schön, eine fromme und demütige Edelfrau zu sein. Wenn ich bedenke, wie diese waren, und wie es jetzt auf dem Schlosse aussieht! Wir sangen: »Nun bitten wir den heiligen Geist.« Ich habe es recht von Herzen mitgesungen, ja er kann auch hierher kommen und den rechten Glauben und den Herrn Jesum Christum und Frieden bringen. Während des Gesanges war Herr von Schaffau hereingekommen, ich hatte es nicht bemerkt. Kurz vor der Predigt aber erschien Fräulein von Ramberg mit vielem Geräusch. Sie ist es, die meinen Hut schön fand und sich dem Herrn von Schaffau zu Liebe täglich mit Tante Julchen zankt, auch deswegen vielleicht das Verbot, nicht in die Kirche zu gehen, übertreten hat. Ich mußte mich recht zusammen nehmen, so albernen zerstreuenden Gedanken nicht nachzuhängen, die Predigt half mir. Vom heutigen Evangelium Luc. 14 war es der 11. Vers, darüber er besonders sprach: »Denn wer sich selbst erhöhet, der soll erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöhet werden.« Ein niedriger Weg will mir nicht in den Sinn, und ich möchte doch nicht, daß Not und Muß, wie Trinchen mir immer prophezeit, mich erst dahin bringen. Nein, freiwillig möchte ich dem Herrn alles zu Füßen legen. Wie bin ich dankbar, den Prediger hier gefunden zu haben; es war das, was uns fehlte in der Heimat. Trinchens Gebete sind erhört, ich werde hier nie verlassen sein: wenn es mir im Schlosse bange wird, gehe ich nach der kleinen Pfarre. – Herr von Schaffau stand wartend an der Thür, doch blieb ich, ich wollte nicht mit ihnen gehen. Erst als alle Leute die Kirche verlassen hatten, trat ich heraus. Ich konnte mich von dem friedlichen Platz kaum trennen. Wie lieblich liegen Kirche und Pfarre hier auf der Höhe, gerade dahinter auf einem Angerhügel stehen zwei alte Linden, und eine Kastanienallee führt weiter in die Kirschplantage. Ich hätte das Bild gleich zeichnen mögen, doch fehlten mir Bleistift und Papier. Als ich den Fußpfad nach der Pfarre zuging, prüfend, ob ich nicht heut meinen Besuch dort machen könne, öffnete sich die kleine Hängethür, die nach dem Garten führt, und ein Kinderköpfchen nach dem andern lauschte herum. Ich begrüßte sie, sie kamen näher, ich setzte mich auf einen Grabstein, und bald hatte ich fünf liebliche Kinder um mich, die sehr vertraulich fragten und plauderten. Ich hörte, daß Papa Amtsgeschäfte habe, Mama in der Küche sei und schnell Mittagsbrot koche, und Herr Heber, der Hauslehrer, dort die beiden kleinsten Schwesterchen im Garten warte. Ich versprach sie bald zu besuchen, küßte die Kindlein alle und ging durch den Park zurück. Dort oben war es lichter stiller Sonntag, hier unten war es wüst und laut. Die Leute im Haus sind eifrig beschäftigt, heut Abend soll wieder Tanzvergnügen sein, selbst aus der Nachbarschaft erwartet man Gäste. Aus dem Frühstückszimmer tönte lautes Lachen und Scherzen. Im Vorzimmer legte ich Tuch und Hut ab, ich sah mich in dem hohen Spiegel und es bewegte mich freudig, es war mir, als ob ich einem der Edelfräulein in der Kirche gleich sähe. Trinchen hat aus dem schwarzseidenen Mantel der Tante, da sie doch nie im Winter ausgeht, mir ein Kleid gemacht, es ist etwas eng und schlank, dazu die weiße Spitze am Hals, es sieht mittelalterlich aus. Herr von Tülsen empfing mich. Mein Fräulein, heut sehen Sie wie eine barmherzige Schwester aus. Ich wollte, ich wäre es, entgegnete ich freundlich. Um des Himmels willen, fuhr er fort, man merkt, daß Sie aus der Kirche kommen. Aber da haben wirs, und ich sage Ihnen, wenn Sie noch öfters den Teufelsprediger hören, so wird's gefährlich für Sie. Er sprach nun in sehr leichtfertiger Weise über Predigt und Gottesdienst. Die meisten jugendlichen Zuhörer schienen sich darüber zu amüsieren und sahen nur zuweilen scheu nach Herrn von Schaffau, der ziemlich in unserer Nähe stand, aber so im Gespräch vertieft, daß er diese Unterhaltung nicht hörte. Ich sah mich um, ob niemand diesen Gotteslästerer unterbrechen würde. Plötzlich sagte er: Mein Fräulein, Sie sind ja so still? Ich entgegnete, daß ich vor Schrecken still sei, weil ich so etwas noch nie gehört. Er errötete, das machte mir Mut. Glauben Sie nicht, daß ich ein schlechter Christ bin, sagte er. Sie sind gar kein Christ, sagte ich ernsthaft. Er wollte sich verteidigen, sprach, daß er ein Freund sei von geistreichen Predigten, von schönen Kirchenmusiken. Es freute mich, daß sein hohles Geschwätz gar hohl klang, keinen Eindruck auf die Zuhörer machte. Ich aber ließ mich weiter nicht mit ihm ein, nur als er unsere Choräle Schlaflieder nannte, stand ich auf und fragte, ob ich ihm den spielen und singen dürfte, den wir heute in der Kirche sangen. Ich zog Forte und Piano zugleich, um den Orgelton nachzuahmen, und spielte in vollen Accorden und sang: »Nun bitten wir den heiligen Geist.« O ja, ich fühlte die Kraft des heiligen Geistes, er selbst schien an die Herzen der Zuhörer zu rütteln, Geplauder und Lachen waren verstummt; als ich aufhörte, sah ich nur erstaunte Gesichter. Herrlich, herrlich! begann Herr von Tülsen. Ich hörte nicht nach ihm. Rosalie legte ihre Hand auf meine Schulter und sagte. Wie schön! Tante Julchen lobte mich sehr laut, sie that es, um mich den anderen gegenüber zu heben. Herr von Tülsen ist auf ihrer Seite, er versicherte, meine Stimme sei eine Fünftausendthalerstimme, er wünsche nichts mehr als mich den Romeo singen zu hören. Er bat mich, noch ein anderes Lied zu singen; ich hatte fast Lust, der Aufforderung zu folgen. Es that mir augenblicklich wohl, vor diesen Leuten etwas zu gelten, o ich schäme mich sehr. Herr von Schaffau, der die Lobeserhebungen der Tante Julchen schon mit sehr gleichgiltigem Gesichte angehört, sah mich prüfend an. Ob sie doch nicht eine eitele alberne Person ist? las ich in seinen Zügen. Ich fühlte wohl, daß ich es sei, doch sollte es jetzt niemand merken. Ich schlug Herrn von Tülsen die Bitte ab, auch die Symphonie zu spielen, ich sah, wie die jungen Leute sich zum Spaziergang rüsteten und verließ mit ihnen und Lucie das Zimmer. Recht sehr viel thörichte Gedanken kamen mir darauf in den Sinn, o gewiß müssen wir immer auf unserer Hut sein und bitten: »Führe uns nicht in Versuchung,« der Versucher ist gar schlau. Ob es wirklich ein Unrecht ist, seiner Stellung gemäß in der Welt aufzutreten und sich von ihr geachtet zu sehen? so sprach er: die Tante hat mir zur heiligen Pflicht gemacht, dies nicht aus den Augen zu verlieren, sie hat mich versichert, daß ich sonst in meiner Stellung auch nichts nützen würde. Das schien mir sehr richtig, wenn ich keine Autorität im Hause habe, kann ich auf meine Schülerinnen nicht wirken. O nein, alle Täuschung ist vorüber, die einsamen Stunden haben mir wohl gethan, müßt ich doch nicht wieder hinein in den Strudel. O lieber Herr, gieb mir ein starkes Herz, gieb mir Kraft, dich stets neben mir zu fühlen.

Brief von Lulu nach Haus.

Teure Tante! Heute will ich den Brief vollenden und ihn morgen zur Post schicken, damit Du endlich von mir hörst. In meinem Stübchen wirst Du heimisch sein, ich kann nur noch einmal versichern, es fehlt mir an keiner Bequemlichkeit. Daß ich mir mein Haar allein mache, darf Dich nicht betrüben; ich mache es schnell und gut, ja wenn Sofie die Arbeit später, wenn sie mehr Zeit hat, auch übernehmen wollte, ich würde es nicht leiden.

Nun hört vom Sonntag, Jakob soll es auch mit hören, das war großartig. Ich möchte, liebe Tante, Du hättest es mit ansehen können, wie Frau von Ramberg im blauen Stoffkleid und goldgelben Paradiesvogel. Ach nein, ich preise Dich glücklich in Deiner Friedenswelt. Sage aber Trinchen, daß Sofie die weiße Feder vom Hut genommen und ein nelkenrotes Band an die Stelle geheftet hat. Er war zu auffallend, so sieht er weniger anspruchsvoll und doch sehr gediegen aus. Meine übrige Garderobe ist ausgezeichnet, ist auch ausreichend genug. Mit den Damen hier wetteifern zu wollen, wäre eine Thorheit, sie machen oft dreimal täglich Toilette. Sofie kam den Sonntag Nachmittag, um mir beim Ankleiden zu helfen, sie war fast erschrocken, daß ich nichts von einem Ballkleid aufzuweisen hatte; doch staunte sie, als ich des Onkels Staatskleid hervorbrachte. Sie steckte mir weiße Georginen in das Haar und vor die Brust, das sah prächtig zu dem schimmernden Goldbraun aus. So konnt ich auch einmal von der Treppe und durch das Zimmer rauschen. Mehrere Diener in Livree standen im Vorzimmer, später habe ich einen ganz genau kopirt und schenke ihn Jakob, er mag daran sehen, wie seinesgleichen jetzt aussieht. Weihnachten hoffentlich kann ich ihm etwas Livree schicken, aber sagt ihm das nicht. Uebrigens ist außer Vollberger niemand unter den Leuten, der so gebildet und gewandt ist, das sage ihm, liebe Tante.

Als ich zur Gesellschaft kam, war ich ganz geblendet von der Pracht der Toiletten und von der Ausstattung der Räume. Die alten Damen in Stoffkleidern, Federn und Aufsätzen, die jungen Damen in Flor und Crêpe und Blumen, das war ein feierliches Flüstern und Komplimentieren. Die Herren, mit weißen Kravatten und Handschuhen, gingen leichtfüßig über den glatten Fußboden, auf dem Orchester wurden die Geigen versucht, ich muß gestehen, es wurde mir ganz feierlich zu Sinne, voll Respekt wagte ich nicht durch den Saal zu schreiten und gab mich willig unter Lucies Schutz, die mich hinüber zu den jungen Damen führte. Liebes Trinchen, wird Dir bange? O nein, die Versuchung ging vorüber, ich habe nicht getanzt. Weißt Du warum? ich wurde nicht aufgefordert dazu, wenigstens nicht eher, als bis die feierliche Stimmung überwunden war. Ich sah, wie die alten Damen ihren Töchtern voran sich zierlich durch den Saal bewegten, wie die Töchter dann immer lebhafter wurden, wie toll durch den Saal flogen, und dann mit fliegender Brust vor mir standen. Könnt ich Dir den Blick beschreiben, mit dem sie auf mich herabsahen, von oben herab und mitleidig, das machte mich stolz, ich that das Gelübde, nie zu tanzen. Nein nicht deswegen, liebes Trinchen, habe ich es gethan, nein, ich gedachte Deiner Schilderungen von Tanzgelagen, ich fühlte, daß man nur so auf dem breiten Wege tanze, es war mir, als sähe ich Satan den Reigen führen, daß er mit all dem Schimmer und dem Glanze Stricke lege, um Seelen zu umgarnen. Liebes Trinchen, Du warst um diese Zeit gewiß allein in Deinem Kämmerlein. Du hast gerade für mich gebetet und auch: Führe sie nicht in Versuchung! Ich fühlte plötzlich eine wunderbare Kraft in mir, ich sah keine Herrlichkeit mehr, ich sah nur ein elend vergängliches Wesen, und die Menschen kamen mir ganz wunderlich vor, und unheimlich ihr tolles Treiben. Jetzt kam Herr von Tülsen, mich aufzufordern, ich dankte. Auch andere jüngere Herren folgten ihm, ich dankte. Ich wollte den Saal verlassen, doch bat mich Lucie dringend, zu bleiben, bis die Eistorten kämen. Ich blieb in meiner stillen Ecke, schob mir noch einen Blumenhalter vor, um ungesehen zu sein, und hing meinen Gedanken nach. Lucie saß in der andern Ecke des Sofas, die Eistorten kamen lange nicht, Lucie schlief ein, mir brauste die Tanzmusik immer ferner vor den Ohren, die Augenlieder wurden mir immer schwerer, ich schlief auch ein. Herr von Tülsen weckte uns mit lautem Lachen. Ich bitte Sie, wie können Sie hier schlafen! Warum nicht? entgegnete ich, – Mitten in dem Lärm? – Es war mir als einem, der außen Sturm und Unwetter hört und im sichern warmen Stübchen sitzt. – Er wollte meine Tanzlust noch ferner ergründen, ich wich ihm aus. Rosalie und einige fremde Damen traten zu uns, ihre Toiletten waren vertanzt, ihre Züge abgespannt, wir machten ihnen Platz auf dem Sofa. Hätte mich im Anfang so viel Schein verführen können, jetzt würde ich enttäuscht worden sein. Es giebt nichts traurigeres als eine vertanzte und überwachte Gesellschaft, besonders wenn man sie mit frischem Muth ansieht, wie ich es konnte. Ich war sehr vergnügt aufgewacht und bedauerte mit Lucie nur, die Eistorten verschlafen zu haben. Herr von Schaffau, der dies hörte, versprach gütigst, uns den folgenden Tag davon zu besorgen. Herr von Tülsen sah ihn erstaunt an und wandte sich leise zu mir und Rosalie. Unser Herr Wirth hat heute eine Rosenlaune, sagte er ironisch, was mag ihn nur hier fesseln? Sonst hat er uns die Ehre seiner Gegenwart bei ähnlichen Gelegenheiten nicht geschenkt. Das glaube ich wohl, sagte ich. – Wie so? – Weil er sich hier langweilt. Danke schön für das Kompliment, sagte Herr von Tülsen lachend. Ich schwieg. Ich war vielleicht voreilig gewesen, aber, liebe Tante, ich habe mich dadurch in Respekt gesetzt. Rosalie sprach, daß ich eigentlich recht habe und Herr von Tülsen begann Aehnliches zu philosophieren. Ich aber wünschte ihnen bald einen guten Morgen und verließ mit Lucie den Saal.

Als die Sonne am höchsten stand, traf ich meine Damen im Frühstückszimmer. Frau von Schlichten hatte bestimmt, daß mit heute die Konversationsstunden beginnen sollten. War in der Nacht mir die Gesellschaft traurig vorgekommen, so jetzt noch trauriger, Die Herren hatten das beste Theil erwählt, sie gingen auf die Jagd, die Damen aber, sehr langweilig und abgespannt, protestierten gegen das Englisch sprechen. Herr von Tülsen stimmte ihnen bei, er versteht kein Englisch. Die Unterhaltung drehte sich um den vergangenen Abend. Thekla und Fräulein von Ramberg entwickelten großen Witz, indem sie die Gesellschaft Revue passiren ließen. Mir schwoll der Kamm, Lucie hörte alles, ja sie lachte mit. Ich fühlte, daß es hier Pflicht sei, als Gouvernante aufzutreten. Liebe Tante, du hast stets an meinem Talente dazu gezweifelt, aber Trinchen hat recht: wem der Herr ein Amt giebt, dem giebt er auch Verstand; ich habe mich wieder sehr in Respekt gesetzt. Herr von Tülsen kam mir zu Hilfe. Was sagen Sie zu diesem Durchhecheln? wandte er sich scherzend zu mir, finden Sie es nicht abscheulich? Gewiß! entgegnete ich ruhig. Nun, ich bin überzeugt, daß Ihre Freundinnen Ihrer jetzt eben so zärtlich gedenken, wandte er sich lachend zu den jungen Damen, damit können Sie sich trösten. Meinen Sie, daß wir Veranlassung dazu gegeben? fragte Thekla spitz. Das ist gleich, entgegnete ich, es kommt nur auf die Gewissenlosigkeit der Urtheilenden an. Ja, auf die Lust zum Skandalisieren, fiel mir Herr von Tülsen in das Wort, bedenken Sie, daß sich die Damen drüben in Graubergen ebenso langweilen als Sie, und wundern Sie sich nicht, wenn sie sich ebenso unterhalten. Sie sollten darüber nicht scherzen, unterbrach ich ihn, ich finde die Sache zu ernsthaft. Ernstlich darüber zu reden überlasse ich Fräulein von Ramberg, sagte Herr von Tülsen, die liebt die Behandlung solcher Kapitel, bitte erklären Sie uns doch das betreffende Gebot. Sie irren sich, ich bin hier nicht Gouvernante, sagte das Fräulein spitz. So darf ich es, nahm ich mit einiger Würde das Wort. »Wie lautet das achte Gebot? Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten, Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsern Nächsten nicht fälschlich belügen, verrathen, afterreden, oder bösen Leumund machen, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.« – Frau von Schlichten mit einigen älteren Damen traten ein und unterbrachen uns. Sie hatten Migräne und waren sehr übler Laune. Zum Gegenstand der Unterhaltung nahmen sie ganz wie die Töchter die gestrige Gesellschaft, aber viel schärfer waren sie. Es war zu auffallend. »Wie die Alten sungen, zwitschern die Jungen,« flüsterte uns Herr von Tülsen zu. Thekla und Rosalie lachten. Wollen Sie den Mamas nicht auch das achte Gebot vorsagen? fragte Thekla. Ich sah sie ernsthaft an und brach das Gespräch ab.

Theuerste Tante, Du siehst, daß ich meiner Würde nichts vergebe, sie aber auch am besten behaupte, wenn ich suche, würdig vor dem Herrn zu leben. Betet für mich, – o welch ein Trost ist mitten in diesem Gewühl, Euer gedenken zu können, Eures lieblichen Stilllebens und Friedensortes. Auf Weihnachten freue ich mich, eine große Kiste hoffe ich zu schicken, Jakob muß sie sicher mit einer Karre holen. Gott befohlen, theuerste Tante, ich küsse Dir die Hand, Der Herr stärke Dich mit Gesundheit und Frieden! Trinchen, mein allerbestes Trinchen, grüß ich tausendmal. Jakob behütet mir doch meine kleine Kolonie? Wenn auch David auf den Buxbaum tritt, Buxbaum ist nicht mehr Mode. Denke, eine große Eistorte schickte Herr von Schaffau mir und Lucie auf die Stube, ich habe dabei den Vollberger kopiert, die Schlüssel in der Hand, es ist ein Bildchen für Jakob. Ich möchte, die Torte würde in seinen Händen zur einer wirklichen. Tausende Grüße von

Deiner lieben Lulu.

Noch einen Spaß muß ich Dir erzählen, liebes Trinchen, aber Du mußt nicht böse sein über meine Albernheit. Fräulein von Ramberg fragte mich, warum ich eigentlich nicht tanze. Du mußt wissen, sie hat Dein Amt übernommen, mich demüthig zu machen, doch thut sie es auf andere Weise, und ich sträube mich gewaltig. Ich entgegnete ihr, daß ich nie Gelegenheit gehabt, mit meinesgleichen Tanzunterricht zu haben. Wen nennen Sie denn ihresgleichen, wenn man fragen darf? fragte sie. Nur Familien, welche zweiunddreißig Ahnen aufzuweisen haben, gab ich zur Antwort, meine Tante sei äußerst gewissenhaft darin, und unser erster Familienschmerz sei gewesen, daß ein naher Vetter kürzlich eine Gräfin K geheiratet habe – Zweiunddreißig Ahnen! und eine Gräfin K eine Mesalliance? – Ohne Zweifel, sagte ich stolz, vor nicht länger als hundert Jahren lebte diese Familie in einem Bäckerladen.

Den 10. Oktober.

Es schwirrt noch immer im Haus; ich kümmere mich wenig darum. Im Küchengarten traf ich Tante Julchen an der sonnigen Weinwand. Sie sammelte die letzten süßen Beeren, ich half ihr und sprach dabei von Lucie. Ich bat sehr, sie nicht so viel an den Gesellschaften der Großen theilnehmen zu lassen und sie auch heut nicht mit nach Graubergen zu nehmen. Die Tante sah mich verwundert an: Soll das Kind allein hier bleiben? Ich bleibe auch, war meine Antwort. Die Tante küßte mich auf die Stirn: So ist's brav, sagte sie und schenkte mir zur Belohnung die schönste Weintraube. Auch steht es Ihnen frei, für uns Kinder dem Hasen etwas abzujagen, scherzte ich. Das will ich gewiß, entgegnete sie. Sofie soll mir gleich noch an der linken Seite eine Tasche nähen, dann wird eingesackt. – Die Tante ist heftig und etwas roh, aber sie gefällt mir am besten von allen den Damen hier. Es thut mir leid, daß sie gegen Herrn von Schaffau so feindlich ist, und daß ich die Ursache bin. Ich sah ihn nie anders als sanft und gütig gegen sie; daß er so entschieden einen andern Weg geht, ist ja der Halt und Trost für dies Haus, sollte Tante Julchen das nicht fühlen? Sie ist sonst so vernünftig, ist so unzufrieden mit Frau von Schlichten und mit den großen Töchtern, sie hat Lucie, die arme verlassene Lucie, so lieb, und sieht, wie seine Liebe und Sorgfalt für dies Kind sich mit der ihrigen vereinigt. Als sie mir neulich sagte: ich solle seine Grobheit mir nicht zu Herzen nehmen, und ihn dabei einen Frömmler und einen Sauermacher nannte, entgegnete ich ihr, daß es mir sehr wehe thäte, das zu hören, da Herr von Schaffau so nachsichtig mit mir sei. Ich bat sie, mir das drückende Gefühl, die Ursache von Zwietracht im Hause zu sein, zu ersparen, und sagte, ich möchte am wenigsten sie, die ich so herzlich lieb hätte, jemandem Unrecht thun sehen. Ich küßte ihr die Hand bei diesen Worten, sie fühlte meine Aufrichtigkeit und küßte mir freundlich die Stirn. Ich meine es nicht schlimm sagte sie, und ist er großmütig, will ich es auch sein. Punktum. Sie hat mir bei dieser Gelegenheit auch die Erlaubnis gegeben, Lucie mit in die Kirche zu nehmen, und versicherte dabei, ich solle ja nicht glauben, daß sie etwas gegen Gottesfurcht habe.

Den 15. Oktober.

Der Tag war zu schön. Die Nebel kämpften lange mit der Sonne, endlich stand sie am reinen Blau. Auch ich habe die Nebel unter mir, alle Zerstreuung ist überwunden. O wie elend, traurig, nichtig ist das Treiben unter mir; o Herr, laß mich immer deine Nähe so rein und kräftig fühlen wie heute. Ich habe gebetet für Lucie, für die Tante und Rosalie. Ich ward sehr kühn, ich hatte den Mut, mit Sofie und Lucie die erste Morgenandacht zu halten. Meine Zuversicht gewann mir die Herzen, ich habe das Vaterunser laut gebetet und aus der Bibel gelesen Matth. 5, und mit ihnen gesungen: »Ach bleib mit deiner Gnade.« Darauf sagte ich, wir wollten nun getrost an unser Tagewerk gehen, aber für einander beten, daß wir möchten sanftmütig und barmherzig und reines Herzens und friedfertig sein. Ich konnte kaum reden, so war mir das Herz bewegt, Sofien gingen die Thränen über die Wangen. Ich weiß wohl, das will nicht viel sagen, sie ist sehr von sich eingenommen. Ich begann mit Lucie die Stunden heut weit freudiger, es war mir lieb, daß ich von den Konversationsstunden im Frühstückszimmer befreit wurde, die Herrschaften wollten spazieren fahren. Ich fahre auch so gern spazieren, und sie nahmen mich noch nie mit: da glückte es mir heut. Ich trat mit Lucie aus dem Portal, eine große Droschke stand vor der Thür, eine kleine Poniesequipage wurde auf dem Hof umhergefahren. Lucie und ich setzten uns hinein, das war herrlich, Lucie nahm die Zügel, wir fuhren im Kreise umher, ich glaube, ich würde auch bald fahren lernen. Als die Herrschaften aus dem Haus traten, stiegen wir schnell ab und liefen in den Garten. O wie schön war der Tag, so friedlich und so leuchtend, ich hätte mögen auffliegen mit meiner Seele. Wir sind durch den Park getanzt und weiter hin bis zur Höh' in der Kastanienallee. Die glänzenden braunen Früchte lagen unter dem goldenen Laub. Mir kam die Lust zum Spielen an, auf einem weichen moosigen Plätzchen steckte ich kleine Zweige mit roten Hagebutten und machte davon eine Hecke, die Kastanien wurden ausgesucht, in Herden geteilt, da gab es Kühe und Kälber, und Hund und Schäfer, Lucies Fantasie ging prächtig darauf ein, das war eine Viehweide. Darauf kamen wir aber zu verzauberten Prinzen und Prinzessinnen, suchten Steine zu Grotten, es war eine Märchenwelt, daß wir sangen, sprangen und fröhlich waren. Als Lucie immer eifriger ward und mich entbehren konnte, setzte ich mich auf den nahen Kirchhof, um das Bild, das mir so wohl gefiel, zu zeichnen. Es ging unerwartet gut, ich konnte sogar noch den blauen Himmel anlegen, und die Kastanien im Hintergrund, bis leider Herr von Tülsen uns störte. Er war wegen Kopfweh nicht mit gefahren und versicherte, er sei dreimal vergebens den Park durchlaufen, um uns zu suchen. Die meisten Gäste sind jetzt abgereist, die unliebenswürdigsten sind geblieben, Frau von Ramberg mit der Tochter, Herr von Tülsen, der ist mir besonders zuwider. Ich ging mit ihm zu Lucie, er begann sich lustig über uns zu machen. Ich sagte ihm etwas eifrig: das wisse nur ein kindlicher Sinn zu würdigen, er sei freilich kein Kind mehr. Darauf sprach er einige sentimentale Worte als: ich verkenne ihn, und setzte sich sehr vertraulich zu uns. Ich war froh, daß unsere Gesellschaft eben die Allee entlang kamen. Die Wagen hielten still, Herren und Damen stiegen aus. Frau von Schlichten sah mich scharf an, ich weiß nicht warum. Tante Julchen freute sich über den Spielplatz, Rosalie auch, nur Thekla sprach wie Herr von Tülsen. Lucie sagte sehr impertinent: nur ein kindliches Herz wisse das zu würdigen, und sie habe kein Herz. Ich schämte mich im stillen, daß ich eine so gelehrige Schülerin hatte, die meine Worte so gut zu benutzen wußte; aber Thekla ging scherzend weiter; sie hatten sich alle entschlossen, durch den Park zurückzugehen. Mir that der kleine Ponieswagen leid, ich deutete Tante Julchen an, ob wir nicht darin nach Hause fahren könnten. Herr von Schaffau erlaubte es gern, ja er fuhr uns selbst und schickte den Kutscher fort. Das war eine herrliche Fahrt, wir fuhren ja nicht nach Haus, nein, durch den Park wieder zurück auf die Höhen und weiter und weiter. Ueber die gelben Felder hatte der Herbst einen seidenen Schleier gewebt, die schrägen Sonnenstrahlen schimmerten darauf in Regenbogenfarben, und die Ferne war so duftig und der Himmel so blau und die Bäume so bunt. Wir waren sehr vergnügt. Herr von Schaffau hat auch mein Bild geprüft, Lucie zum Zeichnen und Malen ermuntert und uns beiden, wenn wir fleißig sind, seine Aquarellfarben und schöne Papiere versprochen. Er hat Lucie sehr lieb, und ich glaube, dies ist der einzige Punkt, in dem er mit der Tante Julchen übereinstimmt. Deswegen vielleicht erträgt er ihre Härten, ohne ihren Schutz wäre das Kind im Hause verloren. Ich habe Frau von Schlichten noch nie mütterlich gegen sie gesehen, die Schwestern gehen ihren eigenen Weg! – und Lucie ist wahrlich ein reich begabtes Kind. Sie war wieder so witzig im Wagen, aber nicht über andere Leute, sie hat mir versprochen, sich davor zu hüten. Wir lachten heut über uns selbst, ich war albern genug. Herr von Schaffau ist sehr nachsichtig, und that, als ob nichts besseres von uns zu verlangen sei. Bei Tisch aber hat er mir leise mit dem Finger gedroht, als wir da noch übermütig waren. Ich ward gleich etwas vernünftig und dankte ihm die Warnung. Und nun lebe wohl, du schöner Tag, ich lege mich zur Ruh und bin dankbar – Dir, lieber Herr.

Breit aus die Flügel beide,
O Jesu meine Freude,
Und nimm dein Küchlein ein:
Will Satan mich verschlingen.
So laß die Englein singen:
Dies Kind soll unverletzet sein.

Den 23. Oktober.

Je höher du auf Berge steigest, desto tiefer mußt du wieder hinab in das Thal, sagt Trinchen. Ich habe sehr tief, sehr tief hinab gemußt. Der folgende nach jenem schönen Tage war trüb, aber ich stand eben so fröhlich auf, hielt freudig mit Sofie und Lucie die Andacht und dann den Unterricht. Als ich zur Konversationsstunde, ich glaube zum erstenmal mit rechter Lust, hinunter wollte, ward ich zu Frau von Schlichten gerufen. Sie empfing mich in ihrem Kabinett mit einem so eiskalten Gesicht, daß es mir schaurig ums Herz ward. Schon bei Ihrem ersten Eintritte, Fräulein von Plettenhaus, – sagte sie mit scharfer Stimme und mit etwas geschlossenen Augen, – überzeugte ich mich, daß es sehr unpassend war, Sie als Gouvernante hierher zu schicken. Ihre Tante hat die Thorheit gehabt, Sie als Hofdame zu erziehen, und eine solche kann ich nicht gebrauchen. Doch, glaubte ich, würden Sie mit der Zeit gelernt haben, wohin Sie gehören, und ich rede jetzt nur von Ihrer Leichtfertigkeit, die nicht in mein Haus paßt. – Ich erschrak sehr bei diesen Worten, sie fuhr fort: Sie wissen, warum die letzte Erzieherin das Haus verlassen mußte. Ich schüttelte den Kopf. Schon wieder eine Lüge? sagte Frau von Schlichten spöttisch: beinahe vierzehn Tage sind Sie mit Sofie zusammen und sollten das nicht wissen? – Ich konnte mich nicht halten, ich fühlte, wie ein gewisser Zorn mein Herz erregte. Ich war nie gewohnt, mit Untergebenen solche Dinge zu reden, sagte ich stolz, ich bitte das Mädchen selbst zu fragen. – Ist gar nicht nötig, entgegnete sie kühl, ich pflege nicht die Klatschereien meiner Leute zu untersuchen. Das ist jetzt nur Nebensache. Ihre Vorgängerin in der Erziehung wurde verabschiedet wegen ihrer Leichtfertigkeit. Ich fürchte die Wiederholung ähnlicher Auftritte und warne Sie hiermit. Während wir spazieren fahren, geben Sie sich ein Rendezvous mit Herrn von Tülsen, ein schönes Resultat für die kurze Zeit ihres Hierseins, die arme Lucie scheint vom Regen in die Traufe gekommen. – Mir vergingen die Gedanken, ich weiß nicht, was sie noch sagte, nur endlich, daß ich sie jetzt allein lassen möge. Ich ging auf mein Zimmer, Sofie kam mir schon entgegen. Was sagen Sie nun? ist das nicht eine gottlose Frau? – Ich sah sie verwundert an. – O ich stand mit Bett im Schlafzimmer und habe jedes Wort gehört. Sie sprach nun wirres Zeug, ich war zu kraftlos, es ihr zu verbieten, aber hörte auch nicht viel. Herr von Tülsen soll mit seinem Reichtum Rosalien heiraten, – Thekla ist halb und halb mit dem Vetter Reinberg verlobt, der ist ein armer Gardelieutenant, Onkel Schaffau soll Thekla, den Liebling der Mutter, versorgen, – und noch anderes und anderes, mich aber geht es nichts an, es ist mir wie ein wüster Traum. – Lucie holte mich zu den Konversationsstunden, ich folgte ihr willenlos. Ich ward feuerrot, als mich Herr von Tülsen schon an der Thür empfing, als ich mich von ihm wandte, trafen mich Herrn von Schaffaus Blicke eben so strenge, als die seiner Schwester, das that mir sehr weh. Frau von Schlichten saß zum erstenmal in unserem Kreise, tadelte Aussprache und Ausdrücke an meinem Englisch und bewachte mich mit scharfen Augen. Thekla und Fräulein von Ramberg sprachen nur in unverständlichen Reden und lächelten viel. Mir ward es immer bänger, ich fühlte, ich würde nicht lange mehr das Weinen unterdrücken können, und verließ das Zimmer. Frau von Schlichten folgte mir, erreichte mich im Vorzimmer und sprach wahrhaftig zornig zu mir: Spielen Sie nicht die Unschuldige, die Beleidigte! Schändliche Koketterie, pfui, schämen Sie sich! – Wenn Herr von Schaffau nicht zu uns gekommen wäre, hätte sie vielleicht noch mehr gesagt. Ich eilte weinend davon. Lucie wollte mit mir, ich bat sie, mich allein zu lassen, und ging in den Garten. Das war bis jetzt die schwerste Stunde meines Lebens. Dichter Nebel hing in den Zweigen, grau war alles und öde und leer, ich ging unter den Platanen hin und her, das Laub rauschte unter meinen Füßen, das Schloß sah mich unheimlich an. Einer Waise Pfad ist hart, hat Trinchen oft gesagt, – ja sehr hart. Den Waisentrost aber, den sie mir gesagt, konnte ich jetzt nicht finden, der Himmel war dicht verhangen, ich konnte nur weinen. Ueberall sah ich Dunkel und Trübsal. Aus Trinchens Briefe geht hervor, daß die Tante diesen Winter kränker ist, sie sehnt sich nach mir, und ich muß hier Geld verdienen und Kummerbrod essen. Es rauschte hinter mir, ich sah Herrn von Schaffau mit dem Jagdhund unter die Ahorne treten, es war mir, als ob ich ihm meinen Kummer sagen dürfte, aber nein, ich konnte es nicht. Ich ging ihm aus dem Weg. Auf halber Höhe nach der Kirche, an einer Fliederhecke, war es sehr still, nur die Rotkehlchen hüpften in den Zweigen und sangen leise. Sie unterhielten mich, ich schaute ihnen zu, wie sie mit den feinen Köpfchen und den schwarzen Aeuglein nach mir sahen. Sind sie auch Waisenkinder? Nein, sie haben einen Vater im Himmel, ohne ihn fällt kein Sperling vom Dache, – und seid ihr denn nicht viel mehr denn sie? – Ich weinte, aber nun andere Thränen. O du lieber Herr, bin ich denn verlassen? Nein, nein, wenn sie mich hier verstoßen, der Herr weiß schon, wo ich künftig wandeln soll, ich bin getrost und hoffe auf ihn. So selig habe ich mich noch nicht gefühlt, als dort oben auf der einsamen Hecke, bei den kleinen Rothkehlchen. Ich habe Frau von Schlichten verziehen, von ganzem Herzen, ich habe für sie gebetet, zum erstenmal, ich habe gebetet für alle Seelen da unten in dem stummen grauen Haus, ich habe gebetet, es möchte Licht da werden und Frieden kommen. – Die Dämmerung war gekommen, durch den Nebel leuchtete ein Lichtchen, es war vom Pfarrhaus und schien mich gar freundlich einzuladen. Zur Gesellschaft konnte ich nicht, es war größere Tafel, Gäste aus der Nachbarschaft wurden erwartet, ich sehe, wie die Lichter nach und nach aus der dunkeln Steinmasse auftauchten. Das Lichtlein aus der Pfarre war mir einladender, dazu begann das Abendläuten, durch den dichten Nebel klang es weich hindurch, mit recht aufgethanem Herzen trat ich ein in die Pfarre. Die ganze Familie war in der Wohnstube versammelt, sie feierte die Dämmerstunde, es war ein liebliches Bild. Der Vater saß am Instrument und schien gesungen zu haben, drei Kinder standen neben ihm, die beiden jüngsten hatte der Hauslehrer auf den Knieen, und zwei größere Töchter halfen der Mutter Strümpfe von den Formen ziehen. Der Herr Pastor begrüßte mich freundlich, er kannte mich aus der Kirche, auch die Kinder hatten mich nicht vergessen, sie waren sehr harmlos; die Frau Pastorin aber empfing mich mit großer Höflichkeit. Da ich kein Arbeitszeug mit hatte, bot ich mich ihr zur Hilfe an. Sie machte viele Umstände, die großen Löcher in den Strümpfen schienen sie zu genieren. Sie klagte, wie die sieben Kinder ihr sehr viel Arbeit machten, sie nie fertig damit würde. Ich bat die Strümpfe stopfen zu dürfen. Sie sagte wieder sehr verbindlich, daß meine feinen Hände wohl nie so grobe Strümpfe angefaßt. Die Höflichkeit mißfiel mir erst, sie scheint aber nicht böse gemeint. Der Herr Pastor entgegnete scherzend: Liebes Kind, so hast du das Verdienst, es dem Fräulein gelehrt zu haben. Darauf gab sie mir die nötigen Sachen, und ich begann eifrig meine Arbeit. Das war eine Lust, ich fühlte mich bald ganz heimisch, der Vater erzählte, die Kinder hörten zu, ich durfte auch erzählen, dabei hatte ich die Freude, das Strumpfgebirge vor mir immer mehr verschwinden zu sehen, und die Frau Pastorin schien sich auch zu freuen. Als die Zeit ihres Abendessens kam, wollte ich fort, sie baten mich zu bleiben. Die Mutter verließ die Stube, der Hauslehrer nahm wieder die kleinsten Kinder auf den Schoß, das ist sehr hübsch, aber auffallend war mir sein Wesen. Linchen, das älteste Töchterchen, erzählte mir, daß sie seit einem Jahre Klavier spielte und vor einiger Zeit zu des Vaters Geburtstag »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren« gespielt hätte. Ich forderte sie auf, es mir vorzuspielen, das that sie. Wir stimmten erst leise ein, dann immer lauter, und aus meiner Brust klang das Lied in vollen Tönen. Der Herr ist ja sehr freundlich, ich fühlte mich so glücklich in diesem lieben, stillen Haus, sein Geist wehet darin, er soll mich stärken in meiner Schwachheit. Der Herr Pastor brachte mich nach Haus, ich habe ihn gebeten, mein rechter Beichtvater zu sein. Ich sagte ihm, daß seine Schwester meinen Platz würde besser ausgefüllt haben, er müßte dafür mir teilnehmend und ratend zur Seite stehen und mich stärken in meiner Schwäche. Er war sehr freundlich, versprach mir alles, gab mir guten Rat, besonders soll ich Herrn von Schaffaus Wünsche vor Augen haben, er meint es gut, aller Wohl im Hause liegt ihm am Herzen, nur große Liebe und Geduld ist es, daß er so nachsichtig so manches im Hause duldet. Seit den Monaten, daß er von seinen Reisen zurück ist, hat er schon manches geändert, auch die gefährliche Gouvernante von den Kindern entfernt. Sein höchster Wunsch ist, ihre Herzen dem Herrn zu gewinnen, Tante Julchen ist sein offner Feind, Frau von Schlichten sein heimlicher. Er bricht nicht mit ihnen, um nicht ihnen allein den Einfluß über die Kinder zu überlassen. Das habe ich mir ungefähr aus den Worten herausnehmen können. Das zu hören, rührte mich sehr. Ich will auch Geduld und Liebe im Herzen haben, und nicht ermüden, zu beten für mich und für uns alle. – Als wir aus dem Ahorngebüsch traten, lag diese Seite des Schlosses hell erleuchtet vor uns, die Musik tönte nieder, die Schatten flogen. Ich war froh, daß ich nicht hinein mußte, ich ging oben in mein Turmstübchen. Da habe ich mich im stillen gesammelt und meine Gedanken gerichtet zu meinem lieben Herrn. O wie ist doch alles so nichtig, jeder irdische Schmerz, jede Unannehmlichkeit, wenn der Herr uns zur Seite steht. Die Welt vergeht mit ihrer Lust, sein Wille aber bleibet in Ewigkeit. Ich habe innig beten können, auch für die, die dort unten im lauten Rausche sich betäuben; ich habe nicht Furcht vor Frau von Schlichten und allen den stolzen, vornehmen Leuten, nein Liebe und Teilnahme. Was sie mir auch zufügen, der Herr kann alles zum Besten führen; ich fürchte wohl, ich werde hier nicht lange bleiben, aber verlassen werde ich dennoch nicht sein. – Sehr lange hatte ich so nicht gesessen, als ich Tante Julchens schnelle Schritte hörte. Sie war verwundert über mein Ausbleiben und versicherte, daß ich ihr Sorge gemacht. Sie nahm es nicht übel auf, als ich es ihr erzählte, wie ich sehr traurig war und im Pastorhause Trost gefunden. Sie strich mir über die Stirn und sagte: Das Gewitter scheint vorüber, Herr von Tülsen hat nicht nach Ihnen gefragt, ist sehr lebendig gewesen, besonders mit Rosalie. Meine Schwägerin aber ist thöricht, der Alte heiratet weder sie, noch Rosalie. Nur nehmen Sie sich in acht, solche Sachen können öfter kommen, Sie passen eigentlich nicht für uns. – Ich bat, von jetzt an immer gleich nach Tische mit Lucie die Gesellschaftszimmer verlassen zu dürfen, ich wolle hier oben mit Lucie leben, Lucies Liebe und meine Pflicht und mein Stillleben solle mir über all das bunte Treiben gehen. – Sie sah mich etwas zweifelhaft an. Gute Vorsätze – sagte sie. Ja, Vorsätze, fuhr ich fort, aber beten Sie für mich, daß ich's durchführe, auch ich habe Sie täglich in mein Gebet geschlossen. Ich konnte ihr dabei recht vertrauend in das Auge schauen und küßte ihr aufrichtig und zärtlich die Hand. Sie sind eine Schwärmerin, entgegnete sie; wenn Sie es aufrichtig meinen, habe ich nichts dagegen. – Acht Tage sind seitdem vergangen, sehr fleißig und regelmäßig. Frau von Schlichten scheint sich von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen, sie ist wieder freundlicher. Herr von Tülsen aber ist derselbe Unleidliche, wenn er auch kaum ein Wort mit mir spricht.

Den 2. November.

Unser Haus ist stiller geworden, Frau von Ramberg mit der Tochter und Herr von Tülsen waren die letzten, die gestern abreisten. Herr von Tülsen wird Weihnachten wieder erwartet. Die Damen unten sind abgespannt und nervös. Vor Langerweile, sagte Tante Julchen. Rosalie sitzt Stunden lang, die Arme in die Mantille gewickelt, während Thekla im Damenkonversationslexikon liest oder Briefe an den Vetter schreibt. Frau von Schlichten hat viel Migräne und ist verstimmt, mir und Lucie wird es unten bange, hier oben aber leben wir lustig zusammen. Die Tante hat uns nach großen Bitten das Zucker- und Kaffeedepartement übertragen. Ich versicherte, wenn ein Mädchen sich früh an kleine praktische Beschäftigungen gewöhne, lerne sie sich daran freuen, und das sei später ein Schatz für das ganze Leben und eine Mauer gegen Migräne und Langeweile. Ich sprach so vernünftig und ganz in meinem Amte, daß ich mich selbst darüber freute. Die Tante mußte mir Recht geben, so sind wir jetzt die Königinnen aller Zuckerdosen, der Schlüssel zum Schrank begleitet uns als Heiligthum, zu Zeiten wird geklopft, gerieben, geordnet, Tante Julchen rühmt unsere Sparsamkeit. Unser Trachten ist nun nach dem Dessert- und Thee-Departement, ich zweifle nicht, daß wir es erlangen. Großartige Pläne knüpfen sich daran, wir wollen die Theekuchen und Apfeltörtchen selbst backen, die Küchenschürzen werden schon genäht. Tante Julchen wunderte sich, als sie uns die Leinwand dazu geben mußte, – die Arme, sie weiß nicht, welche Feinde sie großmütig beschenkt, und was mit diesem Leinen bezweckt wird.

Den 12. November.

Lucie sagte heute zu mir: Ist es nicht eigentlich ungerecht, daß mich der liebe Gott so häßlich gemacht hat und meine Schwester so hübsch? Ich entgegnete ihr, daß es eine Thorheit der Welt sei, Schönheit für ein Glück zu achten, obgleich sie es täglich vor Augen habe, daß Schönheit meistens Ursache zum Unglück ist. Ein reines Herz und fromm vor dem Herrn leben, sei dagegen ein weit sicherer Weg zum Glücke; ich fragte, ob ich ihr das mehr erklären solle. Nein, sagte sie, ich weiß wohl, Thekla und Rosalie sind nicht glücklich, ich bin es jetzt schon mehr, und weiß, daß ich es immer mehr werden kann, trotz meiner Häßlichkeit. Liebe Lucie, sagte ich, bete zu unserem lieben Herrn, daß er dir ein reines Herz schenkt, daß er selbst einzieht, daß seine Sanftmut, seine Liebe, seine Demut dir aus den Augen strahlen, so wirst du so schön sein, daß deine Schönheit selbst die Kinder der Welt überwindet, und dein Glück wird so groß sein, daß alles, was sich dir nahet, den Segen des Glückes genießt. Ich erzählte ihr noch von der nahen Adventszeit, wie wir uns schmücken müßten, den Herrn zu empfangen. Sie hat sich an, mich geschmiegt und mit dem Kopfe genickt. Der Herr möge uns segnen.


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