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X.
Der neue Schulmeister


Ist der Herr Regierungsrath zu Hause? fragte ein junger Schullehrer den Bedienten, der ihm die Hausthür öffnete.

Ja wohl, Herr Raumer, entgegnete der Gefragte, aber der Herr kleiden sich eben an, Sie müssen sich ein Weilchen gedulden. Er führte bei diesen Worten den jungen Mann in das Vorzimmer, wo derselbe noch einen älteren Collegen fand.

Nun, Klatke, willst Du auch Abschied nehmen? fragte der Eintretende.

Leider ja, – war die kurze Antwort.

Warum denn leider? fragte Raumer lächelnd.

Wohin treibt einen nicht die Noth! fuhr Klatke fort: sogar auf das Land! Meine Frau weint sich fast die Augen aus dem Kopf. Aber was hilfts? Meine vier Jungens wollen leben und das Privatstundengeben ist eine Hundearbeit.

Ich muß gestehen, ich habe auch so einen geringen Schauer vor meinem idyllischen Dorfe, entgegnete Raumer vertraulich, aber freilich: was hilfts? Wenn ich auch keine vier Jungens zu ernähren habe, das Umhertreiben hier muß endlich aufhören.

Der Herr Regierungsrath unterbrach das Zwiegespräch. Er gebot den beiden Männern einzutreten und begann herablassend und zugleich vertraulich mit ihnen zu reden. Er war für den ganzen Schullehrerstand ein Mann von Bedeutung, er hatte die Stellen zu besetzen, hatte mehrere Seminare unter sich, seines Geistes Wehen gab die Richtung an, nach der die Directoren mit vollen Segeln steuerten, und die jungen Leute erkannten mit Hochgefühl darin nur Weg und Ziel ihrer würdig und angemessen. Sie blickten mit Freude und Hochachtung auf ihre Vorgesetzten und auf sich selber, und ihr einziger Schmerz war, daß ihre herrliche Bildung, der hohe Standpunkt den sie behaupteten, sich in den elenden Dorfschulen der Provinz so in den Sand verlaufen sollte.

Ich kann mir denken, lieber Klatke, daß sie ungern die Stadt verlassen, sagte der Herr Regierungsrath: Sie gehören Ihrer Bildung nach eigentlich nicht auf das Land, aber sie müssen sich doch gratuliren, die gute Stelle so bald bekommen zu haben, Ihre Umstände hier sind gar zu traurig, dieser Gedanke muß Sie für vieles trösten.

Klatke seufzte. Der Herr Regierungsrath hatte Recht, seine Verhältnisse waren traurig: die vier Jungens verstanden es, den Geldbeutel mobil zu halten, aber freilich auch andere Dinge verstanden das: Hüte, Fracks, Handschuh und ähnliche Ausgaben, die das Stadtleben mit sich brachte, hatten ihr Theil Schuld daran.

Uebrigens, fuhr der Herr Rath in seiner Rede fort, treffen Sie es auch in anderer Hinsicht sehr gut. Sie kommen zu einem vernünftigen Pastor, mit dem läßt es sich leben. Dagegen kommt Ihr College hier in eine schwere Schule. Ich warne Sie noch einmal, lieber Raumer, sein Sie auf Ihrer Hut, die Herren Geistlichen haben das Regieren erfunden.

Aber nicht das Lehren, sagte Klatke wohlgefällig.

Sein Vorgesetzter ignorirte diesen etwas vorlauten Einwurf, seine Gedanken darüber hatte er aber bei anderen Gelegenheiten nie zu verbergen gesucht, und Raumer, der das besondere Vertrauen des Herrn Rathes besaß, obgleich er nicht wagte es so unpassend zu äußern, hatte vielleicht noch reifere Ansichten darin als sein College. Als dieser entlassen wurde, mußte er noch bleiben, denn er war so zu sagen ein Genosse des Hauses, und durfte so schnell nicht Abschied nehmen. Alle Personen, von der Frau Regierungsrath an bis zum Bedienten hinab, waren ihm verpflichtet, seine fügsame, gefällige Natur fand überall Gelegenheit sich nützlich zu machen. Den Fräuleins schrieb er Noten ab, den Knaben gab er Musik-Unterricht, mit den kleinsten Kindern spielte er, für die Frau des Hauses beaufsichtigte er die Blumenfenster, dem Bedienten war er beim Weinabziehen behilflich, – kurz und gut der gute Raumer war allen unentbehrlich geworden, und alle bedauerten jetzt sehr, daß er sie verlassen mußte.

Ich hoffe, Sie bald zurückrufen zu können, sagte der Regierungsrath tröstlich, als Raumer sich mit ihm allein befand. Bleiben Sie nur einige Jahre dort, dann kann ich Ihnen ohne Bedenken hier in meiner Nähe eine gute Stelle geben. Noch einmal aber warne ich Sie, sein Sie auf Ihrer Hut, lassen Sie sich nicht verführen, Sie sind mehr Gefühls- als Verstandes-Mensch, dazu hat jeder Mensch einen wunderlichen Hang zu solchen Mysterien, und diese Leute sind schlau, besonders soll Ihr Pastor ein gefährlicher Mensch sein und die Gemeinde hin und wieder angesteckt haben. Erhalten Sie Ihren Blick frisch und frei. Das hervorragende Bedürfnis unserer Zeit fordert Licht und Wahrheit, das Wesen der Gottheit will mit dem Auge der Vernunft erforscht und begriffen sein, ebenso unser Wesen im Verhältniß zu diesem höheren geistigen Leben, und so wie das alles Irdischen zum Himmlischen. Und wahrlich nichts ist leichter als dies, es liegt so einfach, so begreiflich vor unseren Blicken, daß es nur zu verwundern ist, wie finsterer Aberglaube nicht längst Raum gegeben einem beglückenden Licht. – Aehnliches sprach der Lehrer mehr, sein Schüler hörte mit großer Aufmerksamkeit ihm zu, und gab beim Abschied Versicherungen ewiger Hochachtung und treuester Pflichterfüllung.

Auf dem Heimweg aber machten seine Gedanken kühne Ausflüge. Der Pastor soll gefährlich sein? Für dich nicht, dein Wirken wird seinen Einfluß vernichten, du wirst der Gemeinde ein Licht aufstecken. Mit dem jungen Geschlecht soll eine ganz andere Bildung aufblühen, die Gemeinde soll ein Vorbild sein der ganzen Nachbarschaft. Der Pastor selbst soll einsehen, daß seine Erkenntniß und Fähigkeit, dir nicht das Wasser reicht. – Hoch hebt sich die Brust des jungen Mannes bei so freudigen Gedanken, die Wirklichkeit solcher Träume vor Augen zu sehen ist es allein, was ihn nach seinem Dorfe treibt, was ihn verschmerzen läßt die Stadt, den gebildeten Umgang, den freundschaftlichen Verkehr im Hause seines Vorgesetzten.


Es war am Sonntage vor Pfingsten, Raumer hatte zum ersten mal in der Kirche den Dienst versehen, und hatte die Orgel zur Bewunderung der ganzen Gemeinde gespielt. Vorher hatte er von der Pfarre die Liedernummern geholt, und dabei, wie bei seinen früheren Zusammenkünften mit dem Herrn Pastor, nicht vergessen, eine gewisse Würde und Zurückhaltung zu zeigen, die seine Stellung und Richtung der Geistlichkeit gegenüber an den Tag legen sollten. So recht war ihm dies noch nicht gelungen, mußte er sich gestehen; oder wollte es der Herr Pastor nicht verstehen? Dieser war immer gleich freundlich und unbefangen, nur zuweilen ruhten seine Augen so sinnend und theilnehmend auf dem jungen Manne, und Raumer, der mehr ein Gefühls- als Verstandes-Mensch war, fühlte auch, was die Blicke sagen wollten: – Armer, junger Mann, bemühe dich doch nicht so sehr, und ohne Noth; ehe du dich vertheidigst, siehe doch erst ob ich dich angreife. – Raumer fühlte das, aber seinem Verstande waren diese Gefühle unbequem, er schlug sie sich aus dem Sinn, und begann den Nachmittag seine Besuche im Dorfe zu machen. Instinktmäßig fing er bei Bauern an, die er als dem Herrn Pastor im Sinne entgegen kannte, und zuerst bei einem Theilnehmer an einer Zuckerfabrik. Das war ein Mann der Zeit, gebildet und selbstgefällig, und Raumer konnte hier sein Licht leuchten lassen.

So ists recht, sagte der Bauer immer, Sie sind ein Mann für mich, unser Herr Pastor kann uns gestohlen werden, ich halte es nicht mit dem Glauben, ich halte es mit den Thaten. Und Predigten hält der Mensch, wahrhaftig als ob er die gelben Flicken-Jacken vor sich hätte, und ich sage Ihnen unser Dorf ist eines der anständigsten. Da sind vier Bauern die haben zusammen eine Zichorienfabrik, ich sage Ihnen, das sind gemachte Männer, und ich sage Ihnen, meine Elle ist auch nicht länger wie der Kram. Wie gesagt, Bettelei und Ruchlosigkeit ist hier wenig zu finden; unser Pastor aber hat keine Lebensart, er fängt die Sache verkehrt an.

Es fehlt dem Herrn an dem rechten praktischen Sinn, schmunzelte Raumer.

Das meine ich eben, entgegnete der Bauer und ging in die Verhandlung weiter. Seine Frau, in städtischer Tracht und bäurischen Manieren, hatte während dessen auch Wein auftragen müssen, der Bauer wollte zeigen, daß er den Fortschritt auf jede Weise begriffen habe.

Diesem Besuche folgten noch zwei ähnliche, und dann stand Raumer vor einem großen Ackerhofe, der anderer Farbe und ganz besonderer Art war. Erstens wohnte darin der Johann Ziegler, der Schulze, ein Freund des Pastors und ein gewissenhafter Vorgesetzter des Dorfes. Dann wohnte darin seine Mutter, die Samuel Ziegler, eine Bauerfrau nach alter Art, die seit beinahe 40 Jahren die Seele des Hauses gewesen war und noch jetzt den größten Einfluß auf alle Bewohner desselben übte. Aber nicht allein das Haus, das ganze Dorf stand so zu sagen unter dem Einfluß dieser alten Frau. Außer dem Schulzen hatte sie noch einen verheiratheten Sohn und zwei verheirathete Töchter im Dorfe, dazu Vettern und Basen; und waren es nicht Verwandtschaftsbande, so waren es die Bande der Freundschaft, die sie in die Häuser trieb, – kurz und gut, sie war fast nirgends eine gleichgiltige Person, Furcht oder Liebe, eines von beiden flößte sie sicher ein.

Unser junger Schulmeister hatte das gehört, glaubte sich aber völlig sicher gegen solche Gefühle. Es ist eine alte dumme Bauerfrau, dachte er, sie hängt an den alten Sitten und Gebräuchen, ist dazu eigenwillig und herrschsüchtig und führt dadurch ihr Regiment, ich werde mich nicht scheuen, ihr gegenüber die Wahrheit zu bekennen, ich werde mich gleich so zeigen, daß sie Respekt vor mir bekömmt und nicht wagt, mir mit ihren alten Geschichten zu kommen.

Der Schulze war mit seiner Frau ins Feld gegangen, er fand also im Haupthause niemand und ging nach dem Nebenhäuschen, in dem die Frau Samuel ihren Altensitz hatte. Die Thüren waren wegen des schönen Sommerwetters weit offen, er trat leise in den Hausflur, und da er laute Stimmen in der Stube hörte, blieb er unwillkürlich stehen.

Nun Christoffelchen, sagte eine alte aber helle und wohlklingende Stimme, das mußt du festhalten: Unser Herr Gott hat die Welt geschaffen, gar schön und wunderbarlich, dann hat er den Menschen geschaffen nach seinem Bilde, er wollte unser lieber Vater und wir sollten seine lieben Kinder sein und in rechtem Frieden und in Gottseligkeit mit ihm leben. Das war nun dem Teufel gar nicht recht, und er hat die Menschheit verführt und hat sie elend gemacht und so recht in die Irre geführt. Und weil dem lieben Herrn Gott das Elend seiner armen Kinder zu Herzen ging, was hat er gethan?

»Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.«

Richtig, mein Kind, seinen lieben eingeborenen Sohn schickte er vom Himmel herab. Daß der liebe Herr Gott die Welt geschaffen und wunderbarlich erhält, können wir mit unseren irdischen Augen begreifen, es bringt uns aber keine Seligkeit. Daß aber der Herr Christus gekommen ist, uns zu erlösen von Sünde und Tod und aller Noth, das können wir nur mit dem inneren Auge sehen und glauben, und das macht seliger als alle Weisheit der Welt. Christoph bitte und bete, daß Du den Heiland immer siehst, und bitte und bete, daß Du ihn auch immer hörst. Sieh, in diesem heiligen Bibelbuch spricht er, den Kindern dieser Welt unverständlich, den Kindern des Lichts aber schließt er seinen Himmel darin auf, und wenn wir mit unserem Herrn Christus und mit seinem heiligen Bibelbuche recht vertraut leben, so ist es als ob wir hier auf Erden schon im Himmel leben.

Es trat jetzt eine Pause ein, Raumer benutzte sie um einzutreten. Er trat in eine vollständig altmodige Bauernstube. Die Frau Samuel saß in einem Lehnstuhl, ihr gegenüber saß ihre zweite Schwiegertochter auf einem Brettstuhl, beide in altmodiger Bauertracht. Vor der Großmutter stand ihr Enkel Christoph, des Schulzen Sohn, die Bibel lag vor ihr auf dem Tische. Räumern war es eigen zu Muth, er fühlte des heiligen Geistes Wehen hier, es war als müsse seine weltliche Klugheit, sein aufgeblasenes Wissen sich schämen vor der himmlischen Schwester, vor der ewigen Weisheit, die ihm aus dem Munde dieser Bauerfrau gesprochen.

Ei unser neuer Herr Schulmeister! begrüßte sie ihn freundlich. Sein Sie uns herzlich willkommen, und der Herr segne Ihren Eingang und segne Ihr Leben unter uns. – Sie reichte ihm bei diesen Worten die Hand, die junge Frau und Christoph begrüßten ihn ebenso.

Die Unterhaltung begann nun auf eine gewöhnliche Weise, und wie die alte Frau sich gar schlicht und einfältig dabei benahm, gewann der junge Schulmeister wieder Muth und fühlte sich gar erhaben in seiner Bildung. Je lebhafter er wurde, je stiller ward Frau Samuel, dabei sah sie ihn mit den hellen Augen gar aufmerksam an und nickte zuweilen den Kopf, als ob sie sich die Sache überlege. Raumer sagte unter anderem, und recht warm und aus herzlicher Ueberzeugung: wie er so sehr wünsche den Kindern ein sorgsamer und treuer Schulmeister zu sein, wie er mit Bedauern gehört, daß die Gemeinde sich lange mit einem Invaliden behelfen mußte. Er sprach von der Zeit, von ihren Anforderungen, daß man auch auf dem Lande jetzt mehr Kenntnisse nöthig habe als früher. Er sprach von Geografie, Geschichte, von Eisenbahnen und Politik und Musikfesten und Lehrerkonferenzen. Er war so gesprächig geworden, weil es ihm wohl behagte in der Nähe dieser alten Frau, und er sprach nur in der guten Absicht, sie zu belehren und ihr zu zeigen, daß es jetzt anders in der Welt aussähe als in früherer Zeit.

Als er jetzt inne hielt, trat sie zu ihm, legte die Hand auf seine Schulter, sah ihn klug und eindringlich an und sagte: Das ist alles recht schön, ich glaube Sie sind gar gelehrt; nun sagen Sie uns aber von der Gottseligkeit, von der Hauptsache aller Gelehrsamkeit, dabei kann ich einsprechen und geht mir nicht wirr im Kopf herum. – Raumer stutzte. – Hast doch gehört, Christoph, wandte sich die Alte unbefangen zum Enkel, was euch der liebe Herr Schulmeister lehren wird; doch das was er eben sagte, ist nur der Anfang und ist was man mit dem irdischen Auge begreifen kann, und ist noch nicht weit her. Jetzt, Christoph, sage mal was noch schöner zu wissen ist.

»Die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens.«

Richtig, und wenn Du auch wüßtest, wie lang und groß die Erde, und wie hoch der Himmel und all die Sterne, und wärest ein hochgelehrter Mann, wüßtest aber nichts von der Gottseligkeit, was bliebest Du dann?

Ein Thor.

Ein Thor, – richtig, mein Kind. Also bitte nur den Herrn Schulmeister, daß er euch unterweiset, wie ihr gottselig wandeln möchtet, und wie ihr immer den Herrn Christus möchtet vor Augen sehen, und wie ihr ihn hören möchtet in diesem heiligen Buche. So werdet ihr glückliche Kinder sein und Freude im Leben und Frieden im Alter haben. Ich habe das erfahren. Nun Gott segne es, es ist eine Gnadengabe; viele Arme gehen dahin und wissen nicht wo es ihnen fehlt, der Herr möge sich ihrer erbarmen. Sie haben den guten Willen, Herr Schulmeister, das glaube ich, bitten Sie Ihn dort oben, daß er Ihnen auch den Verstand zum Amte giebt, wir wollen auch für Sie beten. Das Schulmeisteramt ist gar schwer und geht nicht mit menschlichen Kräften.

Raumer konnte kaum etwas erwidern. Er war voll inneren Zorns, und doch war wieder im Wesen der alten Frau so viel Aufrichtigkeit und Innigkeit, daß er sich heimlich bewegt fühlte, und in einer gewissen Verlegenheit nur dem Gespräche ein Ende machte und Abschied nahm.

Das Haus betrete ich nicht wieder, dachte er im Hinausgehen. Noch einmal sah er zu den Fenstern auf, – die junge Frau sah mit ihren treuherzigen Augen ihm mitleidig nach. Dieser Blick ärgerte ihn fast mehr als die Ermahnungen der Alten.

Am Abend konnte er keinen Schlaf finden, er ging immer in der Stube auf und ab. Seine Schwester, die mit ihm gezogen war, um ihm die Wirthschaft zu führen, machte die Thür auf und sagte: August willst Du nicht zu Bett? es ist bald Zwölf. – Ich gehe schon, sagte er abwehrend.

Er setzte sich aber an das offne Fenster, legte die Arme auf die Brüstung und schaute hinaus in die stille Nacht. Der Mond stand voll und golden über dem kleinen Schieferdach der Kirche, hell lag sein Schein auf den Gräbern und den schwarzen Kreuzen, im alten Fliederbaum, der mit den weißen Blüthen leise in der Nachtluft wehte, rief ein Käutzchen seinen wehmüthigen Ruf: »Komm mit, Komm mit.« – Wohin denn? fragte sich Raumer. – Ach ja, es giebt noch etwas anderes als diese Welt, diese Welt mit ihrem Treiben und Wissen und vergänglichen Wesen. Die Sehnsucht des Herzens läßt sich nicht stille reden, besonders in so stillen Stunden der Nacht. Herr, diese Welt sie ist eine ungetreue Freundin und giebt keinen Frieden und keine Seligkeit, o Herr thue mir Deinen Himmel auf, zeige mir wie ich wandeln soll, lehre mich Deine Weisheit, damit ich andere lehren kann.

Raumer weinte, aber noch Thränen des Zweifels und des Unglaubens. Noch nie hatte er Aehnliches gefühlt, die Worte der Frau Samuel steckten ihm wie ein Schwert im Herzen, und die Lobeserhebungen der Gebildeten im Dorfe, die er vorher eingeerntet, trösteten ihn nicht in dieser Stimmung.

Raumer sollte zum erstenmal Schule halten, die ganze Klasse war versammelt. Bei seinem Eintreten standen alle Knaben auf und blieben, wie es bei dem alten Schulmeister ihre Gewohnheit war, gleich mit gefalteten Händen stehen. Ach, das Gebet! daran hatte Raumer nicht gedacht, er hatte weder Bibel noch Gesangbuch mitgebracht. Parisius Katechismus, Dinters Schullehrer-Bibel und Zerrenners Kinderfreund hatte er in der Hand, und er legte die drei Bücher jetzt in einiger Verlegenheit auf das Katheder. Nicht ein Gebet wußte er auswendig, selbst das Vater unser wagte er nicht so aus dem Kopfe zu beten. Der kleine Christoph saß ihm gegenüber und sah ihn mit großen Augen sinnend an. Das Kind betet, – so ging ihm ein Blitzstrahl durch die Seele. – Ja, Frau Samuel hatte gesagt: Christoph, es ist ein schwer Amt, Schulmeister sein, mit eignen Kräften geht es nicht, wir wollen für ihn beten. Und Christoph und seine Großmutter und manches gläubige Herz in der Gemeinde beteten für den neuen Schulmeister, der heut zuerst Schule hielt. Raumer glaubte gewiß nicht an die Kraft der Fürbitte, aber er fühlte sie, es war jetzt das treue stille Auge des kleinen Christoph, das sein Herz bewegte. Diese Bewegung war ihm unwillkürlich Vorwand, Zeit zu gewinnen. Er trat zu dem Knaben, strich ihm die Stirn und sagte liebevoll:

Nun lieber Christoph, Du möchtest also gern recht viel von der Gottseligkeit lernen, das freut mich, und ich will euch recht viel von der Gottseligkeit lehren, nicht wahr lieben Kinder, das ist euch allen recht?

Bei diesen letzten Worten trat der Herr Pastor in die Schule, er glaubte den Unterricht schon begonnen, und wollte bei der ersten Stunde in der Woche, der Katechismuslehre, zugegen sein.

Der Herr segne Ihren Entschluß! sagte er eben so erfreut als überrascht von Raumers Worten. So lassen Sie uns einen Weg wandeln, in rechter Liebe und im Vertrauen brüderlich zusammen stehen auf dem Feld, wohin der Herr uns zusammen gestellt hat.

Es war Wahrheit in diesen Worten, und sie fanden in Raumers jetziger Stimmung einen guten Anklang. Er reichte dem Pastor die Hand und sagte nichts, aber seine Augen sprachen mehr als Worte. Der heilige Geist hatte ihn berührt, er ahnete die Seligkeit eines demüthigen Herzens, und es war ihm so wohl dabei. Er bat jetzt seinen Vorgesetzten, das Gebet zu halten, und als darauf gesungen wurde, freute es ihn die Verse des Liedes »Ach bleib mit deiner Gnade« auswendig zu können, denn es waren nur wenige Brocken der alten Kirchenlieder, die er auswendig wußte.

Am stillen Abend saß er wieder allein, und doch nicht allein. Hofackers Predigten, Müllers Erquickstunden und andere gläubige Gebetbücher lagen neben ihm. Das war eine andere Gesellschaft als Dinters Schullehrer-Bibel und Parisius Katechismus, es war ihm auch noch etwas bange darin, und er fühlte ein heimlich Widerstreben gegen diese Gaben seines Herrn Pastors. Doch hatte er sich fest vorgenommen, sich einen jeden Morgen zur Andacht in der Schule vorzubereiten, dazu suchte er Stoff in diesen Büchern und es ging ihm dabei wie allen denen, die auch ohne ihres Herzens Absicht zum Herrn kommen müssen. Des Menschen Herz schlägt seinen Weg an; aber der Herr allein giebt daß er fortgeht.


Zwei Jahre waren vergangen und noch einige Wochen mehr, denn die alte Linde blühte vor dem Hause der alten Frau Samuel. Sie saß am offenen Fenster, und Raumer ihr junger Freund stand davor, er hatte ihr eben einen Brief mitgetheilt, den ihm sein Herr Regierungsrath geschrieben.

Nun, der Herr segne Ihren Entschluß, daß Sie nicht wieder nach der Stadt wollen, sagte sie; ich glaube auch, es ist für Sie besser hier auf dem Lande.

Gewiß! entgegnete Raumer freudig, ich muß noch lange hier bleiben und alles vergessen, was ich in der Stadt gelernt habe, und mit meinen Kindern hier wieder ein Kind werden.

Sagen Sie das dem Herrn Regierungsrath?

Gewiß sage ich ihm das.

So Gott befohlen und glückliche Reise.

Raumer wanderte nach dem einem Stündchen entfernten kleinen Badeorte, von wo ihm der Regierungsrath geschrieben, und ihm eine Stelle in der Stadt angeboten, mit dem freundlichen Bescheiden, ihn und seine Familie im nahen Bade aufzusuchen.

Er wurde herzlich empfangen, besonders von den Kindern, denn er war von Natur ein Kinderfreund, fügsam und liebreich und beweglich. Der Regierungsrath sprach bald, und zwar im Beisein der ganzen Familie, von seiner Versetzung, und als Raumer bescheiden aber mit großer Bestimmtheit entgegnete: er wünsche stets auf dem Lande zu bleiben, – sah ihn sein Vorgesetzter groß an.

Ich wünsche alles zu vergessen was ich in der Stadt gelernt habe, sagte er lächelnd, ich möchte erst wieder ein Kind werden mit den Kindern.

Da haben wirs! rief der Regierungsrath heftig: der Pastor hat seine Sache gut gemacht!

Nicht der Herr Pastor, sagte Raumer, der liebe Herr dort oben selber hat es gut mit mir gemacht, ich bin ein seliger Mensch, und ich möchte allen Menschen, und besonders denen, die ich lieb habe, diese Seligkeit wünschen. Er strich dabei dem kleinen Knaben, der an ihm lehnte, liebreich über die Stirn. Die armen Kinder, obgleich ihnen viel gereicht wurde, gingen doch auf dürrer Weide.

Lieber Raumer, ich habe Sie zu lieb, um Sie so kurz abzufertigen, fing der Regierungsrath wieder ruhiger an. Sagen Sie mir, wie sind Sie dazu gekommen.

Durch fleißiges Beten, war Raumers einfache Antwort. Ich wurde von Freunden gemahnt, ich wurde unruhig, ich kämpfte mit Zweifel und Unglauben, aber ich kämpfte, ich ließ nicht nach bis der Herr mich segnete. O wie ist es leicht, ein Schulmeister zu sein, wenn der Herr Christus uns zur Seite steht, der giebt Geduld und Liebe und Ausdauer und Freudigkeit. Von mir selbst vermag ich nichts, mit dem Herrn Christo alles.

Haben Sie denn nichts vermocht, früher als Sie den Glauben nicht hatten, als Sie in der Stadt geehrt und geliebt waren bei Ihrem Wirken? Ich erinnere Sie nur, hier auf meine eigenen Kinder zu sehen, deren Liebe Ihnen treu geblieben ist bis auf den heutigen Tag.

Und doch vermochte ich nichts. Vom Morgen bis Abend fühlte ich mich gequält und im Genusse des Glückes, das ich immer meinte vor Augen zu haben, gestört durch Hochmut, Eitelkeit, Ungeduld und Selbstsucht, und ich glaube, daß alle Menschen, die nicht mit dem Herrn Christo leben, so geplagt sind bis zu ihrem Lebensende.

Raumer machte eine Pause, der Regierungsrath auch. Er sah auf sein Leben zurück: es war eigentlich ein glänzendes, aber ohne Freude und Friede; Ehrsucht und Selbstsucht trieben ihn hastig durch das Leben. Wohin? das war der schlimmste Punkt, er fürchtete sich sehr vor dem Ende.

Herr Regierungsrath! sagte Raumer bewegt, nur wenn ich selbst im Herzen Frieden und Freude und Seligkeit fühle, kann ich meine Schüler auf den Weg führen, auf dem sie das finden.

Ich habe es immer gesagt: Sie sind mehr Gefühls- als Verstandes-Mensch, unterbrach ihn der Regierungsrath, und sind Sie glücklich dabei, habe ich nichts dagegen. Ich glaube aber selbst, Sie passen unter diesen Umständen besser auf das Land als in die Stadt.

Der Herr dort oben wird mich hinschicken, wo er mich hin haben will, entgegnete Raumer freudig, ich warte es geduldig ab.

Der Regierungsrath sah ihn stutzig an. Er hatte ja die Stellen zu besetzen. – Armer Regierungsrath, wie hat dich der Herr in seiner Hand, Er wird trotz deiner Macht den gottseligen Schulmeister führen, und sein Leben reich und selig machen. Und war es nicht jetzt schon so?

Der Sommerabend war schön, der Himmel so rein, die Sonne so golden, Freude und Fülle ringsum. Im Herzen des Schulmeisters war Licht und Frieden und Freude und Fülle am reichsten. Er schritt freudig durch die Felder und sang aus tiefstem Herzensgrunde:

Ich habe nun den Grund gefunden,
Der meinen Anker ewig hält:
Wo anders als in Jesu Wunden?
Da lag er vor der Zeit der Welt.
Der Grund, der unbeweglich steht.
Wenn Erd und Himmel untergeht.


Druck von Ed. Heynemann in Halle.

 


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