Marie Nathusius
Tagebuch eines armen Fräuleins
Marie Nathusius

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Den 16. Juli.

Der Onkel Hofmarschall hat geschrieben, so kurz und hart, die Tante ist gebrochen. Gottlob, daß Trinchen wieder wohl ist. Er nennt es eine Thorheit, daß die Tante mich zur Hofdame bestimmt, viele junge Mädchen des Landes, Töchter verdienstvoller Männer streben danach vergebens, er schlägt mir eine Gouvernantenstelle vor, bei einer Frau von Schlichten in Braunsdorf. Trinchen ist nur der Tante wegen betrübt, mit der Sache ist sie einverstanden. Das wird morgen ein trauriger Geburtstag werden.

Den 17. Juli.

Ich legte den Rosenkranz um Trinchens Sandtorte und meine gestickte Haube dazu. Jakob brachte das Tafelbouquet, wie er es immer noch nennt, es war alles bereit, die Tante zu ihrem fünfundvierzigjährigen Geburtstag zu begrüßen. Ich bin an diesem Tage noch nie so traurig aufgestanden, und doch ist er nie schöner gewesen. Rosen- und Lilienduft mischt sich mit den Lindenblüthen, der Buchen Wipfel schmiegen sich weich und rund an den glänzenden Morgenhimmel. Die Kinder kamen blank gewaschen und gekämmt in den Sonntagskleidern, ich gab jedem einen Blumenstrauß in die Hand und nahm selbst den größten. Ich hatte wie immer an dem Tage das weiße Mullkleid angezogen, obgleich es sehr kurz ist. Als die Tante auf ihrem Lehnstuhl saß, setzten wir den Tisch vor sie hin, wir stellten uns in einen Halbkreis und sangen: »Ach bleib mit deiner Gnade.« Im Anfang war mir das Weinen so nahe, doch Trinchen sang mit heller Stimme vor, und es ging auch mit mir besser. Der Tante liefen die Thränen über die Wangen, ich kniete vor sie, ich küßte ihre Hände und bat sie getrost zu sein. Sie strich mir das Haar aus der Stirn, sah mich freundlich an und sagte: Ja, es wird dir noch gut gehen.

Den 20. Juli.

Es wird mir schwer. Doch wie mein Gott will, ich glaube jetzt, daß er mich so führen will. Michaeli gehe ich. Mit meinem Gehalt kann ich das Fehlende im Haushalte beschaffen, Jakob und Trinchen werden bessere Tage haben. Die Tante ist auch ruhiger, sie nennt es nicht Gouvernante, sondern Gesellschafterin. Ich soll mit einer sechszehn- und einer siebzehnjährigen Tochter englisch und französisch sprechen, zeichnen und Klavier spielen, aber auch an ihrer Geselligkeit theilnehmen. Außerdem habe ich ein zwölfjähriges Töchterchen zu unterrichten. Das letzte wird mir Freude machen; vor den großen fürcht ich mich, wenn sie nur nicht klüger sind als ich.

Den 10. August.

Trinchen ist unermüdlich, meine Ausstattung zu besorgen, es kommen Schätze zum Vorschein, die ich nie gekannt habe. Die gute Tante hat mir auch ihren Sammethut geschenkt, die Feder von der Toque ist darauf gesteckt, er sieht sehr anspruchsvoll aus. Ich arbeite jetzt wenig, weil Trinchen wünscht, daß ich noch Ferien mache. Ich wandere meine Lieblingsgänge, ich zeichne die schönsten Punkte und male sie. Die Bildchen sollen in der Ferne mein Zimmer schmücken, sie sind sehr niedlich. Meine Schule versäume ich nicht. Dortchen kann mit mir um die Wette stricken. Auch sind die Kinder ordentlich und rein. Trinchen hat mir versprochen die Kinder zu sich kommen zu lassen, auch Jakob will sich ihrer nöthigenfalls annehmen. Sie sind beide so gut, sie wollen mir den Abschied erleichtern. Mit Adelheid spreche ich viel englisch, der Tante ist diese Uebung ganz recht.

Den 24. August.

Der Onkel hat freundlicher geschrieben und einen vollständigen Anzug für mich geschickt. Das braune Tafftkleid steht mir gut, das Zeug war so reichlich, daß der Rock lang genug gemacht werden konnte, ich sehe noch einen halben Fuß größer darin aus. Ich freue mich über den Anzug, Trinchen fürchtet, daß ich gar zu eitel werde.

Den 6. September.

Die Zeit rückt immer näher, mein Herz wird immer schwerer, ich habe sehr viel zu thun, ich übe noch und lerne, ich habe Furcht, daß ich nicht genug weiß, die Tante ist öfters böse darüber. Aber so allein zu ganz fremden Leuten, – ich werde dort nicht auf so sanften Pfaden wandeln, sagt Trinchen. Das Beste ist, daß ich nicht allein gehe, nein nicht allein.

Allein und doch nicht ganz alleine
Bin ich in meiner Einsamkeit
Denn wenn ich ganz verlassen scheine,
Vertreibt mir Jesus selbst die Zeit.
Ich bin bei ihm und er bei mir,
So kommt mir gar nichts einsam für.

Den 12. September.

Mein Herz ist immer sehr voll, ich weiß nicht recht, was ich thun soll. Ich packe ein und suche zusammen, Trinchen sagt, ich dürfe das nicht alles mitnehmen; ich möchte das ganze liebe Plettenhaus mitnehmen, und die Tante und Trinchen und Jakob dazu.

Den 16. September

Das ist ein Morgen voll Glanz und Pracht. Die Astern schimmern in den buntesten Farben. Die Verbenen legen sich brennend roth an den grünen Rasen, die Geranien spiegeln sich im klaren Teich. Und der Wald! Ich ging den Herrenstieg, er war so still, meine eigenen Fußtritte hörte ich leise auf dem Moose. Ein Specht klopfte an die festen Buchenstämme, daß es laut hin wie durch eine Kirche hallte. Ja die Buchen wölbten sich wie zu einer Kirche, und es war sehr feierlich im Wald. Ich pflückte mir tauig Epheu und Farren, und trat, oben auf der Trift aus dem tiefen kühlen Schatten in den lichten Sonnenschein. Wie glänzend lag das weite Thal unter mir, links Wenderhof und die Wiesen und drüben die lichten Höhen im warmen Duft, rechts Waldstein auf dem Berge, durch die hohen Kirchenfenster fiel das Licht, und Türmchen und Giebelspitzen der Kirche zeichnen sich scharf am blauen Himmel. Der Schäfer saß wie gewöhnlich unter der alten Hainbuche und seine Herde weidete am Hange und manch weißes Wollflöckchen hing an dem rothen Hagebuttengestrauch. Ich setzte mich auf meinen Stein, die Mücken tanzten, eine große Hummel summte vor mir auf einer hohen Distel, der Herde Geläut klang hin und wieder sanft dazwischen, so habe ich lange gesonnen und konnte mich nicht trennen. O lebe wohl, du liebe Heimat.

Den 4. Oktober, abends spät.

Mein Koffer ist gepackt, alles liegt bereit, meine Glieder beben vor innerem Frost und Bangigkeit und Wehmuth, ich weiß nicht was. Der Regen fällt in Strömen. Amtmanns sind sehr freundlich, daß sie mich nach der Bahn fahren lassen, auch haben sie mir neulich zu Adelheids Geburtstag ein graues Deckentuch geschenkt, so fein haben sie es angefangen, daß es der Tante nicht unangenehm war. Die gute Tante! Ob sie schläft? Gewiß nicht. O Herr, du wirst ihr gnädig sein, denn sie hat viel geliebt; o lieber Herr, mache sie stark, gieb ihr Frieden, mache auch mich stark, sei mein treuer Führer.

Jesu, geh' voran
Auf der Lebensbahn,
Und wir wollen nicht verweilen,
Dir getreulich nachzueilen,
Führ uns an der Hand
Bis ins Vaterland.

Soll's uns hart ergeh'n,
Laß uns feste steh'n
Und auch in den schwersten Tagen
Niemals über Lasten klagen,
Denn durch Trübsal hier
Geht der Weg zu dir. – Amen!.

Den 5. Oktober.

Wir mußten um fünf fort, um den Bahnzug zu treffen. Der Regen fiel noch in starken Güssen. Ich trat an der Tante Bett, um Abschied zu nehmen. Jakob blieb im Vorzimmer, Trinchen stand bei uns, wir weinten alle. Verzeiht mir all den Kummer, den ich euch gemacht, habt Dank für alle Müh und Arbeit. Wie weh ist scheiden, wenn man sich lieb hat. Ich werde einsam sein, sie werden einsam sein. Das Leben ist von unserem Leben, wenn Sie fort sind, liebes Fräulein, sagte Jakob. Und wie wird mir sein? Ich lehnte mich in die Wagenecke und, weil ich die Nacht nicht geschlafen, schlummerte ich ein. Wenn wir durch einen angeschwollenen Waldbach fuhren, wachte ich auf, dann hörte ich Regen auf die Blätter rauschen, es war mir so kalt in den Gliedern und um das Herz. Als es dämmerte, verließen wir Hügel und Holzland und kamen in die schlichte Korngegend, auch hatte es aufgehört zu regnen. Die Dörfer sehen hier öde aus, nur Häuser, ohne Bäume, und heute alles grau gewaschen. In einem solchen grauen Orte war die Station, wo wir unseren Wagen verließen. Im Wartezimmer fanden wir einige Postillone und Bauern. Jakob bewachte mich wie ein Küchlein, ließ mir auch Thee geben, doch trank ich nur eine Tasse und ließ ihm das übrige. Nach einiger Zeit fuhren Wagen vor, viele Herren traten ein. Sie schienen uns anzustaunen, flüsterten mit einander, mir ward ängstlich. Jakob sagte: sie denken, daß hier eine Prinzessin inkognito reist, das passiert nicht alle Tage. Ich mußte lachen. Als aber die wunderbare Maschine mit mir fortbrauste, und mich von Jakob und von allem, was ich lieb in der Welt habe, in so gewaltiger Eile entfernte, wollte mir das Herz springen. Doch nahm ich mich zusammen, ich wollte nicht zu weichherzig sein. Ich unterhielt mich mit einer Dame und fragte auch nach den Stationen, um die rechte nicht zu verfehlen. Das Anstaunen und Flüstern hörte nicht auf; einige Leute, die in den Pausen auf dem Perron gingen, schauten immer neugierig oder lachend in den Wagen. Ich überlegte, was so auffallendes an mir sein könne; da die gute Frau mir gegenüber selbst oft verlegen nach mir umsah, durfte ich nicht zweifeln, daß ich der Gegenstand der Aufmerksamkeit sei. Mein blau kariertes Kleid könnte es sein, Trinchen hat es durch einen schwarzen Atlasstreif verlängert, ebenso die Aermel, aber es war verdeckt durch das graue Deckentuch; es konnte nur der Hut sein. Es war mir fatal, daß Trinchen die Feder daran gesteckt hatte, doch hatte sie eine schlechte Stelle damit verdeckt. An einem einzelnen Gasthaus mußte ich aussteigen. Meine Schüchternheit wollte ich überwinden. Ich ließ mir meine Sachen geben; als auch die Schaffner über mich zu lächeln schienen, that ich sehr vornehm, die Tante hat mir das geraten. Das half. Der eine trug mir sogar meine Reisetasche in die Wirtsstube. Ein Wagen war noch nicht hier, der Zug brauste fort, ich war mutterseelenallein in der kalten Wirtsstube und schaute hinaus in die graue, öde, verregnete Welt. Da ward es mir zu eng in der Brust, der Mund zuckte zum Weinen, mit Gottes Hilfe hab ichs überwunden.

Allein und doch nicht ganz alleine.

Nur Geduld, – auch hier in der fremden, öden Welt ist der Herr, auch hier hat er Herzen, in denen er wohnt, er wird dir auch Herzen zuführen, denen du vertrauen kannst, o ja, er wirds schon machen, nur Geduld. Ich schwankte, ob ich mir Kaffee sollte geben lassen, über die Mittagszeit war ich hinaus, doch fürchtete ich die Ausgabe und aß mein Butterbrot. Die Tante hatte geglaubt, man würde mich hier feierlich empfangen, mich erquicken und dann weiter bringen; ich glaubte es auch. Es war die erste Täuschung, ich fürchte, es werden mehr folgen. Nach einiger Zeit kam ein Wagen, ein häßlicher, schmutziger Korbwagen, ebenso sahen Pferde und Kutscher aus, ich glaube kaum, daß es der Wagen der Frau von Schlichten sei, doch er war es. Meine Sachen wurden verpackt, der Kutscher wies mir den Platz auf der hintern Bank an. Neben mir lag ein alter grauer Herrenmantel, neben dem Kutscher lag ein ähnlicher, nur mit schottischem Zeuge gefüttert. Ich fragte den Kutscher, wessen Mantel das sei. Er entgegnete, daß der neben ihm dem Herrn von Schaffau, dem Bruder der Frau von Schlichten gehöre, und der neben mir Vollbergern, dem Bedienten, und daß wir beide abholten vom nächsten Orte. Es war mir sehr demütigend, daß ich neben dem Bedienten sitzen mußte, es schwoll mir der Kamm, aber im stillen war ich froh, daß die Tante dies nicht alles sehen mußte. Nach einer halben Stunde kamen wir in eine Art von Thal, ein großes Dorf, Graubergen, legte sich an kahle Sandhügel, die hin und wieder durch Steinbrüche zerrissen waren. Am Ende des Dorfes war das Schloß. Wir hielten still, es währte wohl eine Viertelstunde, da erschienen mehrere Herren in der hohen Bogenthür, darunter ein alter und ein junger in Reisekleidern. Ich wunderte mich, daß der junge der Herr war. Er ist sehr groß und schlank und sieht sehr vornehm aus, außerdem gefiel er mir wahrlich sehr wenig. Er ward von zwei Herren an den Wagen geleitet, sie begrüßten mich. Die beiden Fremden sprachen mit mir vom schlechten Weg und Wetter; Herr von Schaffau sah augenscheinlich sehr ärgerlich aus, er sprach mit mir kein Wort, nahm dem Kutscher die Zügel aus der Hand, und konnte kaum erwarten, daß der Bediente sich neben mich setzte. Ich habe es überwinden müssen, und wer weiß was folgt. Viele adelige Leute sollen sehr stolz und hochmütig gegen ihre Gouvernanten sein. Wir hatten kaum das Dorf verlassen, da fing es leise an zu regnen, bald aber immer stärker und stärker. Herr von Schaffau that den Mantel über die Ohren und kümmerte sich nicht um uns. Ich fürchtete für meinen Hut, ich nahm ihn ab, steckte ihn unter die Decke und that ein Taschentuch um den Kopf. Bei dieser Gelegenheit sah ich mich zum erstenmal genauer nach meinem Nachbar um; wie war ich erfreut, in ein altes, freundliches Gesicht zu sehen, das mich sehr an Jakob erinnerte. Er suchte mich vor dem Regen zu schützen, und überhaupt war er der erste Mensch, der mir Theilnahme zeigte, das that mir wohl. Der Weg wurde immer schlechter, die Räder versanken fast in den Gleisen und wir kamen nur Schritt vor Schritt von der Stelle. Als der Wagen wieder einmal nahe am Umwerfen war, schrie ich auf. Herr von Schaffau sah sich verwundert um. Ich nahm mich jetzt zusammen, war auch ganz resigniert; ich war durchfroren, müde und hungrig, es war mir wirklich gleich, da auch noch im Schmutz zu liegen. Als es dämmerig wurde, zeigte mir Vollberger Braunsdorf. Es liegt an demselben kahlen Höhenzug, doch ist er hier mit Obstbäumen bepflanzt. Das Schloß ist ein altes Gebäude mit zwei kleinen runden Thürmen und von hohen Baumwipfeln umgeben. Vollberger erzählte mir, daß es ein Park sei, der den schönsten Wald ersetze. Der Regen hatte indessen aufgehört, die Wolken zerteilten sich, und der Mond stieg golden über den dunklen Bäumen auf, das war mir ein gutes Vorbedeuten. Wir fuhren auf den Schloßhof. Der eine Flügel des Schlosses war hell erleuchtet, es sah prächtig aus und mein Mut ward immer frischer. Beim Aussteigen hatte ich meinen Hut wieder aufgesetzt, ich sah deutlich, wie Herrn von Schaffaus Blicke unzufrieden darauf ruhten, ich werde doch sehen, ob ich die Feder abnehmen kann. Er sprach jetzt einige gleichgiltige Worte und schien sich zur Höflichkeit zu zwingen, ich habe dies sehr kurz erwidert. Im hohen Hausflur verließ uns Vollberger, um für mich jemand zu holen. Herr von Schaffau geleitete mich die Treppe hinauf, Diener liefen hin und her, und Tanzmusik schallte aus den innern Räumen. Herr von Schaffau sagte, und wie mir schien, etwas ironisch: Das sind Ihnen wohl angenehme Töne? Ich wußte nicht gleich etwas zu entgegnen, denn so besonders angenehm sind mir die Töne nicht. Sie tanzen gern? fuhr er fort. Ich habe nie getanzt, sagte ich jetzt; doch fiel mir ein, daß ich unbedacht gesprochen, ich fügte also hinzu: wenigstens nur allein oder mit Amtmanns Adelheid. Das klang gewiß recht albern, Herr von Schaffau machte auch ein besonderes Gesicht. Ein etwas spitz aussehendes blondes Mädchen kam eilig an, führte mich auf mein Zimmer und versprach, sogleich Licht und Feuer zu besorgen. Sie kam aber nicht, und ich hatte Zeit, mich im Zimmer umzusehen. Ich erkannte, daß ich mich in einem von den Türmen befand, zwei Fenster waren ganz mit Epheu bewachsen, durch die beiden andern fiel das helle Mondenlicht. Wenn mich Hunger und Kälte nicht gequält hätten, würde mir Einsamkeit und Ruhe in diesem eigentümlichen und so traulichen Stübchen sehr wohl gethan haben. Mein Zustand war mir unerträglich; drüben aus den hell erleuchteten Fenstern drang die rauschende Musik zu mir, auch sah ich die Schatten von Tanzenden vorüberschweben; alles war belebt und unterhalten, ich war vergessen und ganz einsam. Da klopfte es leise an die Thür. Ich rief: Herein! Ein Herr trat ein, ich erkannte beim Mondenlicht Herrn von Schaffaus hohe Gestalt. – Lucie? fragte er. – Haben Sie kein Licht? setzte er verwundert hinzu. Noch nicht, entgegnete ich, und im Tone der Stimme war gewiß meine Stimmung deutlich zu lesen. Er verließ mich schnell und nach einiger Zeit hörte ich laute Stimmen auf dem Korridor, die Thüre ward mit Geräusch geöffnet, eine Dame in einem schweren Seidenkleide rauschte herein, ein Bedienter in einem Armleuchter folgte ihr. Es ist eine Türkenwirtschaft im Haus! schalt sie: weder Licht noch Thee noch sonst etwas! Sie schickte den Bedienten fort und gab ihr Mißfallen über den unbehaglichen Zustand, in welchem sie mich fand, ferner zu erkennen. Ich küßte der Dame die Hand und fragte, wem ich für so viel freundliche Teilnahme zu danken hätte. Ich bin Tante Julchen und die Schwägerin der Frau von Schlichten, sagte sie, und da sich meine Schwägerin gerade um Ihren Zögling wenig zu bekümmern pflegt, haben Sie mehr mit mir als mit ihr zu thun. Lucie! rief sie jetzt: – da steckt das närrische Ding wieder hinter der Thüre! Sie holte oder zog vielmehr ein Kind herein und stellte mir meine Schülerin vor. Ich erschrak fast vor des Kindes Häßlichkeit. Ein mageres, gelbes Gesicht, die dunkeln Augenbrauen waren fast zusammen gewachsen, ebenso dunkle Augen sahen finster und mißtrauisch darunter hervor. Die rund aufgeworfene Nase und der große, fein geschlossene Mund gaben dem Gesicht etwas Verbissenes. Dies Aussehen und die Worte der Tante gaben mir augenblicklich die Ahnung, daß dies Kind von der Mutter stiefmütterlich behandelt werde. Mein Herz war bewegt, als ich mich zu ihr beugte und fragte, ob sie wohl gern bei mir sein würde. Lucie wandte sich und die Tante entschuldigte sie, als sie ohne ein Wort oder einen Gruß das Zimmer wieder verließ. Ihre Aufgabe wird es sein, sagte sie unter anderem, und die scharfe Stimme, die scharfen Züge und die spitze Nase schienen mir bei diesen Worten sanfter und milder zu werden: Ihre Aufgabe wird es sein, die Liebe dieses Kindes zu gewinnen, es sieht in dem kleinen Herzen anders aus als es scheint. Uebrigens, mein Kind, sie sah mich prüfend an, scheinen Sie mir noch sehr jung. – Achtzehn Jahr, war meine bescheidene Antwort. – Sie sehen fast noch jünger aus, und – nun machen Sie nicht zu viel Ansprüche, ich habe nichts dagegen, daß Sie sich gerade tragen, von einer Erzieherin verlangt man das: aber den Kopf und das Auge könnten Sie etwas mehr neigen, thun Sie es wenigstens, wenn sie sich meiner Schwägerin präsentieren. – Ich fühlte, was sie sagen wollte, es war dasselbe, als ob Trinchen mich zur Demut ermahnte. Ich will es in diesem Sinne aufnehmen. Ich dankte ihr herzlich für den guten Rat, sie strich mir freundlich über die Stirne. Wollen Sie schnell Toilette machen, so helfe ich Ihnen und führe Sie zur Gesellschaft, sagte sie mütterlich; ich aber dankte für heute, was sie erklärlich fand. Nach kurzer Zeit brachte man mir Thee, und ich fühlte mich am warmen Ofen bald sehr erquickt und erwärmt. Jetzt ist's Mitternacht, ich habe noch lange am Fenster gesessen, der Mond war von der belebten Seite des Schlosses hinüber nach der stillen gewandert, er erhellte sie mit seinem Silberlicht, auch die hohen schönen Bäume und den Rasen des Parkes. So liegt ein Tag hinter mir, es ist mir, als wäre es eine lange Zeit. Viel habe ich erlebt und viel ist noch Dunkles um mich herum. O Herr, schaffe Licht, o Herr, wende mir das Herz des Kindes zu, gieb mir Kraft zu meinem Beruf, gieb mir Demut, alles zu tragen, was du mir auflegst, laß mich immer bedenken, daß alles von dir kommt, nichts von den Menschen.

Den 6. Oktober.

Als ich erwachte, schien die helle Sonne in das Fenster. Ich merkte, daß ich die Zeit verschlafen; doch regte sich im Schlosse noch lange nichts. Ich stand am offenen Fenster nach der Parkseite und entzückte mich an dem ungewohnt prächtigen Anblick. Ein Rasengrund zieht sich weit hin, Baumgruppen treten vor und treten zurück, und legen sich auch rechts an die Höhen. Die Sonne blitzte über die Wipfel, es war nicht zu sehen, ob es ihr Gold sei, oder der Herbst, der sie bunt geschmückt. Unter meinem Fenster blüht ein Beet von Monatsrosen, sie mischen ihren Duft mit dem Duft der Reseda. Ganz nahe dabei führt eine kleine Brücke zu einem dunkelen Parkweg unter Ahornen hin. Ich zögerte nicht lange, ich ging hinunter, um dem blitzenden Morgen näher in das Angesicht zu schauen. Von einem Pavillon sah ich hinab auf Dorf und Schloß und die ganze Gegend, sie ist nicht so einförmig, als sie gestern bei dem schlimmen Wetter mir erschien; nein, sie schien mir ein freudiges Willkommen zuzurufen, ich zage nur und wage es noch nicht zu erwidern. Werde ich hier schwere oder frohe Tage sehen? – Als ich zurückkehrte, begegnete mir die blonde Sofie auf dem Korridor. Schon so früh auf? fragte sie verwundert, und Sie haben noch kein Frühstück. Ich entgegnete, daß ich gern früh aufstehe, daß ich aber niemand dadurch störe, weil ich gewohnt sei, erst später zu frühstücken. Ich erkundigte mich zugleich nach den Sitten und Verhältnissen des Hauses, so viel sie mich angehen. Wann ich Frau von Schlichten sprechen könne; ob es Sitte, daß ich allein oder mit der Familie frühstücke; und so ähnliches. Sofie erzählte mir mehr als ich hören wollte. Die Sachen, die ich hörte, waren nicht geeignet, mir Mut zu machen. Tante Julchen steht an der Spitze des Haushaltes, sie hat zu schalten und zu walten. Frau von Schlichten interessiert sich für solche Dinge nicht. Sie bemüht sich indessen, um der beiden Töchter willen ihr Haus auf alle Weise zu beleben, und versteht das vorzüglich. Eigentlich aber gehört das Gut ihrem Bruder, dem Herrn von Schaffau; der ist weder mit Tante Julchen noch mit der Schwester einverstanden, und niemand begreift, warum er die Frauenwirtschaft hier duldet. Seit einem halben Jahr ist er von längeren Reisen zurück. Bei seiner Abreise waren die Fräulein beinahe Kinder, jetzt ist er mit ihnen unzufrieden, es ist nicht daran zu denken, daß er Thekla, das älteste Fräulein heiratet, obgleich es Frau von Schlichten sehr gewünscht. Er ist ein strenger und ernsthafter Onkel, man fürchtet, er wird die Damen nicht lange hier dulden, wenn sie sich nicht bekehren lassen. Er wohnt mit seinen Leuten im hinteren Flügel des Hauses, und ebenso wie die Herrschaften verschieden sind im Schlosse, so sind es auch die Dienstboten. Vollberger besonders ist ein alter Aufpasser, ein Heuchler und dabei ein Allmächtiger, und wie Tante Julchen in diesem Flügel alles vermag, so treibt es drüben Vollberger. Zwei größere Gegenfüßler giebt es auf der Welt nicht; wenn der Alte auch seine Meinung nie verriete, man riecht ihm das schon an. Tante Julchen aber bleibt mit ihrem Urteil hinter dem Berge. Von drüben und besonders von Vollbergern (denn er steht im Verdacht, daß er dem Herrn immer alles berichtet hat) ist's ausgegangen, daß die letzte Gouvernante das Haus verlassen mußte. Der Tante war es eigentlich recht, denn sie war zu häßlich mit der kleinen Lucie, und mit den beiden ältesten Fräulein trieb sie nur Narrheiten; aber daß Herr von Schaffau gegen sie war, hielt die Tante zurück, ihr auch entgegen zu sein, und sie ärgerte sich, daß Herr von Schaffau seinen Zweck erreichte. Dagegen hat die Tante jetzt durchgesetzt, daß Sie hergekommen sind und nicht eine ältere Dame, die Schwester des Herrn Pastors hier im Orte, ein sehr gelehrtes Frauenzimmer, dabei aber eine Betschwester und eine simple Person, die sich für die jungen Damen des Hauses gar nicht paßt. So sprach Sofie und noch mehr. Herrn von Schaffaus Betragen ist mir hiernach erklärlich, ich aber befinde mich in einem Labyrinthe. Wenn es Ihnen hier gut gehen soll, müssen Sie es mit Tante Julchen und uns halten, riet Sofie. Ich sann einen Augenblick, dann sagte ich: Habe Gott vor Augen, und im Herzen, – ich werde meine Pflicht thun, und ob es mir dann gut oder übel gehen soll, das ist des Herrn Sache. Sofie sah mich an und seufzte. Im Grunde haben Sie recht, sagte sie. So ist im Haus wohl keine Morgenandacht? fragte ich zögernd. Ach du lieber Gott, nein! entgegnete sie, auf dieser Seite wenigstens nicht; ich glaube, daß der Herr mit seinen Leuten so was vornimmt, und der neue Pastor hier möchte gern die neue Methode aufbringen, damit kommt er aber bei uns schlecht an. Weil er vor vierzehn Tagen so schrecklich gekanzelt hat, und Fräulein Julchen sagte: lauter Anspielungen auf uns, – da hat sie verboten, es darf von uns keiner wieder in die Kirche gehen. Nun, oft sind wir freilich auch nicht hingekommen, setzte Sofie hinzu, und wenn ich zum heiligen Nachtmahl gehen will, thue ich es drüben in Remkersdorf bei meinen Eltern. – Ich brach die Unterhaltung ab, ich wußte genug fürs erste, um darüber nachzudenken; doch war dies nur der kleine Anfang des Tages, ich sollte noch mehr erfahren. Nachdem ich nun meine Sachen im Stübchen geordnet, auch angefangen, an die Tante zu schreiben, war es fast Mittag geworden, und Sofie erschien, wie sie mir versprochen, mich zu Frau von Schlichten zu rufen, die mit den Töchtern und Gästen zum zweiten Frühstück versammelt war. Einige alte Onkels und junge Vettern sind hier, um die Hühnerjagd zu genießen, auch fehlt es nicht an Damen, und täglich giebt es hier oder auf den Nachbargütern eine Festlichkeit. Die untere Etage ist sehr prächtig, Teppiche und Vasen und seidene Möbel überall. Ich stand bange im Vorzimmer, durch die geöffnete Thür hörte ich das Geplauder vieler Stimmen, es ist sehr schwer, allein unter so fremde Menschen zu treten. Trinchens Worte standen tröstend vor meiner Seele: Wenn der vornehmste Herr mit dir ist, kannst du getrost überall erscheinen; mit seinen Waffen gewaffnet, das ist Demut und Liebe, bahnst du dir überall den Weg. – So bange ich war, trat ich getrost ein. Fräulein Julchen kam mir entgegen, es entstand ein Schweigen, man sah mich neugierig an, ich wurde vorgestellt. Frau von Schlichten begrüßte mich mit einer gewissen Holdseligkeit, die mir aber nicht wohl that. Darauf traten Thekla und Rosalie zu mir, es sind beide sehr schöne Mädchen, nur etwas zu klein, dünkt mich. Nachdem sie einiges mit mir gesprochen, stand ich allein. Tante Julchen wandte sich zuweilen zu mir und forderte mich zum Essen auf. Ich hatte jetzt Gelegenheit, die Leute anzusehen und anzuhören. Es waren fast nur Damen, die Herren waren auf der Jagd. Ein junger hübscher Mann ward von den Damen des Hauses Vetter und von den Fremden Herr von Reinberg genannt, er führte das Wort, er erschien mir aber so albern, ja roh und gewöhnlich, daß ich mich wunderte, wie die jungen Damen seine Witze belachen konnten. Ein älterer Herr mit einem großen Schnauzbart trieb es noch ärger, dabei hatte er eine gewisse Vertraulichkeit mit den Damen, die mir zuwider war. Trinchens Schilderungen von der Welt standen in Wirklichkeit vor mir. Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz. Nach einiger Zeit hörte man langsame Schritte im Vorzimmer. Onkel Schaffau sagten die jungen Damen, und zu meiner Verwunderung ward plötzlich ein anderer Ton angestimmt; nur der alte Herr hatte Lust, derselbe zu bleiben, doch mußte er sich der Ruhe und dem Ernst des Herrn von Schaffau auch fügen. Ich bat Tante Julchen, mir gelegentlich meine Beschäftigung anzuweisen und für jetzt zu erlauben, meine Lucie aufzusuchen. Sie war außerordentlich freundlich gegen mich, und wenn ich nichts gefürchtet hätte, daß sie es dem Herrn von Schaffau zum Trotz gethan, würde es mir noch mehr zu Herzen gegangen sein. Ich fand Lucie meinem Zimmer ganz nahe, in einem Zimmer, das von den drei Schwestern bewohnt wird. Ich that alles, was man thut, um Kinderherzen zu gewinnen, und ich bemerkte mit großer Freude, daß sie etwas unbefangener wurde. Plötzlich sagte sie: Werden Sie morgen ebenso liebenswürdig sein als heute? Ich erschrak vor dem scharfen unkindlichen Ton, mit welchem sie sprach. Mit des Herrn Hilfe denke ich mit jedem Tag liebenswürdiger zu werden, entgegnete ich ernst. Mit des Herrn Hilfe? fragte sie verwundert. Verstehst du nicht, was das heißen soll? fragte ich. O ja, aber – sie schüttelte mit dem Kopfe. Ich trat mit ihr an das Fenster. Siehst du den hochgewölbten Himmel, die strahlende Sonne, die prächtigen Bäume, die lieblichen Blumen? Der das alles gemacht hat, kann der nicht auch unsere Herzen schaffen wie er will? Gewiß! rief Lucie hastig. So werde ich ihn bitten, fuhr ich fort, daß er mich liebenswert macht, und werde ihn bitten, daß er mir dein Herz und deine Liebe schenkt. Bei den letzten Worten war ich sehr bewegt, ich drückte das Kind in meine Arme und einen Kuß auf ihre Lippen. Sie sah mich sinnend an, dabei schimmerten die dunklen Augen feucht und ihre Züge kamen mir jetzt gar nicht häßlich vor, nein rührend und lieblich. Wir gingen zusammen in den Garten. Weil die Sonne so hell schien, setzte ich den Hut auf, und nahm anstatt des schweren Deckentuches meine Musselin-Mantille, Lucie sah mich groß an, Wie sehen Sie nur aus? sagte sie Nun wie? fragte ich etwas verlegen. Wie Donna Petronella in der Preciosa, entgegnete sie hastig und freudig, als ob sie es besonders getroffen. Der Vergleich war mir nicht lieb, sie hatte mir schon vorher von Schauspielern erzählt, die im Dorfe seien und wo sie Preciosa gesehen. Hatte sie meine Gefühle auf meinem Gesichte gelesen? sie setzte schnell hinzu: die ist auch sehr schön. Ich schämte mich meiner Empfindsamkeit, scherzte über die Sachen und wir gingen in den Garten. Auf einem lieblichen Platz unter Ahornen sahen wir, ich hatte von dem sehr schön gefärbten Laub für Lucie einen Kranz gewunden, da hörten und sahen wir die Gesellschaft aus dem Schlosse sich uns nähern. In einiger Entfernung blieben sie stehen. Ich weiß nicht, ob ich feiner höre als andere Leute, ihre Absicht war es gewiß nicht, daß ich es hören sollte, meine Toilette aber war der Gegenstand ihres Witzes. Sie sieht wie eine Theaterprinzessin aus, sagte Thekla nach andern Bemerkungen. Es ist eine eitele, alberne Person fügte Herr von Schaffau hinzu. Lucie las bange und teilnehmend den Eindruck dieser Worte in meinen Zügen. Ich ward feuerrot und nahm unwillkürlich den unglücklichen Hut ab, Lucie setzte mir den Ahornkranz auf, schmiegte sich an mich und sagte zärtlich: Seien Sie nicht traurig. Ich küßte des Kindes Stirn, als ich aufblickte, stand Herr von Schaffau vor uns. Er schien sich über unsere Vertraulichen zu wundern und wandte sich dann sehr freundlich zu Lucie. Ich weiß nicht, warum sein hartes Urteil mir am Wehesten gethan. Tante Julchen folgte ihm auf dem Fuße, sie stellte sich wie schützend mir zur Seite, doch fühlte ich den blitzenden Gesichtern und den übermütigen Stimmen an, daß ihre Autorität einen Angriff jetzt nicht verhindern könne. Ein ältliches Mädchen kam zu mir und sagte sehr freundlich: Was haben sie da für einen reizenden Hut! Ich sah sie an, als wie die Tante that, wenn sie: Jungfer Katharine! sagte. Ja ein reizender Hut, wiederholte der alte Herr mit dem Schnurrbart, aber welche Mode ist es, mein Fräulein? es ist so etwas Eigentümliches, Piquantes. Ich fühlte wie es an meinem Herzen drängte und Zorn und Stolz sich regten; ich richtete mich hoch auf. Ich bedauere, das nicht sagen zu können, entgegnete ich ruhig, das Studium der Moden ist mir, nie interessant gewesen. Man schwieg. Ich sah eine sichtliche Veränderung auf den Gesichtern. Der alte Herr aber fuhr fort: Gut gesagt, mein Fräulein, ich mache Ihnen mein Kompliment! aber leere Versicherungen! Auf Ehre, sollten Sie nicht eben so gut als diese, Damen mit dem Modejournal geliebäugelt haben? Ich versichere, daß ich es heute zum erstenmal vor mir sehe, entgegnete ich mit gleicher Ruhe, Alle Wetter! rief der Alte und lachte laut. Mir war aber das Weinen nahe, ich fühlte mich selbst so häßlich in dieser Weise, und nahm mir vor, lieber alles über mich ergeben zu lassen, als mich so zu wehren. Ich nahm Lucie bei der Hand, verbeugte mich und verließ schnell den Platz. Man konnte mir das nicht verargen, ich hörte auch laut Tante Julchens scheltende Stimme, und bald kam Thekla hinter uns und fragte ziemlich verlegen, ob ich nicht am Spaziergange theilnehmen wolle. Meine Thränen waren jetzt wirklich hervorgebrochen, ich fühlte mich sehr unglücklich, ich bemühte mich, ihr ein freundliches Nein zu sagen, und eilte mit Lucie nach Hause, Lucie begann jetzt auf eine sehr unkindliche Weise über die Schwestern und über die ganze Gesellschaft zu sprechen. Sie ist wahrlich über ihr Alter hinaus. Jetzt wußte ich, was ich zu thun hatte; es ward mir selbst schwer, aber ich suchte zu entschuldigen die, die mir wehe gethan. So redete ich mir selbst zu, versöhnlich zu sein, und ich fühlte, wie der Stachel sich nach und nach im Herzen löste. Jetzt konnte ich bitten: Komm, heiliger Geist, hilf mir! jetzt konnt ich so freudig von meinem Herrn und Heiland sprechen, ich sprach vom Verzeihen, von der Feindesliebe, wie er uns geliebt hat und noch liebt, da wir doch gar zu kalt und lieblos unsere Herzen von ihm wenden. Ich sagte ihr, wir wollten beide den Herrn bitten, daß er unsere Herzen ganz und gar hinnähme, daß wir ihm zu Liebe alles könnten, auch die lieben, die uns wehe thun, Lucie hörte aufmerksam, wenn auch verwundert, zu; als Sofie kam, um sie zu holen und ihre Toilette zum Mittagstisch zu ordnen, gab sie mir die Hand und sah mich sehr freundlich an; das that meinem Herzen wohl. Nach einiger Zeit kam Sofie wieder, auch mir behilflich beim Umkleiden zu sein, und als ich wenig Lust dazu zeigte, erzählte sie mir, daß meine Vorgängerin stets die ausgezeichnetste Toilette gemacht, Sie wollte noch mehr von ihr erzählen und zwar nur übele Sachen, ich bat sie zu schweigen, weil ich es für eine Sünde erachte, so etwas anzuhören; dagegen würde ich sehr gern Gutes von den Hausbewohnern hören. Ach das sind noch unschuldige Weltansichten, sagte Sofie, Sie werden hier etwas anderes lernen. Ich freute mich jetzt, Trinchens gute Lehren in Anwendung zu bringen, und that das mit meinen schwachen Kräften. Sofie ist ein offenes und gutherziges Mädchen; sie sah ein, wie unrecht und häßlich es ist, Böses von Menschen zu reden und solche Reden mit anzuhören. Ich sagte ihr, wir wollten uns gegenseitig stärken, nicht in diese Fehler zu verfallen, besonders um Lucies willen, weil deren Seelenheil jetzt mit auf unserer Seele ruhe. Nicht ein liebloses Wort dürfe sie aus unserem Munde hören, denn der Herr Christus sagt: »Wer einen von diesen Kleinen ärgert, dem wäre besser, daß ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er ins Meer geworfen würde, da es am tiefsten ist,« O lieber Herr, segne diese Worte, besonders segne sie an mir selbst, gieb mir Kraft zu meinem schweren aber schönen Beruf, O dürft ich dir dies Kind zuführen! Dies Streben und diese Hoffnung soll mir Ersatz sein für vieles, das ich hier entbehren muß. Mit versöhnlichen und großmütigen Gedanken ging ich in den Speisesaal, doch hatte ich sie kaum nötig; auch Sofiens Bemühungen um meine Toilette waren unnötig, niemand kümmerte sich um mich. Ich fand meinen und Lucies Platz am Ende der Tafel, neben uns saßen zwei Knaben. Gebetet wurde nicht, und ich schäme mich, daß ich nicht den Mut hatte, es für mich zu thun. Die Knaben unterhielten uns sehr gut; besonders der ältere, Vetter Alfred, ist witzig und angenehm, wir vergaßen die großen Leute und waren vergnügt in unserem Reiche: ich mußte sogar meine Jugend ermahnen, weil wir die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf uns zogen. Herrn von Schaffaus prüfende Blicke ruhten oft auf mir, doch schien er nicht unzufrieden mit unserer Fröhlichkeit, – übrigens soll sein Urteil, seine Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mir gleichgültig sein; ein Mensch, der ungerecht und gewissenlos in Worten und Urteilen ist, hat keine Autorität für mich. So dachte ich bei Tisch und fand in diesen Gedanken eine Genugthuung für das mir angethane Unrecht. Doch sollte ich bald andere Gedanken haben. Nach Tisch versammelten sich die jungen Leute, um Charaden und Bilder aufzuführen. Herr von Tülsen, der alte Herr mit dem Schnurrbart, forderte mich dringend auf, daran teilzunehmen. Ich dankte. Er fragte mich nach dem Grund. Ich entgegnete ihm, das mir die Sache zu unbekannt sei. Er sprach weiter mit mir, er fragte, ob ich mit Absicht meine Toilette so eigentümlich wähle. Trinchen hat mein weißes Kleid mit einem schön gestickten Bettumhang verlängert und garniert. Ich bemerke wohl, daß ich anders aussehe, als die Damen hier; es bedrückt mich auch, der Gegenstand ihres Spottes zu sein: doch soll es mich nicht unglücklich machen. Ich entgegnete Herrn von Tülsen, daß ich von Jugend auf gewöhnt sei, mich seltsam angezogen zu sehen, und meine Umgebungen hier würden sich daran gewöhnen müssen, da ich für jetzt keine Aenderung treffen könne. Herr von Tülsen that darauf sehr freundschaftlich, sagte mir mit großer Unverschämtheit Schmeicheleien, so daß ich sehr froh war, als Herr von Schaffau diese Unterhaltung unterbrach. Ich entfernte mich von ihnen. Groß und Klein war mit Vorbereitungen zu den Vorstellungen beschäftigt. Ich setzte mich in ein tiefes Bogenfenster, zog die dunkeln Gardinen etwas vor, und war nun allein mit dem hellen Mondenlicht und dem herrlichen Asternstrauß, den mir Sofie vorgesteckt. Es war mir weh um das Herz, ich hatte Heimweh. Ich schaute auf den Mond und dachte, wie seine Strahlen auch auf dem lieben Plettenhaus jetzt ruhten, ich schloß die Augen, ich hätte einschlafen mögen und die fremde Welt um mich vergessen und mich nach der lieben Heimat träumen. Da hörte ich Geräusch neben mir, ich wandte mich um und sah Herrn von Schaffau an meiner Seite. Er sah ernst und doch freundlich aus. Die Worte, die er sprach, weiß ich nicht ganz genau, er bat um Verzeihung, daß er mir heute morgen weh gethan, und bat, ihm nicht zu mißtrauen und fest überzeugt zu sein, daß er es treulich mit mir meine. Mich rührten diese Worte, es war mir, als ob er mir zu verzeihen hätte. Er fragte dann, ob ich Heimweh habe und traurig, sei; ich konnte es nicht leugnen. Ob ich mich an das Landleben gewöhnen würde? Ich sagte ihm, daß ich noch nie eine große Stadt gesehen. Er wunderte sich, nannte mich glücklich und scherzte dann darüber. Ich habe ihm von Haus erzählen müssen und ward vergnügt, obgleich ich gestehen muß, daß sein Wesen mir mehr Furcht als Vertrauen einflößt. Lucie holte mich zu den Vorstellungen. Ich sah prächtige Dinge, aber unangefochten. Es war mir sehr gleichgiltig, daß Tante Julchen mich den anderen gegenüber heben wollte, in meinem Herzen war es still. Aber wehmütig machte es mich, Lucies Randglossen zu hören, sehr scharfsinnig, aber sehr bitter sprach sie Urteile über die Gesellschaft aus. Ich konnte nichts entgegnen, meine Weisheit war heute zu Ende und mich quält der Gedanke, ob ich wohl meinem Berufe gewachsen bin.


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