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III.
Vater, Sohn und Enkel

Eine Dorfgeschichte.

Wird denn der Herr ewiglich verstoßen
und keine Gnade mehr erzeigen? –
      O wie ist die Barmherzigkeit des Herrn
so groß, und lasset sich gnädig finden denen,
so sich zu ihm bekehren;
      Auf daß alle, die an ihn glauben, nicht
verloren werden, sondern das ewige Leben
haben.


1. Der Vater.

Es war ein schöner Sonntag Abend im Spätsommer, da ging der junge Pastor Müller mit seiner Frau das Dorf entlang. Die Leute saßen feiernd vor den Thüren, der Prediger grüßte freundlich nach allen Seiten, und sein Gruß fand von allen Seiten eben so freundliche Erwiderung. Vor einem der letzten Häuserchen des Dorfes aber stand ein Mann in frischen Hemdsärmeln und neuer bunter Weste, eine Pfeife rauchend, und neben ihm seine Frau eben so sonntäglich angethan. Einige Kinder spielten unter dem Pflaumenbaum, der die eine Seite des Hauses beschattet, und die beiden ältesten, ein Knabe und ein Mädchen, standen kichernd in der Hausthür. Hier grüßte der Pastor mit ernsteren und gehalteneren Zügen, aber dessenungeachtet ward ihm, und besonders von der Frau, ein sehr freundliches Guten Abend! zu Theil.

Aber lieber August, sagte die Frau Pastorin mit leisem Vorwurf in der Stimme zu ihrem Manne, ich glaube, gegen diese Leute bist Du doch zu strenge. Was ist ihnen eigentlich vorzuwerfen? Der Mann ist kein Säufer, er arbeitet gleich fleißig mit seiner Frau, und ich sehe beide so oft in der Kirche. Daß sie die Kinder nicht regelmäßig zur Schule schicken, ist freilich sehr unrecht, aber leider thun das viele Familien im Dorfe. Wenn Du erst länger hier bist, wird Dein Einfluß gewiß diesem Uebel abhelfen.

Du hast Recht, liebe Emilie, entgegnete der Mann. Ein strenger Gruß ist für jetzt bei Freihausens nicht an rechter Stelle, ich kenne sie eigentlich noch zu wenig, und es ist auch mehr unwillkürlich als mit Absicht, daß ich so grüße. Aber glaube mir, Freihausens sind eine von den kränksten Familien unseres Dorfes: hinter dieser äußeren Ehrbarkeit steckt ihnen der Wurm im tiefsten Lebensmarke, und der Eifer und die Schlauheit, mit der sie jeden Vorwurf abzuwenden wissen, ist gerade ihr größtes Unglück, sie lassen Arzt und Heilmittel sich nicht nahen. Aber frage wen Du willst, ob Du irgend ein gutes Urtheil über sie hören wirst. Sie sind fleißig und sparsam, sie haben sich das Häuschen angeschafft, aber niemand hat Theilnahme für sie; die Reichen im Dorfe zucken die Achseln, von den Armen werden sie beneidet.

Müller sprach sich immer wärmer in die einmal vorgefaßte Meinung hinein, dagegen hielt ihm seine Frau wieder seine Unbekanntschaft mit den dörflichen Verhältnissen vor, und wie leicht man sich irren und Leuten Unrecht thun könne.

So waren sie die nahen Wiesen durchwandelt und kamen jetzt den Fußsteig hinter den Gärten des Dorfes zurück. Als sie an der Hecke waren, die Freihausens Garten von dem Fußsteige trennt, hörten sie Geflüster von Kinderstimmen. Müller bog leise die Zweige der Hecke auseinander und erblickte die Familie Freihausen im Garten versammelt. Der älteste Knabe, ungefähr dreizehn Jahr alt, saß auf einem niedrigen Apfelbaum, der sich in die Hecke des Nachbar-Gartens hinüber neigte, und seine etwas jüngere Schwester bog sehr geschickt mit einem Hakenstock ihm einen vollen nachbarlichen Birnenzweig entgegen, von dem er die Birnen pflückte und sie leise kichernd und flüsternd in die Schürze der Schwester gleiten ließ. Des Vaters Blicke ruhten eben so gleichgiltig auf den Kindern, wie auf den blauen Rauchwolken, die er in die Luft blies. Die Mutter aber, zwei kleinere Kinder an der Hand, sah lachend auf die größern. Jetzt stieß sie den Vater an: Sieh nur die sapperlotschen Dinger, wie geschickt sie das machen! sagte sie halblaut.

Die infamen Diebe! entgegnete der Vater im spaßhaften Ton, na laßt Euch nur dabei kriegen, denn sollt Ihr etwas besehen.

Die Kinder aber an der Mutter Hand wollten sich nicht mehr halten lassen. Auch Birnen haben! riefen sie mit etwas lauterer Stimme.

Wollt Ihr das Maul halten! fuhr sie die Mutter an. Wenns Nachbars Fritze sieht, dann kriegt Ihr alle Klopfe.

Wenn es auch der Nachbar nicht sieht, tönte da Müllers volle Stimme aus der Hecke herüber, der Herr Gott dort oben sieht es, und die Früchte Eurer gottlosen Kinderzucht werden Euch noch einmal bitter kränken.

Die Familie war wie vom Blitz getroffen, der Junge rutschte vom Baum herunter, des Nachbars Birnenzweig schnellte vom Hakenstock befreit in die Höhe, und beide Diebe krochen in die Hecke. Freihausen besann sich am ersten. Was ist denn da los? that er sehr verwundert; ei die Bälge! wartet, ich will Euch mausen lehren.

So hättet Ihr nur vorhin reden sollen, entgegnete der Pastor ernst: glaubt Ihr, daß, da ich die Kinder gesehen habe, ihre Sünde größer geworden ist, als vorhin, wo Ihr darüber spaßen konntet? Ihr rechtfertiget Euch selbst vor den Menschen, aber Gott kennt Eure Herzen, und Euer Herz ist nicht rechtschaffen vor Gott.

Nach diesen Worten entfernte er sich mit seiner Frau, aber beide hörten noch das Geschrei der Kinder und Freihausens laute Stimme: Hier seht, Nachbar Zifer, das ist für die Birnen, die Euch die Kanaillen mausen wollten!

Doch mit den Prügeln allein sollte Freihausens Eltern-Ehre noch nicht gerechtfertigt sein. Die Mutter, Gift und Galle im Herzen, that ihr bestes Sonntagstuch um und lief mit schnellen Schritten zum Pfarrhause. Nach heftigem Klopfen trat sie in die Stube, in der der Pastor und seine Frau beisammen waren.

Herr Pastor, sagte sie mit entschlossener Stimme, Sie haben uns einen Schimpf angethan, den wir als rechtschaffene Leute nicht auf uns sitzen lassen können, vor allen Nachbarn haben Sie gesagt, daß wir unsere Kinder gottlos erziehen, und das sollen Sie uns erst beweisen.

Müller trat ihr näher, indem er mit seinen großen braunen Augen fest und ruhig in die ihrigen sah, und obgleich sie ihn erst keck und herausfordernd angeschaut, sie mußte den Blick jetzt niedersenken.

Frau Freihausen, sagte er in einem etwas feierlichen, aber theilnehmenden Tone, Ihr wißt wohl, was Ihr gethan habt. Ihr seid eine kluge Frau, wenn Ihr Euch nun überzeugen müßtet, daß ich Eure Gedanken kenne, würdet Ihr Euch nicht schämen müssen dieser Heuchelei?

Ach du Herr mein Gott! rief sie da in nachgemachter Aufregung, und dabei hatte sie ihre Augen so in ihrer Gewalt, daß sie voll helles Wasser liefen. Ich mich schämen! Solche Ungerechtigkeit für alle Rechtschaffenheit. Herr Pastor, – bei diesen Worten steigerte sich ihre Rührung, – wer kann uns was Schlechtes nachsagen? Wir haben noch nicht gestohlen und nicht betrogen, mein Mann ist kein Trinker, wir arbeiten und lassen es uns sauer werden, wir schicken unsere Kinder nicht betteln, und wenn wir selber hungern sollten. Daß wir bei diesem Lebenswandel was vor uns bringen und daß es uns gut geht, das gönnen uns die schlechten Menschen nicht, da wird man verleumdet und angeschwärzt. Aber der liebe Gott, der die Herzen kennt, wird auch seine Unschuld schützen, und wenn uns alle Welt verläßt, so wird er doch allezeit unseres Herzens Trost und unser Theil sein. – Hier hielt sie mit Schluchzen inne.

Der Pastor stand erst einen Augenblick betroffen vor dieser Wortgeläufigkeit, aber er war kein Neuling im Umgange mit solchen Menschen und entgegnete: Von allem, dessen Ihr Euch da rühmt, will ich Euch nichts nehmen: aber wenn Ihr mir ein willig Ohr leihen wollt, will ich Euch erklären, wie man bei strenger äußerer Rechtschaffenheit doch seine Kinder gottlos, das heißt, nicht in dem Sinne des Herrn, erziehen kann, und will Euch beweisen, wie Ihr dadurch nicht allein Euer Unglück, sondern auch das Unglück Eurer Kinder veranlaßt.

O Gott bewahre! fiel sie ihm heftig in die Rede, ich will mich hier nicht länger schlecht machen lassen; Ungerechtigkeiten und Schimpf und Schande – weiter krieg ich hier doch nichts zu hören. Wenn nur alle Leute ihre Kinder so gut erziehen, wie wir es thun, von uns sehen sie nichts Schlechtes, ich halte auf Reinlichkeit, jeden Morgen ist Waschen und Kämmen das erste, alle Lumpen flicke ich zu rechte, und kaum können sie kriechen, müssen sie auch arbeiten. Fritze hat das Fieber gehabt, aber mit mußte er; arbeiten macht nicht kränker. Was sie auf dem Leibe haben, müssen sie sich selber verdienen, und daß sies in Acht nehmen, davor sorge ich, – Gnade Gott, wenn einer sich ein Loch gerissen, – und überhaupt, an Prügel lassen wirs beide nicht fehlen, mein Mann so wie ich. Fürchterliche Prügel kriegen sie, und Schelten, ach, das hört den ganzen Tag nicht auf. Wenn man aber die ganze Woche gezankt und geprügelt hat, will man wenigstens des Sonntags sein Vergnügen an den Kindern haben, und deswegen braucht einem nicht gleich Himmel und Hölle heiß gemacht zu werden. – Mit diesen Worten wandte sie sich hastig um und verließ die Stube, ohne daß der Pastor, der es einige Mal versucht hatte sie zu unterbrechen, zu Worte hätte kommen können.

Am folgenden Sonntag wusch und kämmte die Freihausen ihre Kinder sorgfältiger als je, und zu den beiden ältesten sagte sie: Franz und Sofie, Ihr geht heute mit in die Kirche.

Der Vater sah sie verwundert bei diesen Worten an. Ich dächte, Du thätest sonst was, als in die Kirche gehn, sagte er.

Meinst Du, daß ichs zum Vergnügen thue? entgegnete sie höhnisch. Aber der Eisenfresser sollte wohl denken, ich fürchte mich vor ihm? und das wäre das letzte.

Dummes Zeug! brummte Freihausen, der Junge sollte helfen den Schweinekoben misten, konnte sich nachher noch genug in die Sonntagslappen stecken. Du hast aber immer so ganz besondere Anschläge, – warte nur, der Pastor wird Deinen Kopf gehörig waschen.

Das soll ihm frei stehen, sagte sie, es ist aber mein Sonntag, und da gehe ich.

Kannst meinen Sonntag nur auch nehmen, entgegnete der Vater leichtfertig, ich habe keine Lust mehr, mich jeden Sonntag abkanzeln zu lassen, für Dich ists noch eher angewandt.

Ha ha, Du alter Sünder, nahm die Mutter eben so leichtfertig das Wort, wenn wir das ausprobten, möchtest Du schlecht weg kommen. Aber bleib nur hier und miste Deinen Schweinekoben, ich habe nichts einzuwenden.

Dies Gespräch hörten die Kinder mit an. Franz, wenn er nicht die stets schlagfertige Hand seiner Mutter gefürchtet hätte, würde sich dem Kirchengehen widersetzt haben, weil er nach den Reden seiner Eltern den Grund davon nicht einsehen konnte, und dann mochte er den Pastor für den Tod nicht leiden. Erstens war er von ihm in der Kinderlehre zum Ernst und zum Fleiße ermahnt und wegen seines Leichtsinnes und seiner Faulheit bestraft worden, und dann hatte er ihm die Prügel für den Birnendiebstahl zu verdanken. Sofie ging schon lieber mit, sie hatte aus den verschiedenen Reden und Bemerkungen der Mutter längst begriffen, daß alle ordentlichen und reputirlichen Leute in die Kirche gehen. Wenn es der Vater, der vom Arbeiten und Erwerben nicht genug kriegen konnte, oft gern gesehen hätte, daß Frau und Kinder des Sonntags mit ihm auf das Feld gegangen wären, dann sagte die Mutter: Nein, wir habens nicht nöthig den Sonntag zu arbeiten, wir können uns in der Kirche zeigen, so gut wie jeder große Bauer. Auch wußte Sofie nicht anders, als daß man sich schöne Sachen anschafft, um sie in der Kirche anzuthun. Ihr Vater hatte sich von einem Einlieger zum Eigenhäusler emporgeschwungen, Sofie aber putzte sich zuweilen schöner als eine Kossathentochter und gestern noch hatte ihr die Mutter ein so modiges Tuch gekauft, das gewiß das erste im Dorfe war.

Franz, komm Du nur in die Kirche, wir haben nicht nöthig den Sonntag den Schweinekoben zu misten, ich setzte mich doch lieber in den Kirchstuhl und schlüge die Hände in den Schooß. – Franz nickte.

So gingen sie alle drei fort. Die Sonne schien so freundlich auf das stille Dorf. Der Hügel mit den dunkelen Linden, der weißen Kirche und dem blauen Schiefer-Thürmchen war ein liebliches Bild gegen den klaren blauen Himmel, und die Glocken hallten in vollen schönen Tönen über Häuser und Hütten hin. Die Thüren öffneten sich nach und nach und manch Andächtiger wallete der Kirche zu. Hier ein Greis mit Silberhaar, der mit der Erde abgeschlossen und sein Herz und Sinn dem Himmel, seiner nahen Heimath, zugewandt. Mit inniger Freude schaut er nach dem Gotteshause, in dem er die schönsten Stunden seines Lebens verlebt: hier hat er sich Kraft und Licht geholt für die dunkle mühevolle Pilgerreise, und jetzt liegt, von den milden Strahlen der heilig und schön verlebten Sonntage verklärt, sein ganzes Leben licht und ruhevoll hinter ihm. Dort wallet eine Hausfrau, sie hat alle Sorgen und Werkeltags-Gedanken daheim gelassen, ihr Herz dem Herrn geöffnet, er allein soll es einnehmen, und wenn hin und wieder zerstreuende Gedanken sich wollen hinein drängen, da richtet sie ihren Blick nur noch fester nach oben und betet: O Herr, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach, sei Du meine Stärke, verlaß mich nicht, segne und behüte mich. Und ihr Gebet wird erhöret, die Glocken läuten immer voller und voller vor ihren Ohren, daß sie nichts anderes vernehmen kann, und die Worte des Herrn stehen so mächtig und ergreifend vor ihren Augen, daß sie nichts anderes empfinden kann. Da gehet eine Jungfrau, die Blumen auf ihrem Gesangbuche schimmern so licht und klar als ihr eigen Antlitz, und so licht ihr Antlitz und so klar ihrer Augen Licht, so sind auch ihres Herzens Gedanken. Es ist bewegt von frommen Gefühlen, ihre Sehnsucht zieht sie nach dem Quell des höhern Lebens, des Lebens, das mit Frieden und Freude die Seele füllt. O ja, wo die Sehnsucht von Jugend auf nach dem Himmel gerichtet wird, da verkümmert sie nicht in den wüsten und wilden Stellen des Lebens, sondern erblüht zur wunderbaren Blume, vom himmlischen Gärtner selbst gepflegt, den Kindern Gottes im Himmel und auf Erden zur Freude und Lust. Der Jüngling dort, er wagt es kaum ihren Schritten zu folgen, und doch bleibt er ihr nahe, der milde Schein ihres Angesichtes hat auch ihn verklärt, sein Herz muß ja rein sein, wenn das Reine darin wohnen will. Wo die Liebe sich in frommen Empfindungen einigt, da ist der Herr ihr nahe und giebt seinen Segen. – Und hier das Kind, es hüpfet fröhlich durch den Garten, jetzt tritt es zur Pforte hinaus und nimmt das Gesangbuch, was die fromme Mutter ihm gab, sorgfältiger in die Hand und folgt mit langsamen Schritten den andern Kirchgängern. Jetzt wendet es sein frisches Gesicht zerstreut nach dem nahen Dache, zwei weiße Tauben machen darauf gar wunderliche Spaziergänge, und hier im Teich schaut es sehnsüchtig, wie die Enten immer in das kühle klare Wasser tauchen. Doch da klingen die Glocken vor seinen Ohren: bum, baum, bum, baum, es rafft sich zusammen, greift das Gesangbuch mit seinen Händchen wieder fester und schaut nach dem hellen Kirchthurm, der so nahe dem Himmel steht, seine Mutter hat es ja gelehrt, was das Glockengeläute zu bedeuten hat. Das sind Stimmen des Herrn, die da rufen: Kommet doch her zu mir, hier in meinem Hause können wir ungestört beisammen sein, hier sollt ihr merken, wie sehr ich euch liebe, ich will euch beglücken, will euch reich machen, nicht mit irdischen Gütern, die da leicht vergänglich sind, sondern an himmlischen, die da ewig selig machen. Gebt mir nur euer Herz, thut es weit auf, nehmet hin meine Gaben, und lasset euch lieben. – Das Kind weiß und versteht, wie Kinder es verstehen, was es sich dort aus dem hellen Gotteshause holen soll, und was es hinein bringen soll: Liebe für den Heiland, der Kinder so sehr lieb hat, und indem es sein Herz aufthut zum Lieben, fühlt es die Seligkeit des Liebens und den Segen, den es bringt. O lehret die Kinder lieben, lieben den Herrn, lieben die Eltern, die Geschwister, alle Menschen, darin begriffen ist für sie alles Wissen. Im Lieben werden sie gut und fromm sein, die Liebe wird sie zwingen, den rechten Weg zu gehn. Und wenn solche Liebe ein Kind zur Kirche führt, wird der Herr es nicht ohne Segen von sich lassen. O ihr großen und klugen Leute, ihr verstehet es nicht, wie es in einem frommen Kinderherzen aussieht, und versteht nicht den Reichthum seiner Einfalt.

Die Glocken hatten ausgeläutet, die Kirche füllte sich, aber leider nicht nur mit Andächtigen, es kam Alt und Jung auch mit gleichgiltigem Herzen, sie trugen ihren Leib in das Gotteshaus, aber die Seelen, die der Herr gerade einladet, die ließen sie daheim und hatten für sie gar manche Entschuldigung. Ich habe einen Acker gekauft, sprach der erste; ich habe fünf Joch Ochsen gekauft, – ich habe ein Weib genommen, die andern; das alles macht uns so viel Sorgen und Gedanken und läßt uns nicht Zeit, bei dem Herrn einzukehren. O ihr Thoren, für ein irdisches Nichts, gebt ihr eure ewige Seligkeit dahin. Aber noch andere Kirchgänger giebt es, sie wollen es sich nicht gestehen, daß sie keine Zeit für den Herrn haben, sie thun, als ob sie ihre Seele ihm zuführen, sie schmücken sich mit vorübergehenden Rührungen und schönen Gefühlen. Doch der Herr sieht auf den Grund der Herzen, dies Flickwerk kann den innern Schmutz nicht verbergen, und er wird sagen: »Wie bist du herein gekommen zu mir und hast doch kein hochzeitlich Kleid an?« und wird weiter sagen: »Bindet ihm Hände und Füße und werfet ihn in die äußerste Finsterniß hinaus, da wird sein Heulen und Zähnklappen.« – Wehe euch, ihr leichtsinnigen Kirchgänger, Gott läßt sich nicht spotten, er giebt dem Sünder Zeit der Gnade, aber nach der Gnade folgt das Gericht.

Die Freihausen ging mit stolzen Schritten über die heilige Schwelle. In ihrem Herzen sah es wüst und leer aus, und was noch schlimmer ist, das Unkraut ihres Herzens hatte die Herzen ihrer Kinder mit überwuchert. Sie setzten sich alle drei auf ihren Platz, sie senkten das Haupt, wie die andern thaten, um das Vater unser zu beten. Die Freihausen aber betete nicht, anstatt dessen dachte sie: Ich will mich recht tief bücken und auch länger als die andern; sie wissen, daß ich einen Zank mit dem Pastor gehabt habe, da sollen sie sich wundern, das schändliche Volk, daß ich so andächtig bin. Es soll sehen, daß ich nicht so schlimm bin und der Pastor, das Großmaul, Unrecht hat. – Ihre beiden Kinder bückten sich eben so tief, und blinzelten die Mutter von der Seite an, sie sahen ihre zerstreuten und verschmitzten Züge, und unwillkürlich entfaltete Sofie ihre Hände und zupfte die Frangen ihres Halstuches auf, und Franz kritzelte mit den Nägeln seiner Finger in die Bretterwand vor sich. – Die Orgel begann, die Freihausen fühlte dabei nichts, mechanisch schlug sie das Gesangbuch auf, und sang mit heller Stimme die schönen Worte, die in ihrem Munde zu Heuchelworten wurden:

Eins ist noth: ach Herr, dies Eine
Lehre mich erkennen doch!
Alles andre, wies auch scheine,
Ist ja nur ein schweres Joch,
Darunter das Herze sich naget und plaget
Und dennoch kein wahres Vergnügen erjaget.
Erlang ich dies Eine, das alles ersetzt,
So werd ich in Einem mit allem ergötzt.

Der letzte Vers heißt:

Drum auch, Jesu, Du alleine
Sollst mein Ein und alles sein;
Prüf, erfahre, wie ichs meine,
Tilge allen Heuchelschein;
Sieh, ob ich auf bösem, betrüglichem Stege,
Und leite mich, Höchster! auf ewigem Wege;
Gieb, daß ich hier alles nur achte für Koth
Und Jesum gewinne. Dies Eine ist noth.

Als dieser Vers gesungen wurde, war Müller auf die Kanzel gestiegen, die Freihausen sang auch, doch nur mit dem Munde, und ihre Gedanken waren so: Da ist er mit seinem Heiligen-Gesicht! ich kann ihn doch nicht ausstehen, und läßt er sichs einfallen, Anspielungen zu machen, die sollen ihm versalzen werden. Sie wußte nämlich, daß der Pastor oft bei seinen Predigten Begebenheiten im Dorfe benutzte, um auf seine Gemeinde zu wirken, und sie fürchtete, er möchte den Zank, den sie mit ihm hatte, und der durch ihre böse Zunge erst noch vergrößert und verschlimmert, dorfkundig geworden war, auch heute benutzen. Sie hatte sich nicht geirrt. Müller predigte über den Unsegen der Gerechtigkeit, die aus den Werken, und über den Segen der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kömmt. Das wandte er insbesondere und praktisch auf das Familienleben an, und zeichnete es so deutlich und so einfach, daß man die Leute vor sich zu haben glaubte. Den ersten Theil, wo vom Unsegen die Rede war, hörte die Freihausen in Wuth und Aerger, weil sie sich fortwährend getroffen fühlte, besonders aufmerksam an.

Wenn ein Hausvater und eine Hausmutter noch so fleißig arbeiten, hieß es da unter anderem, wenn sie nicht beten dabei, wird die Arbeit für sie ohne Segen sein, und obgleich sie reich werden wollen, werden sie doch arm bleiben. Denn nur wer im Glauben arbeitet und in der Gottseligkeit, dem kann es gedeihen, und er wird die Früchte seiner Arbeit sehen. Der Ungläubige sucht nur sich und seinen Kindern fleischliche Genüsse zu erarbeiten, darin reich zu werden, sich und seine Kinder darin zu befriedigen. Das ist aber ein vergeblich Streben, denn unsere fleischliche Natur läßt sich nie befriedigen, je mehr sie genährt wird, je größer wird sie und je mehr verlangt sie. Wenn der Gottselige genügsam, dankbar und froh sein Stück eitel Brot genießt, so ißt der Glaubenslose sein Butterbrod gleichgiltig, oder denkt noch dabei mit Neid an den reicheren Nachbar, der Wurst und Speck dazu zu essen hat. Ja mit der fleischlichen Natur wachsen auch alle Sünden, die das Leben schwer und bitter machen, Neid, Hochmuth, Ungenügsamkeit, und wie sie noch mehr heißen. Da ist ein Mann, der ist arbeitsam und ordentlich, er thut in allen Dingen seine Pflicht, wie er mit Selbstgefühl sagt, und niemand kann ihm etwas vorwerfen, das ihn vor die weltlichen Gerichte zieht. Beim Arbeiten vergißt er das Beten und hat nur sein irdisches Fortkommen im Auge. Jetzt wohnt er zur Miethe, welch ein Glück aber, ein eignes Häuschen zu haben, denkt er. So geht er ruhe- und segenslos seine Zeit dahin, bis er das Häuschen erlangt hat; aber das bringt ihm auch nicht Befriedigung, er will ein Stück Feld, dann eine Kuh, – seine Begierde, sein Hochmuth werden immer größer, er schaut immer über sich, nach denen die mehr haben als er. Neid und Aerger lassen ihm keine Ruhe, und so mag er noch so viel zusammen sparen und arbeiten, er fühlt sich immer arm. Wenn der Gläubige in Frieden und Freude das Wenige, was er besitzt, genießt, so hat der Ungläubige nie Freude am Besitz, wenn er ihn auch in Ehrbarkeit und im Schweiße seines Angesichts erworben hat. Er kann es nicht verbergen daß aller irdische Besitz eine ungewisse Habe ist, er sieht, wie es in der Welt hergeht, Hagel kann die Felder zerstören, Sturm und Wetter Häuser beschädigen, Seuchen das Vieh wegraffen, Diebe den Sparpfennig rauben, und da er nun in allen bösen Dingen der Welt sein Glück findet, aber auch in dieser Welt der Vernichtung lebt, da hat er keine Ruhe, Furcht und Sorgen verbittern ihm jeden Genuß, trotz aller Mühe und Arbeit, trotz alles äußeren Wandels.

So wie dem Ungläubigen nun der Segen beim Haushalten fehlt, so fehlt ihm auch der Segen bei der Erziehung der Kinder, und er wird den Mangel dieses Segens noch bitterer empfinden als den ersten. Seht da den Vater und die Mutter: sie halten ihre Kinder zur Reinlichkeit und Arbeit an, sie erziehen dieselben unter der Strenge des Gesetzes, und die Kinder wandeln äußerlich fein vor den Leuten. Aber ist es ihnen zu verdenken, daß sie lüstern nach irdischen Gütern und Genüssen sind, da sie himmlische nie schätzen lernten und nur die irdischen als der Eltern Ziel und Streben kennen? Ist es zu verwundern, daß, wenn die Versuchung naht, sie unterliegen? Jetzt hält sie noch die Furcht des Gesetzes, die Gewohnheit vor den Leuten ehrbar zu wandeln, aber das ist keine Macht, die sündliche Natur zu überwältigen. Ihren Zuchtmeistern entwachsen, und nicht von der Furcht Gottes und der Liebe zu ihm und zu den Eltern gehalten, werden sie ihre Freiheit benutzen und der Welt sich ganz und gar hingeben, in der sie von den Eltern erzogen sind. Wenn der Eltern größter Genuß im Erwerben und Sparen lag, so ists dann meistens den Kindern die größte Freude zu genießen. Kommen die Eltern mit Klagen und Vorwürfen, so haben die Kinder kein Ohr dafür, sie lernten ja nie die heilige Kindes- und Elternliebe kennen, die zwischen beiden ein Band der Zärtlichkeit bis in die Ewigkeit flicht; sie lernten nur die tyrannische Liebe kennen, die da streichelt und straft, beides am unrechten Orte und ohne Grund. Für die Klagen der Eltern haben die Kinder keine Theilnahme, und auf die Vorwürfe antworten sie mit ähnlichen Worten. Sie sind jung, sie wollen das Leben genießen, – und können die Eltern etwas dagegen einwenden? Wer erst mit der Welt einmal geliebäugelt, wird bald in ihrem Strome untergehen. Arme Eltern! seht nur wie eure Kinder dahin gehen ohne Zucht und Ehrbarkeit, wollt ihr euren Arm erheben, sie zu strafen, wie ihr früher gethan? Nein, euer Arm ist alt und schwach, der Arm eurer Kinder aber ist stark, er wird nicht zögern sich zu wehren; die äußere Macht ist ihnen gegeben, eine innere, die sie abhalten könnte, kennen sie nicht. So weinet denn jetzt über euer Leben, ihr habt Mühe und Arbeit gehabt und habt keine Früchte gesehen, ihr habt nach Ehrbarkeit gestrebt und habt Schimpf und Schande geerntet, arm und elend werdet ihr von hinnen fahren und desgleichen eure Kinder.

Bis hierher hatte die Freihausen zugehört; dem zweiten Theile, wo von dem Leben eines Gläubigen die Rede war, schenkte sie keine Aufmerksamkeit. Sie mußte immer an sich, an ihren Mann und an ihre Kinder denken, und wie der Pastor so viel Wahres gesagt, daß auf ihren Hausstand paßte. Sie war eine kluge Frau und je mehr sie die Wahrheit der Predigt anerkennen mußte, je ärgerlicher und widerspenstiger ward sie in ihrem Herzen. Aber, dachte sie, wenn deine Kinder es sich sollten je unterstehen und sich gegen dich was herausnehmen, du wolltest sie doch wohl bändigen. Der Franz freilich, er wäre im Stande und höbe seinen Arm auf gegen mich, er ist jetzt schon ein trotziger Junge und kann seinen Ingrimm kaum unter meinen Schlägen meistern. Und die Sofie läuft jetzt schon den Vergnügungen nach und benascht und bemauset mich, wo sie kann. Aber wartet nur, elend und arm sollt ihr uns doch nicht machen, unser sauer erworben Gut sollt ihr nicht vergeuden, ihr mögt fortgehen in die Welt, und für euch selber sorgen, ich und euer Vater wollen in Ruhe die Früchte unseres Fleißes genießen, der ganzen Welt und dem falschen Profeten auf der Kanzel dort zum Trotze.

Sie verließ hochmüthiger und widerspenstiger die Kirche, als sie gekommen war, und zu Hause schüttete sie alle den hinuntergeschluckten Aerger ihrem Manne aus. Das sei das letzte mal, so sprach sie, daß ihr Fuß die Kirche betreten habe, so lange Müller hier Pastor sei, und Gelegenheit, sich an ihm zu rächen, solle sich schon finden. Schabernack und Aerger wolle sie ihm anthun, wo es nur anginge. Denn heut hatte er sie vor der ganzen Gemeinde schlecht gemacht, behauptete sie, zu deutlich hatte er immer fort auf ihre Familienverhältnisse hingewiesen.

Freihausen war ganz einverstanden mit seiner Frau. Er hielt das Kirchengehen längst für eine überflüssige Zeitverschwendung, und hatte auch nichts dagegen, daß Franz nicht mehr zu ihrem Pastor in die Kinderlehre, sondern zu dem nach Mörsdorf gehen solle. Aus Mörsdorf war die Mutter und der steinalte Pastor dort hatte sie schon confirmirt, der machte nicht viel Umstände, weder mit der Predigt noch mit der Kinderlehre, mit dem ließ es sich doch leben.


So war etwas mehr als zwei Jahre vergangen, bei Freihausens hatte sich nichts weiter verändert, als daß Franz und Sofie vom Pastor in Mörsdorf confirmirt waren und jetzt täglich mit den Eltern auf die Arbeit gingen. Franz war sechszehn Jahr und ein großer stämmiger Junge, sein Leichtsinn und seine Untugenden waren mit ihm gewachsen; aber noch stand er unter der strengen Zucht des Vaters, der den Widerspruchsgeist des Jungen mit starker Hand zu unterdrücken wußte. Eben so wurde Sofiens Lüsternheit nach allen weltlichen Vergnügungen nur durch die Furcht vor der Mutter im Zaume gehalten. Das heißt, auch nur da, wo es auf Zeitversäumniß oder Geldausgaben ankam. Womit sich die Kinder in den Feierstunden beschäftigten, in welcher Gesellschaft sie sich dann umhertrieben, war beiden Eltern gleichgiltig.

Eines Abends saßen Franz und Sofie auf dem Windmühlenberge hinter dem Dorfe zusammen mit August Krause, einem achtzehnjährigen frischen Burschen, und mit seiner zwei Jahr jüngeren Schwester Wilhelmine. Zu Krausens hatten sie sich immer am meisten gehalten, weil sie ihre nächsten Nachbarn waren, und dann hatten diese Kinder keinen Vater mehr, nur eine schwache gutmüthige Mutter, die ihnen keine Hindernisse bei ihren Unterhaltungen in den Weg legte.

Nächsten Sonntag ist Vogelschießen in Haldeck, sagte August, da mußt Du mit, Franz! Aber nicht mit leeren Taschen, – ich hab es satt Dich bei unsern Streifereien immer durchzufüttern. Für Sofien will ich allenfalls bezahlen, aber Du schaffst Geld an.

Schaffe mal! antwortete Franz ärgerlich. Von meinem Vater kriege ich eben so wenig was, wie von meiner Mutter. Aber bald soll es anders werden, fuhr er heftiger fort, und was ich jetzt von Dir geborgt habe, kriegst Du mit Zinsen wieder.

Zinsen hin, Zinsen her – Du kriegst nichts mehr! fiel ihm August in die Rede, befolge meinen Rath, nimm eine andere Sprache an, eher hört das Knechten doch nicht auf. Was hast Du denn dabei zu riskiren? Du bist groß und stark, Dich nimmt jeder in Arbeit, 1 Thlr. 6 Sgr. verdienst Du jetzt schon die Woche, für 20 Sgr. nimmt Dich jeder in Kost, denn hast Du noch 16 Sgr. zu Deinem Vergnügen, davon kannst Du Dich kleiden wie ein Junker, und ein Schnäpschen und ein Päckchen Taback fällt reichlich ab. Du führst ein wahres Hundeleben, kein Mensch wird es Dir verargen, wenn Du Dich auf Deine eigene Hand setzest. Du mußt nur Deinem Vater sagen –

Ach was, fiel ihm Franz ins Wort, ich weiß recht gut, was ich meinem Vater zu sagen habe. Meinst Du, daß ich nicht selber oft genug daran gedacht habe? Aber heute solls wahr werden. – So brach er das Gespräch ab und ging mit seiner Schwester fort.

Als er nach Hause kam, fand er seine Eltern in der Dämmerung in der Stube sitzen.

Wißt Ihr, daß den Sonntag Freischießen in Haldeck ist? sagte er im entschlossenen Ton.

Mag wohl, entgegnete gleichgiltig der Vater.

Ich möchte mit Sofien hin, fuhr Franz fort.

Davon soll Dich keiner abhalten, erwiderte die Mutter.

Aber immer so mit leeren Taschen kommen, – nahm Franz nach einer kurzen Pause das Wort, – ist kein Vergnügen, Ihr könntet mir nur ein paar Groschen hinein stecken.

Seht doch an, wenn die dummen Jungen schon anfangen wollen, den großen Herrn zu spielen! Das wäre noch besser! lachte die Mutter.

Wenn die dummen Jungen aber auf Arbeit gehen und täglich ihr Geld verdienen, dann können sie auch zur Abwechslung einmal Geld ausgeben, – brummte Franz.

Du Tausendsapperloter! fuhr der Vater auf.

Was der Junge für ein großes Maul haben kann, fügte die Mutter hinzu.

Freilich größer wie vor zehn Jahren, erwiderte Franz trotzig, aber dafür verdiene ich auch täglich 6 Sgr.

Du infamer Bengel, warte, ich will Dich so reden lehren! sagte jetzt Freihausen, griff nach dem Stock hinter seinem Stuhl und wollte auf Franzen los.

Franz aber sprang zur nahen Thür und rief mit heftiger Stimme: Wenn Du mich noch einmal schlägst, Vater, denn habt Ihr mich hier bei Euch zum letzten mal gesehen. Ich bin groß und stark genug, ich kann arbeiten und will mein Fortkommen schon in der Welt finden. Ich will mich nicht mehr wie einen ABC-Jungen behandeln lassen für das schwere Geld, das ich verdiene. Ich will nicht mehr in Dein leeres Schnapsglas riechen und die Wurstschale ablecken und mit leeren Taschen durstig an der Schenke vorüber gehen. Prügele mich nur, braun und blau, wie Du willst, es ist das letzte mal und je mehr Du prügelst, je weiter geh ich, denn das sage ich hiermit, so ein Hundeleben will ich nicht mehr führen.

Die Eltern hatten erstaunt zugehört, und die jüngern Geschwister zogen sich erschrocken in die hinterste Ecke der Stube zurück. Der Vater aber, der in seinem Sohn seinen eignen Willen erkannte, merkte wohl, daß Franzens Drohungen etwas auf sich hatten, und wollte sich nicht zum eignen Schaden sein. Er machte also gute Miene zum bösen Spiel.

I Du bummer Bengel, sagte er im halb spaßhaften Ton, wenn Du vernünftig bist, kriegst Du auch keine Prügel, und wenn Du mit Gute kömmst, laß ich auch wohl manchmal ein paar Groschen in Deine Tasche fallen.

Ja wenn er mit Gute kommt und mit Freundlichkeit, – fügte die Mutter, die ihres Mannes Gedanken merkte, etwas gerührt thuend hinzu.

Mit Freundlichkeiten seid Ihr auch nicht freigebig gewesen, brummte Franz. Ich verlange nur was recht ist, ich verdiene einen Thaler sechs Groschen die Woche und will was für meine Mühe haben.

Was Du da sagst! fuhr die Mutter gereizt auf: jetzt verdienst Du was; wer hat Dich denn aber gefüttert, da Du klein warest und bis Du vierzehn Jahre alt geworden?

Das ist von den Eltern Pflicht und Schuldigkeit, entgegnete Franz trocken, Eure Eltern haben Euch so lange umsonst gefüttert, und ich werde es mit meinen Kindern ebenso machen.

Gottloses Maul! fuhr die Mutter fort, spricht man so gegen Eltern? Wenn wir jetzt keinen Sparpfennig zurücklegen, was soll denn aus uns werden wenn wir alt sind? Dann wirst Du wahrhaft nichts für uns übrig haben.

Wenn man alt ist, denn braucht man auch nicht viel, sagte Franz ruhig; aber wenn man jung ist, ist man hungrig und durstig und will nach dem Freischießen gehen.

Die Mutter biß sich auf die Lippen, aber da sie sah, daß sie in diesem Streite den Kürzeren zog, brach sie ihn mit den Worten ab: Nach dem Freischießen kann man gehen, aber doch auch vernünftig sein und einen Sparpfennig zurücklegen.

Ich will dem Jungen vier Groschen geben, und damit Punktum, sagte der Vater.

Und Sofie? was kriegt die? fragte Franz trotzig.

Sofie? stutzte der Vater.

Die kriegt zweie, setzte die Mutter begütigend hinzu.

Nun so gebts nur her, ich will das Geld schon verwahren, sagte Franz, der nicht gern diese gute Gelegenheit vorübergehen lassen wollte.

Die Eltern rückten das Geld heraus und die Kinder gingen auf ihre Kammer.

Da sollte einen ja der Schlag auf der Stelle rühren, sagte die Freihausen, als sie mit ihrem Manne allein war, bebend vor Zorn. Das Rindviehzeug! Ist denn das nun der Dank, den man von aller seiner Mühe und Arbeit hat? Aber ich habs immer gesagt: an Franzen werden wir nicht viel Gutes erleben, ebenso wie an Sofien.

Ich habe es auch immer gesagt, Du hast die Bälge störrisch geprügelt, entgegnete ihr Mann ärgerlich.

Hast Du denn etwa weniger als ich geprügelt? fragte sie höhnisch.

Eben drum! Von einer Seite wärs genug gewesen; jetzt siehst Dus, allzuscharf macht schartig, der Bengel läßt nicht mit sich spaßen. Aber wenn die Vögel flügge sind, lassen wir sie fliegen, nur so lange wie möglich noch sollen sie in unser Nest tragen.

In dem Sinne sprachen sie noch lange, und ärgerten und zankten sich bis spät in die Nacht. Aber auch da konnte die Frau noch nicht schlafen, sie mußte immer an ihre ungerathenen Kinder denken und zugleich an des Pastor Müllers letzte Predigt, darin er ihr Schicksal so richtig profezeihet hatte. Daß er aber nicht ganz richtig profezeihen sollte, dafür wollte sie schon sorgen, – waren ihre Trostgedanken, – arm und elend wollte sie wenigstens nicht werden, lieber wollte sie die Kinder zum Hause hinaus werfen. Und wie gern hätte sie es heute schon gethan. Es war ihrem Herzen schwer angekommen, so ruhig Franzens Grobheiten einzustecken und sechs Groschen dazuzugeben; aber wenn der Junge fortging, hatte sie zu viel Schaden, denn fürs Essen und Trinken konnte sie nicht viel rechnen, weil sie beinahe alles selber erntete. Sie rechnete jetzt genau nach, wie viel Groschen Profit sie von Franz und Sofien wöchentlich hatte, zu ihrer Befriedigung war es eine ganz ansehnliche Summe; und doch immer fühlte sie den Stachel wieder im Herzen, wenn sie bedachte, mit wie viel Aerger sie sich den Gewinn erkaufen mußte, und wie sie nun jedes Stück Brot würde mit Kummer und Groll hinunterschlucken. O sie ahnete, daß Franz, da er heut einmal Recht gekriegt, würde kein Blatt mehr vor den Mund nehmen.

Und so kam es. Der Sommer und nächste Winter waren unter fortwährendem Zank und Lärmen in der Freihausenschen Familie vergangen. Franz war nun siebenzehn Jahr alt, er war eben so groß als sein Vater und ein leichter Flaum zeigte sich an seinem Kinne. Er verdiente aber auch eben so viel Geld als sein Vater, und machte so viel Ansprüche wie dieser. Bei Tisch griff er nach den besten Stücken, ungefragt schenkte er sich ein Glas Schnaps ein, Sachen mußten ihm seine Eltern anschaffen, so viel er für nöthig fand, und daß er hin und wieder Geld vom Wochenlohne zurück behielt, verstand sich von selbst. Seine Eltern konnten kaum sein grobes rücksichtsloses Benehmen noch ertragen, aber er hatte durch das viele Zanken und Streiten solche Gewandtheit darin erhalten, daß sie völlig unter seinem Regimente standen. Je größer seine Ansprüche wurden, je mehr nahm ihre Nachgiebigkeit zu. Hatten früher zwei Groschen des Sonntags hinreichen müssen, so thaten es jetzt viere nicht. Und wozu wurden sie verwandt? Zu Bier und Schnaps und zu kleinen Aufmerksamkeiten für Mine Krausen, die ihn mit ihrem leichtfertigen Wesen zu beschäftigen wußte. Ihr Bruder August, der, obgleich er schlechte und leichtfertige Grundsätze hatte, doch ruhiger und besonnener von Natur war als Franz, suchte ihn oft von Thorheiten zurückzuhalten, in denen ihn Mine, um ihn zu gewinnen, wieder zu bestärken suchte. Seit einiger Zeit hatte sie bemerkt, daß sein Geld kaum zum Schnaps hinreichte, und er für sie keinen Groschen erübrigen konnte. Da fing sie das alte Kapitel wieder an, sie zog ihn auf mit dem Regiment, daß seine Eltern über ihn führten, und suchte ihm begreiflich zu machen, daß er nicht eher sein Leben genießen werde, bis er das Haus seiner Eltern verlassen. Ihre Mutter sollte ihn für Weniges in Kost nehmen, daß ihm genug zu seinem Vergnügen übrig bliebe. August war mit seiner Schwester sehr unzufrieden und hielt ihr öfter vor, wie sie sich könne an einen solchen Jungen hängen, denn Mine war mit Franz im gleichen Alter; aber zu viel wagte er nicht gegen sie zu sprechen, denn da er es mit Sofien hielt, fürchtete er, seine Schwester und Franz möchten ihm in seiner Liebesgeschichte auch hinderlich sein, und so mußte er es eines Sonntags Abends ruhig zugeben, daß Franz mit der Absicht nach Hause ging, plötzlich mit seinen Eltern zu brechen und noch denselben Abend nach Krausens zu übersiedeln.

Nichts ist leichter wie das, sagte Franz, ich stehe mit meinen Alten nur so und so, ich will sie heut Abend noch grün und gelb ärgern; sie haben mich mein Lebtag genug gezwiebelt. Der Alte wird jeden Tag knausriger, und die Mutter kuckt einem immer nach dem Maule, und ihr eignes wird dabei vor Groll immer breiter.

Mine belachte laut seine Witze und sah ihn triumfierend aus der Stube gehn.

Freihausens, die nie gewohnt waren, Franz und Sofien des Sonntags Abends vor zehn oder elf Uhr zurück kommen zu sehn, fanden sich sehr überrascht, als Franz so früh eintrat. Sie hatten sich heut zum Sonntag heimlich ein Gütchen thun wollen, und eben war ein Stück frisch gebratener Speck auf den Tisch gesetzt.

Ei da komm ich ja zur rechten Zeit, sagte Franz lachend und setzte sich an des Vaters Platz.

Wessen Platz ist das? fragte die Mutter mit verbissenem Grimme.

Wie Du siehst, entgegnete Franz ruhig.

Zum Henker! Bengel, willst Du da weg! schrie der Vater.

Erst recht nicht! trotzte Franz. Das ließet Ihr Euch wohl gefallen, heimlich die fetten Bissen schlucken, und wenn wir da sind, giebts magere Kost. Dabei steckte er ein Stück Speck nach dem andern in den Mund.

Vater, wenn Du das so hingehen läßt, muß kein Gott im Himmel sein! rief jetzt die Mutter in höchster Wuth.

Bautz, – da brannte von des Vaters Hand eine kräftige Ohrfeige auf Franzens Backe, und die Mutter rüstete sich ihrem Manne bei dem Strafamt beizustehen.

Aber Franz sprang auf, glühend vor Zorn griff er seinen Stuhl und sich ihn vorhaltend rief er: Nehmt Euch in Acht! Der Schemel fliegt Euch an den Kopf, wenn Ihr mich angreift!

Du infame Bestie! nun mach aber, daß Du fort kömmst! knirschte der Vater.

Das wollt ich eben, entgegnete Franz, indem er sich mit seinem Schemel nach der Thüre zurückzog: – und zum letzten mal habt Ihr mich hier gesehen.

Das gebe Gott! seufzte die Mutter.

Franz schloß hinter sich die Stubenthür ab, um noch ungestört sein Hab und Gut aus der Kammer holen zu können. Seine Eltern, die diese Absicht merkten, wären ihm gar zu gern gefolgt, aber es war dies unmöglich so schnell zu bewerkstelligen, denn die Fensterflügel in der Wohnstube waren so klein, daß ein erwachsener Mensch nicht hindurch konnte, und ehe sie alle Sachen aus dem einzigen großen Kammerfenster geräumt und beide hinaus gestiegen waren, lief Franz schon, sein Päckchen unter dem Arm, vorn zur Hausthür hinaus.

In demselben Augenblick trat Sofie, der es doch bei der Sache bange geworden war, in das Haus, und ihr Herz war nicht so hart, daß sie den Kummer ihrer Eltern jetzt nicht hätte verstehen sollen. Ueberhaupt war sie nicht auf Franzens Seite. Von seiner rohen Heftigkeit mußte sie oft leiden, und wenn August Krause ihr nicht schützend zur Seite gestanden, wäre das noch mehr der Fall gewesen. Wie dieser, suchte sie nur aus Klugheit mit Franzen so viel als möglich Frieden zu halten.

Das ist doch ein abscheulicher Junge, sagte sie tröstend zu den Eltern, die bleich und zitternd vor ihr standen. Aber laßt ihn nur laufen, ehe er nicht aus dem Haus ist, haben wir doch keinen Frieden.

Eher wollte ich die Pest im Haus haben, als den Taugenichts, sagte die Mutter, und der Vater setzte noch einen kräftigeren Fluch dahinter.


So verging der Rest des Sommers und der folgende Winter ruhiger bei Freihausens, weil nun Franz aus dem Hause war; aber an Aerger ließ er es ihnen doch nicht fehlen. Fast täglich hörten sie von seinen Streichen, wie er diesem und jenem einen Schabernak gespielt, sich gezankt und geschlagen, ja nicht selten war er betrunken nach Hause gekommen. Auch mit August hatte er manch tüchtigen Strauß, aber Minens Klugheit suchte die feindlichen immer wieder zu versöhnen. Und sehr schwer wurde es ihr nicht, weil August wußte, daß er im Frühjahr Soldat werden mußte, und so lange wollte er es denn nicht zum Aeußersten kommen lassen. Franz dachte eben so, freute sich aber nicht wenig auf Augusts Abziehn.

Als der nun fort war, ging das lustige Leben bei Krausens erst recht an. Franz war Herr im Hause, und Mine und ihre Mutter mußten nach seiner Pfeife tanzen. Die Alte machte ihrer Tochter zwar oft Vorwürfe und rieth ihr, sich nicht an den Jungen zu hängen, der so schlecht und leichtsinnig sei und gewiß noch ihr aller Unglück machen würde; aber Mine hatte für solche Worte keine Ohren. Ihr Herz war verblendet und beschönigte Franzens Schlechtigkeiten. Und wenn ihre Mutter vor zwei Jahren Franzen einen Jungen nannte und sich nicht mit ihm einlassen wollte, so hatte die Mutter nicht Unrecht; jetzt aber war Franz achtzehn Jahr, übers Jahr wollt er sich, weil er gar so groß und stark war, zum Soldaten stellen, und wenn er zurück war, konnte sie ihn heirathen. Durch solche Vorspiegelungen gewann sie ihre Mutter, und zugleich dachte diese, daß in Augusts Abwesenheit Franzens Verdienst sie müßte über Wasser halten, und so ließ sie sich sein grobes wüstes Wesen in gutmüthiger Schwachheit still gefallen.

Bei Freihausens sollte aber die wenige Ruhe, die sie in der letzten Zeit genossen hatten, auch nicht lange wären. Sofie grämte sich nach Augusten, und da dieser nichts sehnlicher wünschte, als sie bei sich in der Stadt zu haben, so überredete er sie, sich dort zu vermiethen. Und was auch die Eltern redeten, in Gutem und in Bösem, Sofie zog im Mai Augusten nach in die Stadt. Das war aber nicht das Härteste, was sie traf. Außer Franz und Sofien waren noch zwei kleinere Kinder da, ein Junge und ein Mädchen, die, weil einige Kinder vor ihnen dazwischen gestorben, bedeutend jünger als ihre älteren Geschwister waren. Anna zählte zehn Jahr und Christoph zwölfe. Beide waren aber nicht nur im Alter sehr verschieden, sondern auch in ihrer ganzen Sinnesart. Sie waren gut und sanft, und wenn sich Freihausen in seiner harten Natur nach gerade ganz von den ältesten Kindern abgewandt, so hing er fast zärtlich an den Kleinen, und seine Frau sah in ihnen ihren ganzen Stolz und ihre Freude. An diesen Kindern wollte sie Glück und Ehre erleben, auf diese Kinder wollte sie ihre Liebe und ihre irdischen Güter häufen. Aber der liebe Gott hatte es anders beschlossen, er hatte Mitleiden mit den Kindern, er wollte sie retten vom Verderben, und nahm sie aus dem Hause der Sünde zu sich in sein himmlisches Vaterhaus. Im Juni starben sie beide an einem bösartigen Scharlachfieber.

Jetzt war die Verzweiflung der Eltern aufs höchste gestiegen. Freihausen war in sich gekehrt und sprach nicht über seinen Schmerz, dagegen stieß seine Frau die gotteslästerlichsten Reden aus. Der Pastor Müller, der es immer mal von Zeit zu Zeit versucht hatte ihnen zu nahen, versuchte es auch jetzt. Er stellte ihnen vor, wie der Herr sie durch den Tod der Kinder an sich erinnern wollte, sie erinnern, daß Er der Herr über Leben und Tod sei und mächtig zu lieben und zu strafen, und daß, wenn sie sich nach seiner Strafe jetzt demüthig zu ihm wenden würden, sie auch seine Liebe schmecken sollten. Aber beide Eheleute wandten sich schroff ab und erklärten: von einem solchen Gott, der so grausam sei, wollten sie nichts wissen. Und als Müller sie warnen wollte, daß der Herr noch schlimmer strafen könne, forderten sie frech diese Strafe heraus und behaupteten, da ihnen die Kinder genommen, sei ihnen alles in der Welt gleichgiltig.

Aber so war es doch nicht. Hatten sie auch den Himmel aufgegeben, von der Erde konnten sie sich noch nicht lossagen, und es gab immer noch Sorge und Arbeit für sie. Ihr irdisches Hab und Gut zu verbessern und zu vergrößern, gaben sie sich jetzt mit noch größerem Eifer als früher hin. Auffallend ist es, aber die Erfahrung hat es oft genug bestätigt, daß Menschen, die für niemanden, der ihnen nahe steht und den sie lieb haben, zu sorgen haben, die geizigsten sind. Ausgemachte Geizhälse sind meistens alleinstehende Leute. Zur Strafe, daß ihr Herz sich nicht nach einem höheren und edleren Gegenstand der Liebe umsah, füllt der Herr es mit der Qual der Geldsucht und des Geizes. – So erging es auch Freihausens. Sie standen so gut wie allein in der Welt, denn ihre lebenden Kinder waren ihre größten Feinde; aber alle ihre Kräfte wandten sie an, um noch etwas zu erübrigen, und nicht darben zu müssen in den alten Tagen. Die Sorge, dereinst noch einmal Noth leiden zu müssen, war groß, und ihre Kartoffelernte zu überschlagen und den Profit, den sie in diesem Jahre davon haben konnten, nachzurechnen, war ihr größter Genuß. Die Ernte war in diesem Jahre aber auch ungewöhnlich reichlich. Nicht allein daß sie zwei Schweine mehr fett machen konnten als gewöhnlich, die beim Verkauf einen hübschen Thaler Geld brachten, – auch eine große Grube mußte auf dem Felde gemacht werden, deren Inhalt im Frühjahr noch verkauft werden sollte. So gingen ihnen beim rastlosen Arbeiten und Mühen die Tage ruhig, aber öde und trostlos hin; nur zuweilen, wenn sie von Franzen zu arge Dinge hörten, wurden sie aus ihrem Gleichmuth aufgerüttelt, und Groll und Schaam nahmen für kurze Zeit in ihrem Herzen den Platz des Geizes ein.

Franz ward aber auch immer zügelloser in seinem Leben, und als er eines Abends betrunken aus der Schenke kam, gerieth er mit mehreren Burschen in Zank und Prügelei, und ward dabei am Schienbein so arg verletzt, daß er bettlägerig wurde. In der ersten Woche pflegte ihn Mine mit der größten Liebe und Geduld, und das wollte viel sagen, denn Franz war nicht wenig eigensinnig und übelgelaunt. Die zweite Woche aber mußte Mine das Krankenbett verlassen und wieder auf Arbeit gehn, wenn ihre Kasse nicht gar knapp werden sollte. Die dritte Woche ward sie dennoch knapp, denn Franz wollte von seinem gewohnten Essen und Trinken nicht lassen; gespart hatte er kein Geld, – und wie sollte Mine allein das bewerkstelligen? Dabei war es Ende Oktobers und schon recht bitter kalt, und wenn die Nachbarn sich Morgens und Abends ein bischen Kartoffelstroh in den Ofen schauerten, so konnte dies die Mutter Krausen nicht, denn Franz hatte im Frühjahr behauptet, Kartoffeln auspflanzen sei eine unnütze Last: wenn man Geld genug verdiene, könne man alles kaufen. Jetzt aber verdiente er weder Geld zu Holz noch zu Kartoffeln. Seufzend holte Mutter Krausen trockene Reiser und Mine nahm unzufrieden ihr Geld, um Kartoffeln zu kaufen. Franzen mit Leckereien satt zu machen, hatte sie jetzt aufgeben müssen, sein kranker Fuß ließ seinen Magen ganz gesund und er hatte Hunger wie ein Gesunder. Aber auch ihre Geduld war zu Ende und das Blatt hatte sich in der Art gewandt. Franz, durch die Noth gezwungen, war nachgebend und freundlich, und Mine machte wenig Umstände mit ihm. So waren noch einige Wochen kümmerlich verstrichen, der Arzt gab immer noch wenig Hoffnung zur Wiederherstellung, denn Franzens Säfte, durch Branntwein und Schlemmerei verdorben, zogen sich nach dem kranken Fuße, und suchten durch offene Wunden sich einen Ableiter zu erhalten.

Eines Sonntags Abends, es war im November, kam Mine verdrießlicher als je nach Haus. Die Mutter hatte im Ofen ein Feuer angemacht und sah wehmüthig nach Minens leeren Händen.

Bringst Du keine? fragte sie leise.

Bringe mal! entgegnete Mine mürrisch: Ohne Geld keine Kartoffeln, heißts jetzt, da ist keiner mehr der welche herausrücken will.

Na Mine, laß das Maul nicht hängen, sagte Franz tröstend, der Doktor sagte heute, wenn ich diese Woche noch mager lebe, kann ich die nächste auf Arbeit gehen. Dann heißts aber Tag und Nacht, und bis Weihnachten hab ich einen schönen Haufen Geld beisammen.

Sie arbeiteten nämlich in einer Zuckerfabrik, wo es an Beschäftigung niemals fehlte.

Diese Woche ist noch lang genug um zu verhungern, brummte Mine weiter. Ich habe mein Geld für alte Schuld hingegeben, und frische will mich keiner mehr machen lassen; Hunger aber thut weh, jetzt heißts betteln oder stehlen, und beides hab ich nicht gelernt.

Ach du Herr Gott, eher will ich doch betteln als stehlen, klagte Mutter Krausen. Ich will gehen und heute was anschaffen, zu morgen wird wieder Rath. Es sind so viel Leute, die reichlich Kartoffeln geerntet haben, wenn sie nur jeder ein Händchen voll geben.

Denn fang nur drüben bei Freihausens Deine Bettelei an, sagte Mine höhnisch, die sitzen im Vollen. Mußt sagen, ihr Söhnchen müßte schon lange Hungerpfoten saugen.

Die Alte war fortgegangen, und Franz sagte nach kurzem Besinnen:

Du hast mich auf einen guten Gedanken gebracht. Die alten Geizhälse sitzen da im Vollen, und ich soll hungern? Im Grunde, wenn wirs recht betrachten, ist doch ihr ganzes Hab und Gut auch meins, denn wenn sie heute die Augen zuthun, erbe ichs morgen. Also werde ich keine Umstände machen und uns was zu verschaffen suchen.

Stehlen? fragte Mine verwundert.

Pah, Stehlen! so ein bischen naschen hat mein Vater nicht Stehlen genannt. Nur keinen sehen lassen, hieß es da, und das will ich schon beobachten, setzte er lachend hinzu.

Ich helfe aber nicht, unterbrach ihn Mine.

Brauchst auch nicht, erwiderte Franz, und Deiner Alten binden wir auf: Lutchens Frau will uns heimlich noch eine Weile welche borgen, aber keinem Menschen dürften wirs sagen, daß es ihr Mann nicht erführe. Wenn Deine Mutter jetzt von ihrer Bettelei zurückkommt, haben wir die Katze im Sacke. Erst machen wir uns an den Haufen im Garten, hier dicht an der Hecke. Die zehn Schritt kann ich recht gut hinken, die Erde ist weich, das ist ein Kinderspiel, so habe ich eine Kiepe voll.

Minen ward es im Herzen etwas bange, aber dann dachte sie wieder: Du stiehlst doch nicht; will er es auf sich nehmen, mag ers, er hat dein Geld mit verzehrt und du willst nicht hungern.

Die Hausthür wurde verriegelt und beide traten in den kleinen wüsten Garten. Der Himmel war dunkel, der Wind brauste und der Regen schlug an die kahlen Bäume. Franzen ward es unheimlich zu Muthe, wenn er auch sein Gewissen mit eitlen Gedanken zu beruhigen suchte, als: es ist ja nur dein Eigenthum, von dem du nimmst, – oder: es ist gottlos und schändlich, wenn Eltern ihre Kinder wollten verhungern lassen. Die Stimme in seinem Innern rief immer wieder: »Du sollst nicht stehlen.«

Die Sache war bald abgemacht, und ganz vergnügt saß er wieder mit Minen am warmen Ofen, worin die gestohlenen Kartoffeln lustig kochten. Der Mutter, die mit ziemlich reichen Gaben nach Hause kam, wurde unter dem Befehle des strengsten Stillschweigens die Lüge aufgebunden, und da es Franzen und Minen jetzt unangenehm war, daß die Mutter sie in den Ruf der Noth gebracht, ersann Mine sich noch eine zweite Lüge. Als sie am andern Morgen mit ihren Gefährten bei der Arbeit saß, klagte sie ihre Mutter an, daß sie vor Angst und Alterschwäche wäre heimlich nach Kartoffeln umher gelaufen, da sie, Mine, doch noch einen guten Vorrath für den Nothfall zurückgelegt hätte, und auch Franzens Sparkasse so gut bestellt wäre, daß sie wohl einmal so lange eine Krankheit aushalten könnte. Freilich hätte er immer nicht daran gewollt, die Sparkasse, womit ihr künftiger Hausstand bestellt werden solle, anzugreifen; weil aber niemand mehr borgen wolle, müsse er doch davon bezahlen.

Die nächste Woche ging Minen und Franzen sehr behaglich vorüber; denn außer den Kartoffeln die sie selbst verzehrten, verkauften sie noch einen Scheffel für ein Billiges an die Lutchen, um auch Brot und Zubrot genug zu haben. Die Lutchen war eine Frau, mit der man sich eigentlich nicht gern einließ, sie war schon öfter in Diebsgeschichten verwickelt gewesen, und wenn auch nicht des Diebstahls, doch der Diebeshehlerei verdächtig. Franz aber mußte sich gerade nach so anrüchigen Leuten umsehen, weil seine Sache auch anrüchig war. Daß sie sich aber nie hatte überführen lassen, war für Franz der Hauptgrund, sich mit ihr einzulassen; denn im Falle, daß sein Diebstahl an den Tag käme, hatte er wenigstens jemand zur Hülfe, der seine Sache verstand. – Doch bei dem ersten Schritte blieb es nicht. Obgleich er wieder auf Arbeit ging, waren ihm doch die Kartoffeln, die er um nichts und wieder nichts erlangen konnte, viel zu angenehm. Er holte einen Scheffel nach dem andern aus der Grube, und es ward ihm zuletzt das Stehlen so gleichgiltig, als ob es gar nichts sei. Ja als es nun anfing kälter zu werden, und er fürchtete, die Grube werde hart überfrieren, holte er noch eine ganze Partie zum Vorrath und verbarg sie in einem dunklen Winkel des Hauses unter Stroh und Bretterwerk.

Sein Vater, der die Kälte für die Kartoffeln ebenfalls fürchtete, entschloß sich, sie der Sicherheit wegen in den Keller zu nehmen; der Vorrath, der bis jetzt den Keller gefüllt hatte, war theils verkauft, theils in der Wirthschaft verbraucht. Wie groß war sein Schrecken, als er die Grube beinahe leer fand. Er sowohl wie seine Frau waren sogleich überzeugt, daß Franz der Dieb gewesen, und Aerger und Zorn waren grenzenlos. Gleich in der ersten Bewegung wurde Lärm geschlagen, die Dorfpolizei wurde in Bewegung gesetzt und die Kartoffeln gefunden, über die Mutter Krausen, die eben allein im Hause war, keine genügende Auskunft geben konnte. Mine und Franz wurden festgenommen und widersprachen sich in den verschiedenen Verhören in so auffallender Weise, daß der Behörde kein Zweifel über ihre Schuld blieb. Franz aber ergriff das klügste Theil. Die Lutchen und Minen mit in die Sache zu ziehen, konnte ihm nichts helfen; er erklärte sich für den einzigen Schuldner und meinte, da es doch nur seines Vaters Kartoffeln und er am Verhungern gewesen, hätte er es sich nicht zur großen Sünde gerechnet.

Die Nacht darauf saßen Freihausen und seine Frau beim trüben Licht der Lampe wach, sie konnten keine Ruhe finden.

Ich laß ihn aber doch setzen, sagte Freihausen mit finsterer Stirne.

Ich möcht es auch wohl, entgegnete seine Frau, aber mich grausets dabei. Ich kanns kaum beschreiben, aber so ist mir in meinem Leben noch nicht gewesen.

Mitternacht ist vorbei, – Du fürchtest Dich wohl vor Gespenstern? höhnte der Mann.

Es ist, als rührten wir uns immer größeres Unglück ein, fuhr sie fort. Schicken wir ihn ins Gefängniß, kommt er nicht besser wieder; es ist der erste Schritt, dann kommts Zuchtshaus und immer so weiter, – hu! wies mich schüttelt, es ist doch unser Kind.

Der Teufel mag ihn holen, fuhr Freihausen heftig auf, den infamen Dieb!

Die Mutter fuhr zusammen. Die Hand Gottes rüttelte mächtig an ihrem Gewissen. Was hatte denn der Junge gethan? Kartoffeln gestohlen. War denn das viel schlimmer, als da er damals des Nachbars Birnen stahl? Sie dachte an den Pastor Müller, an seine Worte, an ihre Worte, an ihren ganzen Lebenswandel. Ja, der Herr kann uns schlagen, wir sind in seiner Hand! sagte jetzt ihr zitterndes Gewissen. Dabei sahe sie scheu nach den kleinen Fenstern, an denen im halben Mondenlicht der Wind stoßweise den Schnee vorübertrieb, in dem ihre erschreckte Fantasie gar wunderliche Erscheinungen sah.

Ich habe Furcht, sagte sie zu ihrem Manne, daß Gott uns möchte unbarmherzig richten, wenn wir unbarmherzig sind.

Thorheit! brummte Freihausen und starrte vor sich hin; es war ihm aber selbst etwas unheimlich zu Muthe.

Die Frau stand auf, kramte in einer Schublade und holte eine halbzerrissene und verstäubte Bibel hervor, dann suchte sie im Kalender das Evangelium von dem König, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Sie las es ihrem Manne vor, er hörte stumpfsinnig zu, und als seine Frau aufhörte, hatten sich seine Züge nicht verändert; aber im Sinne ward es ihm noch unheimlicher und ihr ging es eben so. Die Bibel war für beide eine unbekannte öde Welt; mit einem Herzen wie ihres konnte sie ihnen keinen Trost gewähren, sondern nur Angst und Unruhe vermehren. Was sie zur Barmherzigkeit treiben wollte, war nicht Reue und Demuth, es war der bange Schrecken, der sich ihrer bemeistert hatte.

Ich vergebe ihm und wasche meine Hände in Unschuld, wenn Du ein unnatürlicher Vater bist, – sagte sie und suchte ihr Gewissen mit diesen süßklingenden Worten in den Schlaf zu singen.

Meinetwegen mag er laufen! antwortete der Mann. Deine Gespensterfurcht hat mich angesteckt und die ganze Welt kommt mir jetzt graulich vor.

Da saßen sie beide wieder stumm an dem Tische, und es war ein schauerlich Bild, wie die Sünde ohne Trost ist und sich vor sich selber fürchtet; denn die Sünde ist keck, wenn es ihr gut geht, und feig, wenn die Noth kömmt. – Jetzt fuhren sie beide zusammen, denn das war nicht nur Schneegestöber, das am Fenster huschte, es war wirklich eine Gestalt und eine wimmernde Stimme, die da vernehmlich ward.

Freihausen ermannte sich am ersten und schob das kleine Schiebefenster zurück, um den da in der Nacht in Schnee und Sturm Irrenden zu erfragen.

Ach Gott! es ist die Sofie! rief er und fuhr mit dem Kopf zurück in die Stube.

Die Mutter faßte das Lämpchen und eilte bleich und zitternd zur Hausthür. Hier gab es wieder Barmherzigkeit und Vergebung zu üben, denn Sofie war ihnen wider Willen davon gelaufen, hatte nichts von sich hören lassen, und stand jetzt müde, matt und erfroren mit flehendem Angesicht vor den Eltern. Eine bessere Stunde hätte sie nicht treffen können. Es fiel ein Stein vom Herzen der Mutter, und sie meinte, er müßte für sie in die Wage der Vergeltung fallen, denn hier konnte sie auf der Stelle Barmherzigkeit üben. Sie war noch nie so warm und theilnehmend gegen Sofien gewesen, und selbst der Vater, dem es eine Erleichterung war, diese unheimliche Nacht so unterbrochen zu sehen, lief geschäftig für die Tochter hin und her.

Sofie kam aus der Stadt, sie hatte sich im Schneegestöber verirrt und verspätet, und wäre beinahe umgekommen. Ihre Absicht war eigentlich, zu Krausens zu gehen; als sie dort aber vergebens geklopft, und das Licht in der Eltern Stube zu ihr herüberleuchtete, führten Kälte, Mattigkeit und Verzweiflung sie vor diese Thür. Wie staunte sie, als sie der Mutter verändertes Wesen sah. Gerieth denn diese nicht in Wuth, als sie des Mädchens Zustand erkannte? Sofie war in andern Umständen und nur deswegen aus dem Dienst gegangen. Nein, die Mutter hörte es ruhig an, und der Vater hörte es ruhig an, und Sofie hatte Zeit ihre Geschichte zu erzählen.

Sie hatte gedient bei einer alten Dame und es war ihr nicht besonders gegangen, aber August Krause war ein ordentlicher Soldat, und war Bursche bei einem Offizier geworden und hatte sich Geld erspart. In einem halben Jahr hatte er ausgedient und will sie heirathen. Und jetzt hat er ihr 5 Thaler gegeben, daß sie Wochen halten kann; denn sie ist gleich aus dem Dienst gejagt, als ihre Herrschaft den Zustand entdeckte. Sie hatte sich nicht zu den Eltern getraut und wollte zu Krausens; aber das Schicksal hat sie doch an die rechte Thür geführt.

Sofie weinte und ihre Mutter weinte auch, das natürliche Gefühl in beider Herzen ward wach, und der Vater war wenigstens so gestimmt, daß er beide nicht störte. Ja, er versprach es, ebenso wie die Mutter, der Tochter den Jugendstreich zu verzeihen, wenn sie nun ein ordentlich ehrbar Leben führen wolle und sich zu den Eltern halten, sie lieben und ehren. – Sofie war zu allem bereit, o nach der Todesangst, nach Kälte und Sturm und Einsamkeit, fühlte sie sich hier in der Wärme und Sicherheit so fern von allem Leichtsinn: was sie bis jetzt im Leben nicht gekonnt, sie meinte von nun an müßt es federleicht sein.

Wie sah es aber am andern Morgen aus? Mit dem Tageslicht waren die Eindrücke der Nacht verflogen. Freihausens fingen ihr gewohntes Leben wieder an, es war ganz bei ihnen, wie es im Evangelium Lucä 11, 24–26 heißt: »Wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausfähret, so durchwandelt er dürre Stätten, suchet Ruhe und findet ihrer nicht; so spricht er: Ich will wieder umkehren in mein Haus, daraus ich gegangen bin. Und wenn er kommt, so findet ers mit Besen gekehret und geschmücket. Dann gehet er hin, und nimmt sieben Geister zu sich, die ärger sind denn er selbst, und wenn sie hinein kommen, wohnen sie da; und wird hernach mit demselbigen Menschen ärger denn vorhin.«

Franz wurde zwar nicht gesetzt, sie wollten sich die Schande nicht machen und die Mutter wagte nicht, ihren nächtlichen Gelübden so weit untreu zu werden. Sie vermittelten aber, daß er schon nach kurzer Zeit als Soldat abgerufen wurde, und überredeten sich, die militärische Zucht würde sein rohes zügelloses Leben wieder in das rechte Geleis bringen.

Mit Sofien war es bald wieder beim Alten. Wie die Eltern untereinander ohne Glauben und Liebe lebten, so lebten sie auch mit der Tochter, und diese hatte eine kümmerliche Zeit, als sie, selbst elend und schwach, ein ganz elendes Kind über ein Vierteljahr zu Tode pflegen mußte, bis August zurückkam und seinem Versprechen getreu sie zu seinem Weibe nahm.


2. Der Sohn.

Franzens Dienstzeit war zu Ende. Seine Eltern hatten nicht mit Unrecht gehofft, diese Zeit werde einen Einfluß auf ihn üben: er hatte Manieren bekommen und hielt was auf sein Aeußeres. Ist denn das der Kartoffeldieb? fragten sich die Dorfbewohner, der da so grob und ungeschlacht einherging? Franz aber sprach gar nicht über diesen Jugendstreich, wie er es nannte, und suchte sich überhaupt mit großer Klugheit vor dem Dorfe einen guten Namen zu machen. Mine, die in seiner Abwesenheit fleißig auf Arbeit gegangen war, wurde seine Frau. Er lebte in Frieden mit seinen Eltern und anfänglich auch mit August Krausen, der nun von zwei Seiten sein Schwager war. Mine war nicht wenig stolz auf ihren stattlichen Mann; denn obgleich sie bald merkte, daß Franz seine früheren Fehler nicht abgelegt hatte, so war es ihr ein Trost, daß er sich vor den Leuten zusammen nahm, und sie hoffte, da er einmal auf so gutem Wege war, daß es immer besser mit ihm werden würde. Die arme Getäuschte! Woher sollte denn die Besserung kommen? Franz war im Innern derselbe, und wie lange ein bischen feine Lebensart vorhält, weiß man wohl. Das ist wie ein zermilbtes Möbelstück, das außen eine feine glatte Politur hat und immer noch sehr reputirlich aussieht; beim geringsten Anstoß aber kann diese dünne Kruste den inneren Schaden nicht halten und das ganze fällt in Trümmer. Für jetzt hielt Franz auf seine Politur, und niemand konnte ihm was anhaben. Nur seine Eltern zankten oft mit ihm: er solle jetzt sparen, wo seine Wirthschaft noch so klein sei. Doch davon wollte Franz nichts hören. Er meinte: wenn man jung sei, müsse man das Leben genießen, müsse er sich später einschränken, werde er es schon thun. Auch daß er mit seinem Schwager Krausen bald zerfiel und sie sich gegenseitig das Haus verboten, konnte man nicht ihm zur Last legen; denn bei Krausens war eine schlechte Wirthschaft, Sofie war faul und verschwenderisch, und ihr Haushalt ging in Unordnung und Schmutz bald unter.


Bei jungen Freihausens ist Kindtaufe, hieß es im Dorf, und die Kinder standen vor der Wohnung, die heut ganz stattlich anzusehen war. Vor der Hausthür war gefegt, und weißer Sand gestreut bis tief in das Haus hinein. Die alte Freihausen, mit aufgestreiften frischen Hemdsärmeln, trug eben einen tuftenden Kuchen hinein, und Mine folgte mit einer großen Bratpfanne, worin ein Ziegenlämmchen dampfte. Die alte Freihausen hatte es sich was kosten lassen, sie hatte das Ziegenlamm geschlachtet und den Kuchen gebacken, alles dem ersten Enkel zu Ehren, der ihr großmütterliches Herz mit Freude erfüllte. Franz trat in die Küche, als die Herrlichkeiten dort niedergesetzt wurden.

Ei das riecht schön! sagte er schmunzelnd, ich dächte wir probten, ehe der Tanz losgeht.

Die Mutter sah ihn böse an und schloß alles in einen Schrank. Dann kramte sie mit Minen in der Stube, setzte die Kaffeetassen auseinander, ordnete die Stühle, wischte und fegte hier und da, und sah endlich mit wohlgefälligen Blicken, wie gut sie alles hergestellt. Sie allein hatte die Ehre davon, sie hatte die rothe Kaffeeserviette auf den Tisch gebreitet, hatte Tassen und Stühle besorgt, und in allen Ecken nachgeholfen, denn mit innerem Kummer mußte sie sich gestehen, daß die junge Wirthschaft eine recht armselige war. In den letzten Wochen, wo Mine nichts verdient hatte, war es nun völlig leer hier geworden. Mine ging zwar sehr geputzt in einem neuen Kattunkleide, aber doch sah es nach nichts aus, es schlumperte um die Füße, weil kein derber Unterrock darunter saß. Die Freihausen blickte aber mit Willen darüber fort, sie wollte heute einen fröhlichen Tag haben.

Als sie die Hebamme herankommen sah, that sie die Sonntagsjacke und ein schönes seidenes Tuch an und ging mit der Frau in die Kammer, um das Enkelchen zur Taufe zurechtzumachen. Das Kind lag in der reinlichen Wiege, die auch die Großmutter gestiftet. O du rührender Anblick der Unschuld! Wie ein Engel lag es da, schlug jetzt die großen blauen Augen auf und spielte mit den weißen Händen in der Luft.

Die Großmutter freute sich, aber es war keine höhere Freude; sie sah schmunzelnd nach dem weißen Kleidchen mit rosa seidenen Bändern, das die Hebamme, wie es auf dem Lande bei den kleinen Leuten Sitte ist, mitgebracht. Darin wird sich das Kind hübsch machen, dachte sie, und auch in dem blauen Kleidchen, das Mine erst noch heut Morgen fertig genäht, und in dem das Kindchen nach der Taufe Staat machen soll!

Die alte Hebamme dagegen hatte andere Gedanken. Es war eine fromme, erfahrene Frau, sie kannte die Welt, hatte schon an mancher Wiege gesessen, an der leichter und irdischer Sinn Wache hielten, und mit angesehn, wie später Sünde und Verderben daraus hervorgingen. Sie hatte schon an Franzens Wiege gesessen, wo es nicht so üppig herging, und wo man nicht so große Ursache zur Sorge hatte, als bei diesem kleinen verlassenen Wesen. Ja wohl verlassen, denn dich wird niemand führen, niemand wird dir beistehen in deiner Hilflosigkeit, und deine Natur, in der der Keim des Verderbens steckt, wird dich in das Verderben führen, und bist doch jetzt ein so unschuldiger Engel. – Noch mehr solche Gedanken der Sorge und der Theilnahme machte sich die fromme Frau, als sie durch das Läuten der Glocken darin unterbrochen wurde. Was soll das Läuten? Es ruft zur Taufe, es ist die Stimme des Herrn die da sagt: »Lasset die Kindlein zu mir kommen« und: »Also ists vor eurem Vater im Himmel nicht der Wille, daß jemand von diesen Kleinen verloren werde.« O welch ein Trost, der Herr selbst ruft ja dieses Kind, durch die Taufe will er es aufnehmen in seine heilige Gemeinschaft. Ist nun noch Grund zum Bangen? Nein, denn des Herrn Gnade ist unermeßlich und unerschöpflich, er kann sie ausschütten über den Aermsten und über den Unwürdigsten, er kann erretten mit mächtiger Hand. O so errette denn, du wirst deinen Zorn nicht ewiglich behalten, denn du bist barmherzig! Der Herr hörte die Segenswünsche und Fürbitten der frommen Frau und sie sollten nicht verloren sein.

Aber Gottes Barmherzigkeit muß wohl sehr groß sein, daß er den Strahl der Vernichtung so lange vom Haupt der Gottlosen zurückhält. Einem jeden Herzen, das dem Herrn gehört, muß es ein Grauen sein, solch eine Taufgesellschaft zu sehen wie sie hier – den alten Freihausen an der Spitze – zur Kirche ging. Einer war leichtsinniger und zerstreuter als der andere, sie übernahmen ein heiliges Amt mit unheiligem Herzen, und mit frechem Munde versprachen sie dem Herrn, das zu halten sie nicht im geringsten willens waren. »Doch irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch säet, das wird er erndten.«

Der Pastor Müller handhabte Gottes Wort kräftig, aber es fiel auf harten Boden. Freihausen, der seit dem Streit wegen Franz die Kirche nie wieder betreten hatte, suchte durch sein Gesicht zu beweisen, wie ihm die Worte des Predigers gleichgiltig seien, und Franz, der hinter ihm stand, konnte kaum seine lachenden Mienen zum nöthigen Ernste zwingen. Die Mutter Freihausen hatte sich nicht bezwingen können, ihrem Gelübde untreu zu werden; sie ging nicht zur Kirche und schnitt lieber in der Zeit den Kuchen auf und richtete den Kaffeetisch an.

Das Kind erhielt in der Taufe den Namen Christoph. Als die Gesellschaft zu Hause kam, erbot sich Mutter Welligen, die Hebamme, das Kind den Tauftag zu warten, wie sie es meistens an Tauftagen zu thun pflegte. Als Franz sah, wie sie nach dem Umziehen dem Kinde das Zeichen des Kreuzes auf Stirn und Brust machte, wie sie es in alter frommer Weise bei jedem Waschen und Umziehen that, drehte er sich lachend um, verließ die Kammer und sagte zu seinen Gästen: Die Alte drin hat eben die letzten Sparenzien gemacht, jetzt kann die Hauptsache folgen. Dabei setzte er sich, lud zum Kaffee und zum Rauchen ein und stimmte den Ton an, der ihm der liebste war.

So wurde bis spät in die Nacht hineingejubelt, und als erst Bier und Schnaps an die Reihe kamen, gab Franz sich den bösen Geistern dieser Getränke am meisten hin. Sie gaben seiner äußeren Politur den Stoß und er zeigte sich der Gesellschaft in seiner ganzen Verworfenheit. Es waren da freilich manche darunter, die nichts Ungehöriges in seinem Betragen fanden, ja seine Witze und Zoten belachten und ihn zu neuen anfeuerten. Aber Freihausen erkannte mit Schrecken seinen verlorenen Sohn, und als dieser endlich seine Eltern und alle, die ihm nahe standen, in seiner Betrunkenheit mit bösem Munde angriff, verwandelte sich der Jubel in Zank und Streit. Die Nüchternen suchten die Angetrunkenen zu beruhigen, aber da war kein Haltens, es war, als ob der Böse unter sie gefahren; die Frauensleute forderten zum Aufbruch auf, und unter Toben und Lärmen wälzte sich der Menschenkneuel vor die Thür, um sich in dunkler Nacht zu zerstreuen. Die Freihausen suchte schimpfend die Scherben ihrer Gläser und Flaschen von der Erde auf, und verließ, Groll und Gram im Herzen, mit ihrem Manne das Haus.

Was war es denn nun mit dem Lammbraten und dem Kuchen für eine Herrlichkeit gewesen? O wie war ihr Stolz gedemüthigt und ihre irdische Lust in Jammer verwandelt. – Und es ist noch nicht aller Tage Abend! dachte sie seufzend, und dachte an das wüste unheilige Taufhaus zurück.

Als sie vor dem Fenster der Mutter Wellig vorüber kamen, war diese noch auf. Sie hatte ihren Pflegling, als sie ihn zur Nachtruhe gebracht, verlassen und erholte sich jetzt von der Unruhe des Tages. Eben legte sie die Bibel bei Seite, schlug das Gesangbuch auf und sang mit sanfter aber heller Stimme:

Eins ist noth, ach Herr dies Eine
Lehre mich erkennen doch!
Alles andre, wies auch scheine,
Ist ja nur ein schweres Joch,
Darunter das Herze sich naget und plaget
Und dennoch kein wahres Vergnügen erjaget.
Erlang ich dies Eine, das alles ersetzt,
So werd ich mit Einem in allem ergötzt.

Die Freihausen war wie angebannt und mußte den ganzen Vers mit anhören. Sie wußte wohl, wann sie ihn zuletzt gesungen. Der Herr Gott verfolgt dich, – dachte sie mit bangem Herzen – und es ist noch nicht aller Tage Abend.


Es waren vier Jahr vergangen, da ließ Franz wieder taufen, – ein Kind, was dazwischen geboren war, war bald nach der Geburt gestorben. Die alte Wellig kam mit dem weißen Taufkleidchen, aber diesmal war die Wohnung nicht so reichlich ausgerüstet, als damals, wo der kleine Christoph getauft ward. Mine hatte zwar weißen Sand gestreut, auf dem einzigen Tisch standen zwei Schnapsflaschen nebst Gläsern, Butter und Brot, Franz hatte zu den drei Stühlen noch aus einem Brett und Klötzen eine Bank zurecht gestellt, aber da war weder ein Lammbraten noch Kuchen zu sehen. Und wie die ganze Wohnung grauer und abgetragener geworden, so sahen Franz und Mine selber aus. Minens Kleid war verwaschen und hing noch länger und haltloser um die Füße, und Franz mit der abgetragenen Weste und den nothdürftig geflickten grauen Hemdsärmeln sah eben so wenig festlich aus. Und noch unfestlicher und unheimlicher als sein Anzug waren seine Züge und sein ganzes Wesen. Das Gesicht grau und aufgeschwemmt, der Blick ohne Leben, das Haar glanzlos und todt. Mit schwerfälligem Gang ging er einher, und obgleich er nüchtern war, hatten alle seine Bewegungen etwas zufälliges und willenloses. Der kleine Christoph war der einzige, der der alten Welligen einen festlichen Eindruck machte. Sein blondes Engelsköpfchen sah frisch und freudig zu dem kleinen Brüderchen, sein weißes Hemdchen war kaum weißer als seine Aermchen und Hände, mit denen er dem Taufkindchen liebkosete. Sein Blick war sehnsüchtig nach der Arbeit der Alten gerichtet, sie hatte ihm ja versprochen, ihn mit nach der Kirche zu nehmen, und das war sein höchstes Verlangen. Jetzt war die Welligen fertig, und, das Kindchen auf dem Arm, stellte sie sich ernsthaft vor Franzen.

Weißt Du denn Franz, wo ich das Kind hintrage? fragte sie.

Nun wo sonst hin? nach der Kirche, – antwortete Franz, etwas verblüfft von dem feierlichen Ton der Mutter Welligen.

Und hast Du denn drüber nachgedacht, was da mit dem Kind geschehen soll?

Nein, das ist auch meine Sache nicht, das ist des Pastors Sache.

So, gehts denn den Pastor mehr an, ob das Kind selig wird, oder den Vater?

Ich wills ihm nicht verwehren, daß es selig wird, ich will ihm auch nichts in den Weg legen.

Nichts in den Weg legen? seufzte die alte fromme Frau. Meinst Du denn, daß Dein ganzer Lebenswandel Deinen Kindern kein Stein des Anstoßes ist?

Nu, nu, so schlimm ists doch auch noch nicht! was thue ich denn? fragte er trotzig und glotzte sie mit seinen stieren Augen an.

Du thust alles, was Dich geradezu in die Hölle führt, sagte die Welligen ruhig.

Zum Donnerwetter, das wollen wir doch mal sehen! fuhr Franz heftig auf und schlug mit der Hand auf den Tisch, daß die Glaser klirrten.

Der kleine Christoph drängte sich schüchtern an seine alte Freundin, er glaubte, sein Vater würde wieder wüthend werden, wie er that, wenn er betrunken war und die Mutter prügelte und alles über einander warf.

Die Hölle fürchtet sich vor Deinem Fluche nicht, sagte die Welligen ruhig, und Dir hilft er nichts. Du hast nur zwei Wege, entweder zum Heiland und zu seinem Himmel, oder zum Teufel und zu seiner Hölle. Da ich nun denke, Du weißt es nicht recht, was Du mit dem Heiland weggiebst und womit Dich der Teufel schadlos halten will, möcht ichs Dir noch einmal jetzt bei dieser feierlichen Gelegenheit sagen, und wenn Du nicht absichtlich in die Hölle rennen willst, denn höre mich wenigstens an.

Ach absichtlich, – was absichtlich! ich habe gar keine Absichten, – brummte Franz.

Mine weinte. Es war ihr ganz recht, daß die Welligen Franzen in das Gewissen redete, denn das Leben, das sie an seiner Seite führen mußte, war gar elend und erbärmlich.

Nun, fuhr die Alte fort, meine Rede ist kurz, denn Du hast gar wenig zu thun, um Dich dem lieben Heiland wieder zuzuwenden. Geh jetzt mit in die Kirche und erneuere Deinen Taufbund, das heißt: gieb Dich dem Herrn hin, wie wir dies Kind ihm übergeben. Dann sage so recht brünstig in Deinem Herzen: Lieber Herr, ich bin schwach und willenlos wie dies Kind, aber mache Du mich stark, mache Du mich fest; ich möchte wohl gern in Deinen Himmel kommen, ich weiß nur nicht wie ich es anfangen soll. Nicht wahr Franz? sagte die Welligen zutraulich: das weißt Du noch nicht?

Franz schüttelte mit dem Kopf.

Der Herr ist aber so gern bereit, es Dir zu sagen, Du mußt Dein Herz aufthun und hören was er sagt, und hast Du gehört, versuchen danach zu thun. Ich sage, versuchen, denn im Anfang wird es schwer scheinen; aber nur frisch drauf los, der Herr selbst hilft Dir und macht es Dir leicht und lieblich, wenn Du nur immer Dein Herz ihm offen hältst und immer betest: Herr ich bin schwach, mache Du mich stark.

Franz sah die Sprecherin starr an. Das war ihm so fremd, und in seinen wüsten Kopf wollt es kaum hinein.

Jetzt hast Du doch nicht viel Freude und Vergnügen von Deinem Leben? fragte sie weiter, und wollte ihn von einer verständlicheren Seite fassen.

Wahrhaftig nicht! fuhr er schnell auf, das ist ein wahres Plackleben, und möcht es je eher je lieber über den Haufen werfen.

Das wirst Du nicht thun, denn wenn Du es thust, da bringts Dich geradezu in die Hölle, und da werden Deine Augen aufgehen, und Du wirst sehen, daß dies Plackleben doch noch ein glücklich Leben war gegen die Pein, die Du leiden mußt. Denn dies Plackleben läßt Dir doch immer noch den Weg zum Himmelreiche offen. Komm jetzt mit in die Kirche, sagte sie bittend und faßte ihn bei der Hand, das ist der Anfang zu Deinem Heilswege.

Ich habe keinen vernünftigen Rock, entgegnete Franz, und denn ists nicht Mode, daß die Eltern mit in die Kirche gehen.

Der Herr fragt nicht, was vor den Menschen Mode ist und sieht nicht auf Deinen Rock, mach nur Dein Herz rein von allen bösen Gedanken, und denk, Du willst ein Kind sein wie Deine unschuldigen Kinder hier.

Komm Franz, sagte Mine halb schluchzend.

Und wenn wir zurückkommen, fuhr die Welligen fort, dann will ich Euch aus der Bibel vorlesen und schöne Lieder singen, – o versucht es nur einmal wie lieblich das ist, es wird Euch so froh und so still dabei zu Sinne werden, und Ihr werdet den Himmel offen sehen.

Franz sah sie an wie einer, der Sehnsucht hat nach all den unverstandenen Glückseligkeiten. Bald aber fiel sein Blick auf die Gläser und Schnapsflaschen.

Heute aber kommt Lutche mit seiner Frau und seinem Jungen und Friesens beide, sagte er abwehrend, das kann ich nicht mehr abstellen. Sie kann morgen Abend kommen, Mutter Welligen, und uns was vorlesen.

Franz, Franz! schiebe nicht auf, sagte die Alte drohend, wenn Dich die bösen Geister der Schnapsflasche erst wieder gefaßt haben, denn hält Dich der Teufel, und Du kannst Dich nicht aus seiner Gewalt winden. Schicke nach Deinen geladenen Gästen und sage: Du wolltest Dein Tauffest heute allein feiern. Der Schnaps bleibt Dir ja unverloren; wenn Dir meine Unterhaltung nicht gefallen, könnt Ihr ja morgen zusammen trinken.

Ich will hingehen und es abbestellen, sagte Mine bereitwillig, wie gern möcht ich heute mit der Mutter Welligen singen und beten.

O ja, Noth lehrt beten, heißt es. Mine wollte das lieber, als sich von Franz und seinen Saufgesellen zanken und schlagen lassen.

Wenn Lutchens und Friesens kommen, fuhr sie fort, giebts doch nur wieder Lärm und Zänkerei. Franz ist zu gutwillig, er tractirt sie, und sie wissens ihm nicht Dank. Und daß bei dem Leben nichts rauskömmt, ist wohl zu merken. Hunger und Kummer in allen Ecken! Dabei sah sie sich bedeutungsvoll in der Stube um.

Halt Du nur Dein Maul, fuhr Franz sie an, Dein Schlaraffenleben ist schuld an unserer Armuth; essen und trinken, aber nicht arbeiten, das ist so Deine Sache.

Ach Du meine Zeit! ich nicht arbeiten? ich fühls an meinen Knochen, was ich mich habe zeitlebens placken müssen.

I seht doch mal das Großmaul an! entgegnete Franz: wer hat Dich denn durchfüttern müssen, wie Du acht Wochen krank lagest? Aber das probire nicht noch einmal, denn will ich Dich schon aus dem Bette bringen.

O Herr Gott! dachte die Welligen, will denn Deine Gnade keinen Funken Licht in diese Nacht werfen? Noch einmal nahm sie sich zusammen, sie dachte: Wenn doch nur erst ein kleiner Anfang gemacht wäre.

Laßt den Streit jetzt, sagte sie beruhigend, Mine ist ebenso viel Schuld an Eurem Unglück als Du, Franz, sie hat ebenso wie Du den lieben Gott vergessen. Aber wenn sie nun auch fromm wird und ein Gott wohlgefällig Leben führt, da wirds im Haushalt besser gehn. Seht mal meinen Schwiegersohn drüben, den Traugott Schlüter, er ist gesund und frisch und fröhlich, und seine Frau und Kinder sind es auch, überall wo sein Auge auf den kleinen Hausstand sieht, ist Ordnung, und nichts fehlt was zu des Lebens Nothdurft gehört, ja es ist wohl noch mehr da. Er ist geachtet vor dem Dorf und verlebt seine Tage in Frieden, und woher kommt das alles? Weil er fromm und gottesfürchtig lebt, da hat der Herr seine Arbeit und seinen Wandel gesegnet. So wie es dem Traugott geht, kann es Euch auch gehen, Ihr seid beide jung, gesund und stark, an Verdienst kann es Euch nicht fehlen; nun schafft Euch durch ein gottesfürchtig Leben des Herrn Segen an, da wird sich bald alles ändern, Eure Armuth wird sich in Reichthum verwandeln, Euer Unfriede in Frieden, Eure Schande in Ehre, und Ihr werdet ein glücklich Leben mit Euren Kindern führen und Freude an ihnen erleben, denn wenn Ihr selbst gut und fromm seid, werden es die Kinder auch lernen, und werden glücklich und selig werden wie Ihr es seid. Franz! setzte sie mit erhobener und warnender Stimme hinzu, wenn Du aber jetzt Dein Herz verschließest, wenn Du des Herrn Heil frech von Dir stoßest, wenn Du dem teuflischen Sündenleben den Vorzug giebst, dann ist Dein Verderben nahe. Immer mehr Hunger und Kummer und Schande und Noth hier in der irdischen Welt, und dort oben in der Ewigkeit ewige Qual. Komm jetzt mit zur Kirche, schloß sie ruhiger, mache den Anfang.

Heute nicht, dabei bleibts, sagte Franz entschieden. Ich will mich nicht zum dummen Jungen machen vor meinen Gästen. Morgen aber könnt Ihr Eure Lectionen anfangen, denn will ich ordentlich arbeiten und einen Rock verdienen, und denn in die Kirche gehen.

Mit traurigem Herzen gab die Mutter Welligen ihr Begehren auf. Der Unglückliche! dachte sie, für die Schnapsflasche und Ehre vor seinen Saufgesellen giebt er sein leiblich Wohlergehen und seine ewige Seligkeit dahin.

Da Mine sah, daß Franz unerbittlich blieb, ging sie auch nicht mit zur Kirche. Für sie selbst war es so nöthig nicht, ihr Glück und Behagen hing nur von Franzens Besserung ab, meinte sie in ihrem Herzen.

So wandelte denn Mutter Welligen allein, ein Kind auf den Armen, und den kleinen Christoph an der Schürze hängend, zur Kirche.

Der liebe Gott hat aber ein schönes großes Haus! sagte Christoph, als sie an den kleinen Hügel kamen, auf welchem die Kirche stand. Christoph hatte durch die jetzt häufigen Besuche der Mutter Welligen manches vom lieben Gott gehört, er hörte aber auch gern, der sanften liebevollen Stimme zu, die so ganz anders klang, als das heftige Aufbrausen seiner Eltern.

Darf ich denn aber in das schöne Haus kommen? setzte er schüchtern hinzu.

Wenn Du beten kannst und fromm bist, darfst Du wohl kommen, antwortete die Alte, fromme Kinder hat der liebe Gott lieb und sieht sie gern in seinem Haus.

O beten kann ich, sagte Christoph, blieb stehen, faltete die Hände und sprach:

Ich bin klein.
Mein Herz ist rein,
Niemand soll drin wohnen
Als Jesus allein.

Hast Du denn heute Morgen, als Du aufwachtest, auch gebetet? fragte die Welligen.

Christoph stutzte. Nein, heute habe ich nicht gebetet, sagte er dann; ich wachte auf, weil sich Vater und Mutter zankten, und da hört ich was sie sagten und habe das Beten vergessen.

Hörst Du denn gern zanken?

Nein, aber ich fürchte mich.

Wenn Du nun wieder Leute zanken hörst, so mußt Du gerade beten, dann hörst Du es nicht und brauchst Dich nicht zu fürchten.

Da die Kirche noch nicht ganz aus war, setzte sich die Welligen mit den Kindern auf einen Leichenstein und fuhr in der Unterhaltung mit Christoph fort.

Daß der liebe Gott nun mein Vater ist, bin ich recht froh, sagte der Kleine, denn ich glaube es schon, daß er so gut ist wie Du sagst, und daß er mich nicht wird hungern lassen.

Wenn Du den lieben Gott nicht vergißest, vergißt er Dich auch nicht, und wenn es Dir schlimm geht, da gehe nur immer zu guten stillen Menschen und bete da Dein Gebet, so geben sie Dir auch vom lieben Gott seinem Brot.

Und gute Leute haben wohl solch liebes Gottes-Brot?

Ja die guten frommen Leute haben manch Stückchen solch Gottes-Brot, was er ihnen giebt, damit sie arme hungrige Kinder mit satt machen. Wenn Du nun groß bist und arbeiten kannst, wird Dir der liebe Gott auch von seinem Brot-Vorrath geben, damit Du, wenn fromme Kinder vor Deiner Thür beten, sie satt machen kannst.

Ja das will ich wohl, und will ihnen erzählen, was ich vom lieben Gott weiß. Und wenn unser kleiner Wilhelm erst hören kann, will ich ihm auch erzählen von dem lieben Vater, der nicht so viel zankt. Ist denn der liebe Gott aber auch Wilhelmchen sein Vater?

Wir tragen ihn ja eben in die Kirche und schenken ihn dem lieben Gott.

Ach das ist wahr, das will ich Wilhelmchen auch erzählen, denn Vater und Mutter sind nicht mitgewesen, die wissens nicht, und Lutchens und Friesens die können gar nicht vom lieben Gott sprechen, nicht so sanft und freundlich wie Du es sagst, die prahlen nur immer, und so ist doch dem lieben Gott seine Sprache nicht.

Die werden den lieben Gott bald vergessen, und darum mußt Dus dem Brüderchen schon erzählen; denn Du wirsts nicht vergessen, daß wir ihn heut dem lieben Gott geschenkt. Sieh mal den großen blauen Himmel an, immer wenn Du den siehst, mußt Du denken: das ist dem lieben Gott sein Himmel, und sieh die hohen Wolken dort über den Bäumen, immer wenn Du die siehst, mußt Du denken: das sind dem lieben Gott seine Wolken, und Sonne und Mond und Sterne sind sein, und alle Bäume, Blumen und Vögel. Und wenn Du bei allem, was Du siehst, an den lieben Gott denkst, wirst Du nie gottlos werden.

Nein, gottlos werde ich nicht. Mein Vater ist gottlos, sagt meine Großmutter, er zankt und prügelt meine Mutter immer, kämmt und wäscht sich nicht und trinkt Branntwein.

Ja Christoph, Branntewein trinken ist gottlos, und wer ihn im Leibe hat, kann den lieben Gott nicht im Herzen haben.

Ich wills auch nicht wieder thun, aber der Vater sagte, wenn ich das Brannteweinsbrot esse, werde ich stark. Das thue ja nicht wieder, Christoph, denn Branntwein ist ein Gift, das alle Menschen in das Unglück bringt; wenn Du groß bist, erzähle ich Dir mehr davon.

Jetzt kamen die Leute zur Kirche heraus und die Welligen ging mit den Kindern hinein. Christoph sah sich scheu in der Kirche um, die Sonnenstrahlen fielen hell durch die großen Fenster, die letzten Töne der Orgel klangen durch die weiten Räume, und die vielen geputzten Leute zogen langsam zur Thür hinaus. Christoph staunte, so was hatte er sich doch gar nicht träumen lassen. Und er faltete seine Hände, betete sein Gebet und dachte: Du bist dem lieben Gott sein Kind, und Wilhelmchen schenken wir jetzt auch dem lieben Gott. Und das Gebet und die kindlichen Liebesgedanken sollten nicht verloren gehen. Denn: »Ich liebe die mich lieben, und die mich frühe suchen, finden mich.«


Die Welligen wartete heute den Täufling nicht, sie mochte das Treiben der Sünde nicht mit ansehen, und Mine schämte sich schon im voraus der Aufführung ihrer Trinkgesellschaft und hatte den Vorschlag, das Kind allein zu warten, selbst gemacht.

Mine hatte sich nicht umsonst geschämt. Das Trinken, wüste Singen und Toben in der niedrigen von Tabacksdampf erfüllten Stube war unbeschreiblich, und je später der Abend wurde, je schlimmer ward es. Franz blieb nicht bei den beiden Flaschen Branntwein, die anfänglich auf dem Tische standen; im wilden Taumel suchte er den letzten Dreier zusammen und Mine mußte Branntwein dafür holen. Sie holte ihn auch, denn der Taumel hatte sie mit ergriffen, der Aufforderung der Männer und der Lutchen, auch einen Schluck zu nehmen, hatte sie nicht widerstehen können, und sie gestand ihren Verführern, daß der Branntwein ein schön Ding sei und sich die Sache so eher ansehen ließe wie nüchtern. Aber Franz, den die Betrunkenheit zur Raufsucht reizte, ward in seinen Reden immer ausfallender, und das Gelage endete in einer schrecklichen Rauferei. Mit blutendem Kopfe lief Mine zum Nachtwächter: er sollte zu Hilfe kommen, Lutchen und Friesen wollten ihren Mann todtschlagen. Als sie von Schmerz und Angst nüchtern geworden, mit dem Nachtwächter vor ihre Thür kam, da stand sie im starren Entsetzen, denn es war als ob der Teufel sein Spiel treibe: die vier betrunkenen Männer wirbelten mit Schlägen unter einander umher. Da plötzlich brachte ein Schrei sie zum Stillestand. Franz hatte den jungen Friesen vor die Brust getroffen, daß er besinnungslos liegen blieb. Mit dem Augenblick kamen die andern zur Besinnung, so daß der Nachtwächter sich getraute einzuschreiten und sie auseinander zu bringen. Den jungen Friesen trugen die andern hinweg.

Wie sah es aber am andern Morgen in dieser Behausung aus? Mine kroch aus dem Bett hervor, setzte die ganzen Gläser und Flaschen bei Seite und sah sich nach etwas Nahrungsmitteln um. Es war ihr wüst im Kopf und leer im Magen, aber da war nichts was zum Imbiß hätte dienen können. Ihr Säugling schrie, sie nahm ihn aus der Wiege und gab ihm die Brust, aber auch Christoph richtete sich von seinem Streu-Eckchen auf, sein Bett hatte er nämlich dem Brüderchen abtreten müssen, und als er sich aufgerichtet und bange in der Stube umhergesehen, sagte er zögernd: Mutter, mich hungert.

Mich auch, entgegnete Mine barsch, kannst warten.

Das Schreien des Kindes hatte Franz aufgeweckt, er kam jetzt aus dem Bett hervor mit struppigem Haar und hohläugigem Gesicht.

Na, Mine, wo hast Du das Frühstück? sagte er, indem er mit matten Knieen nach dem Tische wankte.

Ja frühstücke nur, ich glaube wir haben keinen Dreier im Hause, entgegnete Mine finster.

So schlimm ists nicht, sagte Franz etwas verlegen, und was wir nicht haben, haben andere Leute; geh zu Lutchens, der infame Kerl muß was rausrücken.

Ich gehe nicht, sagte Mine, Du hasts gestern allegemacht, Du kannst anschaffen.

Auch gut! versetzte er: willst Du hungern, denn hungere. – Bei diesen Worten untersuchte er die Schnapsflaschen in der Ecke und fand in einer noch einen Rest. Er nahm einen langen Zug. So, sagte er wohlgefällig, nun kanns an die Arbeit gehen. – Jetzt erblickte er Christoph auf seinem Lager sitzend.

O Du armer Teufel bist wohl auch noch nüchtern? rief er lachend, komm, nimm auch nen Schluck, daß Du was Warmes in den Leib kriegst.

Christoph schüttelte den Kopf und wehrte das Glas mit beiden Händen ab.

I Du Schwerenöther! sagte Franz ärgerlich, willst wohl das Maul aufsperren, oder ich will Dich –

Christoph aber schrie und wehrte sich, und als eben Franz das Kind durch Schläge zwingen wollte, traten Leute in das Zimmer und er ward unterbrochen. Es waren Gemeindediener, die ihn ins Gefängniß abholten. Franz hatte den jungen Friesen arg getroffen, der Vater hatte die Anzeige gemacht und Franz ward vorgefordert. Nach dem ersten Schrecken aber machte er großen Lärm, stritt, schimpfte und widersetzte sich, und konnte endlich nur mit Gewalt aus dem Hause geführt werden. Da schritt er mit gebundenen Händen und verstörtem Aussehen am Hause seiner Eltern vorüber. Mine, den kleinen Wilhelm auf dem Arm, ging laut weinend hinterher. Freihausens standen beide am Fenster und wandten sich im jähen Schrecken ab. Sie hatten schon von der Nachtrauferei gehört, wußten aber nicht, daß Friesen so arg mitgespielt war. Herr Gott! wenn er nur auch todt wäre! seufzte die Mutter. – Sofie war schon vor zwei Jahren an der Auszehrung gestorben.

Der kleine Christoph saß noch in seiner Ecke, als alle Leute die Stube verlassen hatten. Er hatte der Mutter Welligen Rath befolgt und bei dem Lärmen und Toben sich abgewandt und gebetet, an seinen lieben Vater im Himmel gedacht und hatte sich nicht gefürchtet. Jetzt stand er auf, wusch sich in der kleinen hellen Wasserpfütze unter dem Brunnen, und kämmte sich mit einem Restchen Kamm, das er zu finden wußte. Nun aber war er sehr hungrig, er stand vor der Thür, der blaue Himmel war so licht und klar über ihm; da dacht er: Das ist dem lieben Gott sein Himmel, und die Bäume und die Kirche, die da so schön aussieht, gehört alles dem lieben Gott. Die Gespräche mit der Welligen, und besonders der gestrige Tag mit dem Kirchgange, hatten einen tiefen Eindruck auf das Kind, dessen Leben ein liebe- und freudeloses war, gemacht.

Heute Morgen bist du nicht gottlos gewesen, dachte Christoph weiter, du hast dich gewaschen und gekämmt, hast keinen Schnaps getrunken und hast gebetet, da werden dir nun fromme Leute auch ein Stück Gottesbrot geben.

Er ging drüben in Traugott Schlüters Haus, denn den hatte ja gerade die Welligen fromm genannt. Als er in den Hausflur trat, sah er durch die offne Stubenthür Traugotts Frau mit den kleinen Kindern am Frühstückstisch. Er kniete nieder und sagte sein Gebet. Die Schlütern trat heraus, und sah theilnehmend auf das arme Kind, sie hatte vom Schicksal Franzens schon gehört.

Was willst Du denn, Christoph? fragte sie freundlich.

Ein Stückchen Gottesbrot, ich bin so hungrig.

Die Frau nahm ihn bei der Hand, führte ihn an den Tisch und gab ihm Brot und Kaffee, und als sie sich in ein Gespräch mit ihm einließ, erzählte er ihr alles, was die Mutter Welligen ihm vom lieben Gott gesagt. Gerührt streichelte sie ihm die Stirn und schenkte ihm ihre Segens-Gedanken.


Franz wurde zur Strafe für seine blutige Schlägerei ein halbes Jahr eingesteckt und Mine mußte sich während der Zeit, da sie durch ihr kleines Kind nicht viel zur Arbeit kommen konnte, kümmerlich durchhelfen. Doch nahm sie sichs nicht so sehr zu Herzen, sie bettelte im Dorfe umher und tröstete sich gar oft mit einem Glase Schnaps, der sie ihr Elend, wie sie sich vorredete, doch manchmal vergessen ließ. Als nun aber der Martinstag kam, ging die Noth von neuem los, der Miethszins sollte bezahlt werden und sie hatte keinen Pfennig in der Tasche, und da sie schon bei Franzens Hiersein das letzte halbe Jahr nichts bezahlt hatten, war Minen, im Falle sie Martini nicht wenigstens etwas abtrage, die Wohnung gekündigt. Der Hauswirth hatte sie oft genug daran erinnert, aber Mine war leichtsinnig; so lange sie noch unter Dach und Fach war, meinte sie, war es nicht nöthig, sich nach einem andern umzusehen; und als nun der Wirth den Martinsabend zu ihr in die Stube trat und nach dem Gelde fragte, lachte sie ihm ins Gesicht und zeigte die leeren Taschen. Der Wirth ward nun ärgerlich, es kam zu Gegenreden, und Mine ward so grob und ausfallend, daß der jähzornige Mann ihr Bett, Tisch und Stuhl und andere Rumpelsachen aus dem Haus und vor die Thür setzen ließ.

Jetzt zeterte Mine: sie könne doch nicht mit den Kindern unter freiem Himmel schlafen; der Wirth aber hörte nicht nach ihren Klagen und schloß die Thür zu. Die andern Nachbarn, die sie schon öfter des Abends in der Betrunkenheit auf der Straße Lärm machen hörten, hüteten sich wohl Thüren oder Fenster zu öffnen, und so sah sich Mine endlich genöthigt, zu Christoph in das Bett zu kriechen, denn die Sterne standen hell am Himmel und es war bitterkalt.

Am andern Morgen machte sie sich früh auf und lief zu Lutchens, die sollten Helfer in der Noth sein. Doch erst nahm sie ihr letztes Zweigroschenstück und holte Schnaps, um sich selbst erst zu erwärmen, und um nicht leer zu Lutchens zu kommen. Sie stellte denen nun vor, wie sie wollte bei ihnen in die Kammer ziehn; des Tages über wäre sie nicht zu Hause, und den Abend könnte sie sich mit in die Stube an den Ofen setzen, sie wollte mit ihnen essen und trinken, dafür aber ihren ganzen Verdienst mit in die Wirthschaft geben und Christophen mit Lutchens Kindern betteln schicken. Sie wurden bald Handels einig, Lutchens überschlugen es sich, daß die Kammer und der warme Ofen sie nichts weiter koste, an Kartoffeln hatten sie noch Vorrath, und für Brot mußte Christoph sorgen; sie berechneten wohl, daß des Kindes hilflose Lage der Leute Mitleid erregte. Mine war froh, so schnell ein Unterkommen gefunden zu haben, und trank lustig mit ihren Freunden die Flasche aus.

Während dessen lagen Christoph und Wilhelm immer noch unter freiem Himmel in den Betten. Christoph fand nichts besonderes dabei, er hatte schon öfter, wenn sein Vater die Mutter spät Abends geprügelt, mit ihr die halbe Nacht im Freien umhergeirrt. Behaglich sah er aus dem Bett hervor, und als sich bald ein Trupp Neugieriger um die Kinder sammelte, beantwortete er ihre Fragen ganz unbefangen.

Wie schläft es sich denn unter freiem Himmel, Christoph? fragte ein junger Bursche spaßend.

O recht gut, wenn es nicht regnet, war die treuherzige Antwort.

Willst Du denn nicht bald aufstehen? fragte ein anderer.

Ja wenn meine Mutter kömmt und das Frühstück bringt, entgegnete Christoph.

Da kannst Du lange warten, die sitzt bei Lutchens und trinkt, sagte ein dritter.

Aber mich hungert, klagte der Kleine, und Wilhelmchen hungert auch, setzte er hinzu, als das Kind in der Wiege zu weinen anfing.

In dem Augenblick drängte sich die alte Freihausen durch, sie hatte von dem Jammer gehört, und ihr Herz war nicht so hart, um von der Noth der Enkelkinder nicht gerührt zu werden. Sie nahm auf jeden Arm eines und drängte sich zurück durch die verwunderte Menge.

Die Alte mag schlecht sein, aber doch nicht so wie die Junge, hieß es da, denn die ließe wohl ihre Kinder verhungern und thut sich in Branntwein zu gute.

Ja seht mal, da steht sie in der Thür. Wie scheußlich sie aussieht! Und was war es für ein schmuckes Mädchen und gab was auf sich.

Ja, sagte da ein alter Mann, sie gab was auf ihre Kleider, aber frech und leichtsinnig und gottlos war sie immer, und jetzt steht sie da, recht wie ein Strafbild Gottes, und Ihr jungen Leute könnt Euch warnen lassen durch sie, denn der Herr kommt mit seinem Strafgericht, wenn auch nicht immer so schnell wie bei der Freihausen. Ja, sollten Eure schmucken Kleider reichen bis ans Ende: wenn Euer Herz nicht rein und gottselig ist, so wird die schmucke Hülle dort oben abfallen und Ihr werdet dastehen in Eurer Herzens-Armuth und Zerlumptheit und den Lohn Eurer Gedanken erhalten.

Die alte Freihausen setzte die Kinder an den warmen Ofen und tischte ihnen Milch, Brot und Semmel auf. Christoph folgte ihren Händen mit großer Aufmerksamkeit.

Großmutter, hast Du denn auch liebes Gottesbrot? fragte er jetzt.

Die Großmutter sah ihn fragend an, denn sie verstand ihn nicht.

Wenn Du doch armen hungrigen Kindern was giebst, so ist das liebes Gottesbrot, fuhr er fort.

Jetzt merkte sie, daß es Brot um Gotteswillen heißen sollte, es ging ihr durch das Herz, und sie nickte dem Kinde verlegen zu.

Aber dann muß ich erst beten, ehe ichs esse, und Ihr müßt auch beten, sagte er weiter. Er faltete seine Hände und als er sah, daß sein Großvater unbeweglich neben ihm in der Ecke saß, sagte er freundlich: Sieh Großvater, so faltet man die Hände. Der Alte that es nach, sein Herz war von den vielen Schlägen Gottes mürber geworden, und auch die Freihausen, die an dem langen gebetlosen Leben eine schlechte Erfahrung gemacht, streubte sich gegen die kindliche Aufforderung nicht; ach und es ward ihr so wohl dabei zu Sinne, sie drückte den kleinen Wilhelm an das Herz und Thränen standen in ihren Augen. O wenn sie doch die Gelegenheiten, wo der Herr an ihr Herz klopfte, nicht leichtsinnig hätte vorübergehen lassen! Aber der Himmelssaame fiel immer noch auf steinigen Boden und es paßten bei ihr die Worte des Evangeliums: »Und es ging bald auf, darum daß es nicht viel Erde hatte. Als aber die Sonne aufging verwelkte es; dieweil es nicht Wurzel hatte, ward es dürre.«

Mine kam, um ihre Kinder und ihren Hausrath nach Lutchens zu besorgen. Schon auf dem Wege dahin ward sie durch manche Neckereien von Vorübergehenden gereizt; und als sie an Ort und Stelle mit noch stärkeren Anspielungen hören mußte, daß ihre Kinder bei alten Freihausens wären, stürmte sie dahin. Mit heftigen Worten und Schmähreden verlangte sie die Kinder zurück, die Freihausen widersetzte sich anfänglich, und wollte der Betrunkenen die Kinder nicht geben, aber ihr Mann, der den Zank nicht länger hören wollte, that einen Machtspruch, und Mine, ein Kind auf dem Arm, eines an der Hand, taumelte ihrer neuen Wohnung zu.


Wir wollen den einzelnen Stufen der Lebensgeschichte dieser Unglücklichen nicht weiter nachfolgen und nur noch sehen, wie wir sie, nachdem abermal sechs Jahre verflossen sind, wiederfinden.

Es war spät eines Abends im Monat März, da pochte es an die Thür der Mutter Welligen. Sie stand von ihrem warmen Lehnstuhl auf, etwas unzufrieden, vielleicht noch am späten Abend gerufen zu werden; es war kalt außen und sie hatte an Gliederreißen große Schmerzen. Als sie öffnete, sähe sie das graue verwilderte Gesicht Franz Freihausens vor sich. Er forderte sie auf, zu Minen zu kommen, die in Kindesnöthen läge. Mine hatte in den letzten Jahren noch mehrere Kinder geboren, aber jedesmal waren sie vor Elendigkeit wenige Tage darauf gestorben. Das weiße Taufkleidchen hatte die Welligen noch nicht wieder nöthig gehabt.

Die fromme Frau überwand jetzt ihre Unzufriedenheit, that ihr Mäntelchen um, und folgte dem Vorangehenden. Ihr Weg führte das Dorf hindurch, in den Obstplantagen entlang nach einem einzelnen kleinen Häuschen. Es war nur von Lehm und Holzwerk und ward im Sommer von den Oebstern als Obsthütte benutzt. Im letzten Winter hatte es Franzen und seiner Familie zum Obdach gedient, weil er im Dorfe keines finden konnte. So weit war es mit ihm gekommen. Als er vor sechs Jahren von seiner ersten Gefangenschaft zurückkehrte, wohnte er erst eine Zeit bei Lutchens und die Sache ging anfangs leidlich; später ging es mit Zänkerei und Prügelei, aber sie blieben dennoch zusammen; Lutchens thaten es des Vortheils halben, den sie von Franz und Minen hatten, diese aber blieben, aus Furcht, nirgends anders ein Unterkommen zu finden. Daß sie in diesem Zusammenleben immer tiefer sanken, läßt sich wohl denken. Am schlimmsten aber war es für die armen Kinder. Christoph war zur Gesellschaft mit Lutchens ältern Kindern gezwungen, die großgeworden in der Sünde, das Herz dieses Kindes zu vergiften suchten. Und leider gelang es ihnen nur zu gut, denn die Natur ist schwach und des Menschen Dichten und Trachten ist böse von Jugend auf. Christoph hatte bald sein kleines Gebet vergessen, er sang schlechte Lieder, kaum daß er sie verstand; er hörte mit Vergnügen die kleinen Diebesgeschichten seiner Spielgenossen und nahm Theil an ihren Näschereien. Was er in der Schule lernte, regte ihm zwar das Gewissen an, aber durch das wüste und leichtsinnige Treiben im Haus ward der gute Eindruck bald wieder zerstört. In der Kirche war er nie wieder gewesen, als ein kleines Kind nahm ihn niemand wieder mit, und als er größer wurde, ging er so zerlumpt einher, daß er sich schämte mit den andern Schulkindern dorthin zu gehen. So ging ein Jahr nach dem andern hin, und er gewöhnte sich immer mehr an das wüste Treiben der Sünde. Aber Dank dem Herrn, der einen Engel den Kindern zur Seite gestellt, der sie behütet und bewacht, daß sie mit offenen Augen nicht sehen und mit offenen Ohren nicht hören, inmitten einer sündigen Umgebung doch halb bewußtlos und halb wie im Traume einhergehen und ein unheimliches Gefühl dabei empfinden; dagegen alles was lieblich und schön, sich ihrem Herzen einprägt, und eine stille Sehnsucht danach sich in ihnen regt. Wenn Christoph in einen geordneten Hausstand hineinsah, wenn er liebkosende Eltern sah, oder nun gar Schlüters, wie es vergangene Weihnachten geschah, Eltern und Kinder mit frommen glückseligen Gesichtern unter dem Weihnachtsbaum versammelt, da mußte er weinen, und er dachte an den lieben Gott, der doch einmal, als er klein war, sein Vater war, und den er ganz vergessen hatte.

Als die Welligen vor dem Häuschen stand, hörte sie Minen wimmern. Sie trat hinein, aber es war dunkel und kalt darin.

Nun Mine, wie gehts? fragte die Alte.

O ich friere und bin hungrig; nur ein bischen warme Suppe, Mutter Welligen.

Warum hast Du denn Deiner Frau nicht eine warme Suppe gemacht und hast eingeheizt? fragte diese erzürnt den Mann, der pfeifend in der Hausthür stand.

Ich weiß nicht, was der Mine einfällt, sagte dieser lachend, das ist längst bei uns keine Mode! der einzige Topf, der da ist, läuft, und der Ofen schmokt. Holz haben wir auch nicht, und wenn ich da auch noch ein Bündelchen zusammen finde, ich könnte doch nur Steinsuppe kochen.

Franz, ich sterbe! klagte Mine jämmerlich.

Ach das hast Du schon oft gesagt, antwortete der gleichgiltig.

So stecke doch wenigstens Licht an, sagte die Welligen.

Wir haben kein Oel, war die kurze Antwort.

Ach du lieber Herr Gott! seufzte die Alte. Kanns denn so weit kommen mit dem Menschen! Wo sind denn aber Eure Kinder?

Wer weiß, wo sich die Bälge umhertreiben, ich habe sie seit drei Tagen nicht gesehen, und jetzt kämen sie gerade recht mit ihren Brotsäcken, ich bin hungrig wie ein Wolf.

Franz, wenn die Kinder nicht da sind, denn mußt Du ins Dorf, sagte die Hebamme; hole Oel und Thee und eine Reihe Semmeln, ich will Euch heute Abend satt machen. – Dabei nahm sie ein Geldstück aus der Tasche, gab es ihm, und er machte sich auf den Weg.

Beim bleichen Lichte der Sterne sah sich die Welligen ihre Umgebungen genauer an. Eine alte Lade, ein mangelhafter Tisch und Stuhl waren die einzigen Möbel. In der einen Ecke war ein Strohlager, wahrscheinlich für die Kinder; Mine lag in der andern, ebenfalls auf Stroh, mit einigen Lumpen bedeckt. Sie sah so bleich aus und so schauerlich, daß die Alte sich beinahe gegrault hatte in dieser Abgeschiedenheit. Eine Viertelstunde verstrich und noch eine, und Franz kam nicht zurück. Sie wickelte sich fester in ihr Mäntelchen und dachte: die Zeit wird dir wohl nur im Warten so lang und er kann noch nicht hier sein. Da hörte sies kraspeln an der Thür, sie ging dem Kommenden entgegen, es war aber nicht Franz, sondern Christoph und Wilhelm, die, in einige Lumpen gehüllt, mit blau gefrornen Backen vor der Hausthür standen.

Christophs Gesicht überflog ein Freudenstrahl, als er die Freundin seiner Jugend vor sich sah.

Ich dachte Euer Vater wäre es, sagte diese.

Der Vater sitzt bei Lutchens und singt, entgegnete Christoph.

Und trinkt, fügten ihre Gedanken hinzu. Ja für das Geld das du ihm gegeben. – Sie gab dem ältesten Jungen ein ander Stück und prägte ihm ein, schnell das Nöthige zu holen, seine Mutter wäre krank.

Diese aber hatte das Sprechen der Kinder gehört und schrie nach ihnen, oder vielmehr nach dem Brote, das sie bei ihnen vermuthete.

Wilhelm nahm aus seiner Sackschürze einige Stücke und gab sie scheu der Mutter, weil er glaubte, sie wäre betrunken und könnte deswegen nicht aufstehen. Mit Hilfe des Kindes steckte die Welligen einige Reiser in den Ofen, und als Christoph sehr schnell wiederkam, wurde die Lampe angezündet, Thee gekocht und die von Kälte starrende Familie erwärmt und erquickt.


Einige Wochen später, es war an einem Maimorgen sehr in der Frühe, trat der Pastor Müller aus seiner Gartenthür, und wandelte weiter den Fußsteg an den Baumplantagen entlang. Mit Wehmuth sah er auf die zerfallene Hütte, die Freihausens bewohnten, und daß es ihm vom Herrn nicht vergönnt war, auf diese verlorenen Schaafe seiner Gemeinde einzuwirken. Er hatte es vielfach und mit immer neuer Hoffnung und Liebe versucht, aber immer vergebens. Kaum war er vorüber, als er ein lautes Sprechen hinter sich vernahm. Er wandte sich und sah ein Menschenkneuel vom Dorfe aus der Hütte sich nahen. An der Spitze dieses Zuges erkannte er bald die alten Freihausens selbst mit der Polizei des Dorfes. Mit einem Umwege ging er zurück und hörte nun von am Wege stehenden Leuten die Ursache des Tumultes und die letzten Lebensereignisse der jungen Freihausens. Franz war in der Nacht, wo Mine ein todtes Kind geboren, nicht nach Hause gekommen, und auch mehrere Wochen nachher nicht. Seine Familie hatte während der Zeit große Noth gelitten und sich nur durch Betteln kümmerlich hingehalten. Vor acht Tagen war er zurück gekommen, hatte Geld mitgebracht und lustig mit Frau und Kindern gelebt, ja auch seine Trinkgesellen öfters traktirt. Man hatte vermuthet, daß er von gestohlenem Gelde zehre, und diese Nacht hatte es sich bestätigt. Er war mit Minen und mit fremden Helfershelfern bei seinen Eltern eingebrochen und hatte Geld und Kleidungsstücke und zwei Hammel mit sich genommen. Dann als seine Eltern aufwachten und Lärm machen wollten, wurden sie von den fremden Leuten gebunden und ihnen der Mund verstopft. So fand sie heute Morgen der Nachbar, dem die Stille da nebenan bedenklich vorkam. Jetzt gingen sie hin, um die Diebe zu fangen. – Das aber war vergebliches Bemühn. Die Hütte war leer, und der alte Schäfer hatte eben ausgesagt, daß er die jungen Freihausens in der Nacht habe an seinem Karren vorübergehen sehen. Mit ihnen waren mehrere fremde Männer und ein Kind, so viel habe er in der Dunkelheit wohl erkennen können; da sie aber oft des Nachts sich umhertrieben, habe er sich nicht gewundert, und im Stillen nur gefürchtet, sie möchten seinem Karren zu nahe kommen.

Jetzt kam der Zug wieder an Müller vorbei. Freihausen und seine Frau schlugen die Augen nieder, als sie den Pastor sahen, und ihre Gefühle mag der Leser sich selber denken.

Die Leute im Dorf aber dankten Gott, daß sie auf diese Weise Franzen los geworden.


3. Der Enkel

Die Nacht, als Franz Freihausen mit seiner Frau und seinem jüngsten Sohne aus der Heimath geflohen, war Christoph nicht zu Hause, wie es nicht selten geschah, daß einer oder der andere der beiden Brüder sich auf ihren Bettel-Wanderungen vereinzelte. Als er am folgenden Tage zurückkam und von den Kindern des Dorfes das Verbrechen seiner Eltern hörte, war er sehr erschrocken und betrübt. Er trat in die ganz verödete Hütte. Außer den drei Möbelstücken und dem Häufchen morsches Stroh war nichts darin zu finden. Er fühlte sich unheimlich, als ob der Pesthauch der Sünde in diesem Raume wehe; die Erinnerung an die hier verlebten Szenen und das Ende seiner Eltern erfüllten ihn mit Grausen und trieben ihn hinaus. Christoph war im eilften Jahre und durch seine Lebensweise älter als Kinder seines Alters, die von Eltern-Sorge und Liebe geführt, in kindlichen Kreisen gehalten werden und ein träumendes Pflanzenleben führen.

Christoph, seinen Brotbeutel um den Nacken, wandelte am Dorfe entlang und setzte sich an einer nahen Wiese nieder, um sein Frühstück zu verzehren. Der Himmel war blau, kein Wölkchen daran, die Luft milde, und der goldne Sonnenschein lag über der blühenden Natur. Das Dorf mit dem Kirchlein auf der Höhe, von Maiengrün umkränzt, lag im tiefsten Frieden. Christoph verwunderte sich der großen Ruhe, er schaute sich um, nirgends im Feld waren arbeitende Leute zu sehen. Da fiel ihm ein, es müsse wohl Sonntag sein. Sonntag, da arbeiten die Leute nicht, da gehen sie in die Kirche und feiern den Tag des Herrn. Christoph wußte, was der Sonntag zu bedeuten hat, er war hin und wieder in der Schule gewesen, ja der Lehrer hatte sich seines Verstandes und seiner Aufmerksamkeit gefreut, und er hatte manch schönen Spruch im Gedächtniß. Er begann sie sich zurückzurufen: »Bleibe fromm und halte dich recht, denn solchen wird es zuletzt wohlgehen.« Das muß wohl wahr sein, dachte er, deine Eltern sind gottlos gewesen und es geht ihnen schlecht, und alle die schlechten Menschen, die du kennst, es geht ihnen auch schlecht, aber den frommen stillen Familien im Dorfe geht es gut. Er dachte an Schlüters und an ihr Weihnachtsfest, das er an der Thüre belauscht, und da dachte er weiter: Wenn du auch einen frommen Vater und eine fromme Mutter hättest, möchtest du auch gern fromm und gut sein. Aber hast du denn nicht einen frommen Vater im Himmel? Der liebe Gott ist ja dein Vater, und das ist ein reicher und gütiger Vater. Der blaue Himmel über dir gehört ihm, und der Wald dort und diese schönen Blumen; und die helle Kirche mit dem schlanken Thurme ist sein Haus. Jetzt erinnerte er sich des Tages, wo er mit der Mutter Welligen zur Kirche ging, und des tiefen Eindrucks, den das auf ihn machte. Mit Sehnsucht sah er nach dem Gotteshaus; Orgel und Gesang tönten jetzt zu ihm, er stand auf, schlich sich nach der Hecke, die den Gottesacker umgiebt, kroch hindurch und setzte sich auf einen Leichenstein. Als er damals mit der alten Welligen in die Kirche ging, saß er auch vorher auf einem Leichenstein, aber da war er glücklicher als jetzt, da hatte die alte Frau zu ihm gesagt: er sei ein frommes Kind, und fromme Kinder hätte Gott lieb und sähe sie gern in seinem Haus. Jetzt war er nicht mehr fromm, recht gottlos war er gewesen. Obgleich ihm sein Gewissen nie Ruhe gelassen, so hatte er doch nur in den Tag hineingelebt, und nicht daran gedacht zu beten und die Sünde zu fliehen. Und jetzt war es zu spät, er war zerlumpt und schmutzig, und niemand sah ihn freundlich an, nein, ein jeder sah ihn mit Widerwillen an und reichte ihm mit weit ausgestreckter Hand die Gabe, um ihm nur nicht nahe zu kommen. Da fing Christoph an zu weinen, er war doch gar zu verlassen in der Welt, sollte er denn so im Schmutz und in der Sünde hinleben? sollte es ihm wie seinen Eltern gehen und er endlich ewig verloren sein? Nein, nein, so sollte es ihm nicht gehen, er wollte gut und fromm und fleißig werden, wenn er auch nicht wußte wie er das anfangen sollte. Er dachte an den lieben Gott, der wird schon Rath wissen. Der Prediger hatte kürzlich in der Religionsstunde ihnen das Gleichniß vom verlorenen Sohn erklärt, und ihnen gesagt, daß sie alle mehr oder weniger nöthig hätten, in sich zu gehen, ihre Schuld zu bereuen und sich zu ihrem Vater im Himmel zu wenden, dessen Liebe und Treue sie noch nie genug erkannt, der die zurückkehrenden Herzen gütig aufnehmen würde und sie reich machen an allen Gütern, die zu ihrem zeitlichen und ewigen Heile dienen. Christoph brach in Thränen aus. O wenn der liebe Gott dich zu seinem Kinde machen wollte, wenn du nicht mehr verlassen in der weiten Welt wärest, wenn du dich so recht freuen dürftest über seine Blumen, über seine Vögel, wenn du hinein dürftest in sein Haus, und in die Häuser aller frommen Menschen, und wenn du einst dann in seinen hohen hellen Himmel kämest! Er kniete nieder, er faltete die Hände, schaute auf zu dem blauen Himmel hoch über sich und betete aus seines Herzens Grunde. – Da rauschte es neben ihm im hohen Gras und in den Blumen. Er wandte sich, es war die alte Welligen, die nach beendigtem Gottesdienste ihres seligen Mannes Grab aufsuchte und sich ihre eigne Ruhestelle ansah. Verwundert schaute sie auf das zerlumpte schmutzige Kind, das, die hellen blauen Augen zum Himmel gerichtet, vor ihr kniete.

Bist Du es, Christoph? sagte sie.

Christoph konnte vor Schluchzen keine Worte finden.

Die Alte setzte sich theilnehmend zu ihm. Sage, Christoph, wie es Dir ums Herze ist, drang sie sanft auf ihn ein.

Ach ich habe keinen Menschen in der Welt, meine Eltern sind fort, da habe ich den lieben Gott gebeten, daß er wieder mein Vater ist.

Wenn Du das gethan hast, Christoph, dann kannst Du auch getrost sein, es wird Dir wieder gut gehen.

Aber was soll ich jetzt anfangen? Ich möchte nicht mehr betteln, ich möchte lieber arbeiten.

Komm, ich gehe mit Dir zum Schulzen, der sucht für Dich ein Unterkommen, daß Du arbeiten und in die Schule gehen kannst.

Sie gingen beide fort, und weil die Kirche am Ende des Dorfes lag, in der Gegend, wo die alten Freihausens wohnten, mußten sie vor deren Haus vorbei. Beide Eheleute standen in der Thür und die Welligen mußte, als sie dieselben aus der Ferne sah, daran denken, daß der natürlichste Ort für Christoph bei seinen Großeltern wäre. Sie wußte recht gut, daß so verlassene Kinder meistens vom Schulzen zu Familien gegeben wurden, die am wenigsten Kostgeld verlangen, daß dies aber meistens Leute sind, die es des Vortheils wegen thun und durch Arbeit und Bettelei der Kinder sich einen Nebenerwerb schaffen. Hier aber würde er wenigstens nicht abgehalten sein zur Schule und Kirche zu gehen, – die Alten hattens schlimm genug an ihren eigenen Kindern erfahren – und vielleicht konnte Christophs weicher Sinn auch noch den abgestumpften Großeltern zu einem Segen werden. Diese Gedanken waren ihr schnell durch den Kopf gegangen, als sie mit dem Knaben an die alten Leute herantrat. Aber diese wandten ihre Blicke erzürnt von ihr ab, und der Mann antwortete auf ihren Vorschlag mit der ganzen Bitterkeit seiner Stimmung. Er sah in Christoph Franzens Ebenbild, und seine letzten Tage nur mit neuem Aerger erfüllt; er wollte mit der ganzen Welt nichts zu thun haben, und am wenigsten mit dem Lumpenjungen. Auch seine Frau stimmte darin ein, der schmutzige widerwärtige Knabe hatte ihren Abscheu erregt.

Wenn Ihr Eure Schuld verdoppeln wollt, so thut wie Euch gefällt, schloß die Welligen, aber so wie die Seelen Eurer Kinder Euch einst verklagen, so wird es auch die Seele dieses Kindes thun, wenn sie jetzt in schlechte Hände fällt und dadurch dem Verderben anheimfällt.

Freihausens hörten das unbewegt und die Welligen wandte sich fort. Aber Christoph weinte bitterlich: Mich wird niemand haben wollen, und ich will doch gut und fromm sein, sagte er. Da ging plötzlich der Alten ein Gedanke durch das Herz, und so warm und so gewaltig, daß sie fühlte, er komme von Gott. Das Kind soll bei mir bleiben und ich will mit des Herrn Hilfe eine Seele für den Himmel gewinnen.

Schon war sie dem Schulzenhause ganz nahe, aber sie kehrte um und ging nach ihrem kleinen Häuschen zu. Vor der Thür stand sie still.

Christoph, sagte sie feierlich, der liebe Gott hat Dein Gebet erhört, er will Dir ein Obdach geben, er will Dir auch eine Mutter geben, die Dich mit treuer Liebe lieben, die Dich leiten und führen und zu allem Guten anweisen will. Nun prüfe Dein Herz und Deinen Willen, ob Du mit Ernst willst streben ein Kind Gottes zu sein, zu wachen über Dein Herz, daß es sich von jedem bösen Gedanken wende und durch Flehen und Gebet vor Gott Kraft zum Guten erlange.

Christoph sah sie durch Thränen an und nickte.

Dann will ich Deine Mutter sein, und mit mir hier im Häuschen sollst Du wohnen.

Christoph aber weinte noch mehr und konnte kein Wort sagen.

Sie führte ihn auf den Hof, kämmte und wusch ihn, und sann darauf, ihn frisch zu kleiden. Ihre Tochter hatte einen Knaben, der im gleichen Alter mit Christoph war, sie hätte ihm wohl ein abgelegtes Hemd und eine Hose geben können, aber die Mutter Welligen scheute sich hinzugehn. Konnte ihr Vorhaben vor der Welt nicht als ein thörichtes gelten? Sie, eine alte schwache Frau, wollte einen verwahrlosten und in der Sünde aufgewachsenen Knaben erziehen? Mit Gottes Beistand: ja! war die Antwort ihres Herzens. – Sie, die jetzt von Alter und Krankheit bedrückt, kaum selbst ihr täglich Brot verdienen konnte, wollte jetzt noch einen jungen hungrigen Magen satt machen? Gottes Segen soll es ja thun, sprach wieder ihr Herz. Ja, ja, sprach es lauter und lauter, es ist nicht dein Werk, es ist des Herrn Werk, nur muthig darauf los, er hat noch niemand verlassen, der auf ihn gebaut hat, und niemand getäuschet, der im Glauben sich ihm zugewandt. Was geht mich die Klugheit der Menschen an? sie wird an Gottes Rathschlägen zum Spott; was geht mich ihr Schmähen an? des Herrn Liebe wird alles mir versüßen. – So ging sie mit rüstigen Schritten zur Tochter, und theilte ihr, erfüllt vom Geiste des Herrn, ihr Vorhaben und ihre Bitte mit.

Anna Schlüter war auch fromm und von weichem Herzen, sie wurde von der frommen Begeisterung ihrer alten Mutter ergriffen, und gab ihr, wenn auch noch vor Verwunderung wortkarg, die gewünschten Sachen. Christoph war bald in reinlichem Hemd und ganzer Hose, gewaschen, gekämmt und geschoren, wie Nacht in Tag verwandelt. Ein Gesangbuch in der Hand wandelte er mit seiner Pflegemutter zur Nachmittags-Kirche, und alle, die ihn sahen, kannten ihn nicht, und fragten sich untereinander neugierig nach dem fremden Kinde.

Anna Schlüter aber ward daheim über der Mutter Thun das Herz doch schwer, besonders als sie es ihren Hausbewohnern mitgetheilt und diese ihr mit Worten der Welt viel Bedenken gemacht hatten. Auch Traugott sah nur eine Thorheit darin und beide nahmen sich vor, die Mutter auf andere Gedanken zu bringen.

So geht es vielen Menschen. Wenn sie auch ihr Herz zu Gott wenden und begehren auf den Wegen des Herrn zu wandeln: ihre Kraft reicht gerade so weit, wie ihnen für das alltägliche Leben noth thut; aber nun zu ungewöhnlichem Thun, zu etwas Außerordentlichem sich Kraft zu erbitten, fehlt ihnen der Muth, und sie hören lieber trostlos der armseligen Menschenweisheit zu, als sich an Gottes Reichthum und Gnade zu wenden, der dem Gläubigen immer offen steht und von dem er nehmen kann mit vollen Händen. O wenn wir immer bedächten, wie gern es der Herr sieht, wenn wir von ihm seinen Segen erflehen, und so mit rechter Zuversicht und ohne allen Zweifel auf ihn losgehen, und ihn so recht bestürmen! Es sind nur die Dornen des Unglaubens, die den Baum des Glaubens zurückhalten, daß er nicht aufsprießt hoch in den Himmel hinein, und Besitz nehme von allem Reichthum und aller Herrlichkeit, und alles sein nenne.

Nach der Kirche kam Anna zu ihrer Mutter, und da diese sah, daß ihre Tochter etwas auf dem Herzen hatte, hieß sie Christoph hinausgehen.

Mutter, hob Anna jetzt entschlossen an, – denn sie war eine kluge Frau und hatte ihre Beweggründe und Einwände sich vorher ordentlich zurecht gelegt, – Mutter, ich hatte heute Morgen auch nichts gegen Euer Vorhaben, weil das Mitleid mit dem armen Jungen mein Herz weich gemacht; aber, verständig überlegt, will uns doch die Sache als eine Thorheit erscheinen.

Fahre fort, mein Kind, sagte die Welligen freundlich, als Anna inne hielt. Ich höre Dich gern an, weil ich weiß, daß Du aus Liebe für mich sprichst.

Ja, das wollte ich gerade sagen, fuhr Anna fort, daß es uns für Euch bange ist, Ihr seid zu alt zu solchem Unternehmen.

Wollt Ihr den Jungen vielleicht nehmen? fiel die Mutter ihr in die Rede.

Du lieber Herr Gott, nein! seufzte Anna, wir wissen selbst kaum ein und aus, und denn wär es eine Sünde, solch ein räudiges Schaaf unter unsere Heerde zu bringen; ich denke, wenn wir unsere Kinder mit Sorgen und Gebet für den Herrn erziehen, so haben wir genug gethan.

Ja mein Kind, entgegnete die Mutter, ich weiß, daß Du es aufrichtig mit dem Herrn meinst und würdest ein Opfer für ihn nicht scheuen, und ich bin ganz Deiner Ansicht, daß Christoph unter Deinem Häuflein nicht gut aufgehoben wäre. Du hast nicht Zeit, sein an die Sünde gewöhntes Herz zu überwachen und er möchte Deinen Kindern schaden. Darum gerade, meine ich, muß er allein wo sein, und jemand muß Zeit haben, sich um sein Thun und Vornehmen genau zu bekümmern. Und was habt Ihr denn dagegen, wenn ich das Amt übernehme?

Ihr seid zu alt, Mutter, Ihr habt keine Kraft zu diesem Amte.

Ja wenn ichs mit meiner Kraft wollte unternehmen, lächelte die Mutter; ich rechne auf eines andern Kraft. Du bist jung und rüstig, brauchst Du aber des Herrn Kraft bei Deinen Kindern nicht?

Was sollte ich ohne ihn anfangen! sagte Anna mit aufrichtigem Herzen.

Nun, Anna, Du bittest den Herrn um die Kraft, die Du nöthig hast, und ich bitte den Herrn um die Kraft, die ich nöthig habe. Glaube nur, es kömmt ihm nicht auf eine Hand voll mehr oder weniger an aus dem Reichthum seines unerschöpflichen Segens.

Ja, Mutter, da hast Du recht, sagte Anna etwas kleinlauter, aber der Junge wird Dein Alter beunruhigen, und wir meinten, Du hättest genug geschafft und gethan, und möchtest nun Deinen Lebensabend in Frieden genießen.

Meinst Du, ich könnte zu viel thun, und könnte, wenn der Herr mit einer Bitte mir in den Weg kömmt, sagen: Aber Herr, ich habe Dir gedient mein Lebenlang, so laß mich nun ruhen auf diesen meinen guten Werken? Nein. Ich werde sagen: Du lieber Herr, ach könnt ich Dir doch mehr thun! Du hast mein Leben mit Segen und Gnade überschüttet, und ich armes schwaches Wesen konnte so wenig für Dich thun. Und da werde ich dankbar jede Gelegenheit ergreifen dem Herrn zu dienen, sollte es auch den Frieden meines Alters kosten, wie Du da sagst, Anna. Ich weiß zwar nicht, wie das sollte meinen Frieden rauben, wenn ich im Weinberge des Herrn arbeite.

Deinen innersten Frieden kann es wohl nicht kosten, entgegnete Anna, aber die Ruhe Deiner Tage und Deines Lebens. Denn glaube nur, Dein Thun an Christoph ist verloren; es haben wohl weisere Leute als wir die Erfahrung gemacht, daß, wo die Sünde so mit der Muttermilch eingesogen, und so die Jugend in der Gewohnheit der Sünde vergangen ist, da ist keine Rettung. Es mögen wohl eher Feigen wachsen an den Dornen und Trauben an den Disteln, als gute Früchte aus dem verdorbenen Herzen eines solchen Kindes.

Bei Gott ist kein Ding unmöglich, sagte die Mutter feierlich: willst Du den Stab brechen? »Wer will verdammen? Christus ist hier der gestorben ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns.«

Anna aber fuhr eifrig fort: Aber, Mutter, des Herrn Rathschluß ist wunderbar, er läßt einzelne Menschen den Weg der Verdammniß gehen, vielen Hunderten zum Bild des Schreckens und der Warnung, und Christoph ist den Weg gegangen und ist verdorben bis auf den Grund.

Nein, das ist er nicht, fiel die Mutter ein, und erzählte ihr Zusammentreffen mit ihm auf dem Kirchhof und sein Wesen den ganzen Tag. – Aber je mehr Anna fühlte, daß ihre Klugheit der Welt der göttlichen Einfalt gegenüber den Kürzeren zöge, je mehr wehrte sie sich und behauptete, das sei alles von Christoph Verstellung gewesen. Und wenn Ihr es wollt, so will ich sein Inneres vor Euch aufdecken noch in dieser Stunde. Ich bin gewiß, er wird meine Probe nicht bestehen.

Wir beten zwar: »Führe uns nicht in Versuchung,« sagte die Mutter, aber ich will Dich nicht abhalten, das Kind zu versuchen, und ich habe den festen Glauben, der Herr werde ihn auch erlösen von allem Uebel.

Anna aber, froh ihrer Erlaubniß, nahm eine Kupfermünze, ging in die Küche, legte sie auf die Seite des Feuerheerdes, und rief nun Christoph, der im Garten hinter dem Haus war, zu, er solle die Kohlen auf dem Heerd etwas anschüren und wenn der Kaffee heiß sei, die Mutter rufen.

Christoph ward dadurch in einem Gespräch, das er mit Lutchens Wilhelm, seinem früheren Gefährten, am Zaune hielt, unterbrochen.

Bei der alten Betschwester hast Du Dich verkrochen? hatte ihn dieser gefragt.

Warum denn nicht? antwortete Christoph verlegen.

Weil ich bei der nicht todt sein möchte, fuhr Wilhelm fort. Viel Arbeit, viel Ermahnungen und wenig Essen und wenig Vergnügungen, das wirst Du genießen. Was ist denn jetzt Dein Sonntagsvergnügen? stehst hinter dem Zaun und zählst die Sperlinge die drin zwitschern. Kuck uns mal an: wir spielen da auf dem Anger mit Knöpfen; ich habe schon 28 gewonnen und für einen Sechser habe ich schon verkauft; jetzt will ich Semmel dafür holen, wenn Du noch ein Weilchen stehst, sollst Du eine von haben. Willst Du?

Christoph bejahte mit lüsternem Munde.

Aber die eine Freundschaft ist der andern werth; wenn Du was schnappen kannst, denke an mich. Mußt nicht mit großen Dingen anfangen, daß die Alte nicht Lunte riecht. Ein Kneulchen Garn, oder ein Bischen Zwirn, oder eine Nähnadel – ich nehme alles und gebe Dir denn was für den Schnabel.

Christoph versprach nichts, aber Nein wollt er nicht sagen, die frische Semmel hatte seinen Appetit gereizt, er dachte, die Semmel kann er immer noch rausrücken und du brauchst ihm nichts dafür zu stehlen.

Hier rief ihn Anna Schlüter und er machte sich eilig auf den Weg, aber er hörte noch, daß Wilhelm ihm nachflüsterte: Schüre und denn komm wieder.

Vergnügt ging er an seine Arbeit. Erstens war es ihm eine Unterhaltung, und dann hoffte er, daß von dem Kaffee für ihn ein Theilchen abfallen würde, denn er war sehr hungrig. Als er die Kohlen zusammengeschürt und nach einem neuen Stückchen Holz griff, erblickte er dicht dabei das Geldstück halb von Staub und Asche bedeckt. Lüstern griff er danach und sein Herz schlug hoch erfreut, als er es in den Händen hielt. Nun brauchte er der alten Welligen nichts zu stehlen, er konnte Wilhelm das Geldstück geben und die Reihe schöner frischer Semmeln war sein Theil. Er dachte nicht daran, daß dies Geld nicht ihm gehörte; die Gewohnheit, alles, was ihm zufällig in den Weg kam, als sein zu betrachten, – und noch dazu Geld, dem der Name seines Angehörigen nicht an der Nase stand, wie seine Mutter zu sagen pflegte, – war so mit ihm verwachsen, daß er auch jetzt nichts als Freude empfand. Als das Feuer brannte, schlich er leise zur Küche hinaus und wollte so durch den Hausflur in den Garten zu seinem Gefährten. Da hörte er im Vorübergehen die leise singende Stimme seiner Pflegemutter. Er stutzte, kehrte um, es war ein lichter Gnadenblick, der in seine Seele fiel. Was willst du doch thun? dachte er, in Gemeinschaft bleiben mit gottlosen Menschen und auf ihren Rath hören? Willst du nicht Gottes Kind werden? und willst du nicht deiner frommen Pflegemutter zu Willen und Liebe leben? Gehe, trag ihr das Geld hin und sage ihr alles. – Aber Wilhelm wartet dort mit den Semmeln und du bist hungrig, auch weiß sie nichts von dem Geld, hat es wohl längst vergessen. – Er schwankte und kämpfte. – Wenn du unschlüssig bist, welchen Weg du gehen sollst, so bete, hatte die Mutter Welligen zu ihm gesagt. Da kniete er nieder, durch das kleine offene Fensterchen schaute der blaue Gottes-Himmel wie ein treues liebendes Auge zu ihm hernieder, und er betete, der Herr möge ihm beistehen, er sei so schwach und möchte doch gut und fromm und sein Kind sein. Und als er betete, ward es ihm so leicht um das Herz, so freudig und glückselig; es war ihm kein Kampf, nein ein Vergnügen, die Semmel aufzugeben und mit gutem Gewissen und mit dem Gelde in der Hand vor die Pflegemutter zu treten. Darfst du denn aber sagen, daß du mit Wilhelm gesprochen, daß du sein Anerbieten angenommen hast? und darfst du ihr deinen Kampf in den letzten Minuten sagen? Nein du darfst nicht, sie würde böse werden, sie würde dich vielleicht fortjagen. Aber erst heute Morgen hast du ihr das Versprechen gegeben, ihr die geheimsten Gedanken deiner Seele mitzutheilen; die Ueberwindung die es dich kostet ist das Opfer der Gegenliebe, das sie von dir für ihre Liebe fordert. Und so stand er kämpfend in der Küchenthür.

Wie sah es aber während dessen in der Stube aus? Anna trat, nachdem sie Christoph gerufen hatte, triumfirend in die Stube und erzählte der Mutter, wie sie ihn mit Lutchens Jungen hinter dem Zaun habe reden hören.

Aber Anna, sagte die Mutter traurig, Du thust ja gerade, als ob du Freude am Verderben des armen Jungen hättest. Weißt Du, daß das nur der Teufel Geschäfte ist? Du solltest eine Fürbitte für ihn zum Himmel schicken, daß er den Stricken, die Du ihm gelegt, glücklich entgehe.

Anna aber ward beschämt und sagte: Mutter, ich wünsche ja von Herzen, daß ich unrecht hätte.

So höre ichs gerne und nun paß auf, ich will einen Vers aufschlagen im Gebetbüchlein, mein Herz ist bange und möchte sich gern trösten lassen. Sie schlug aber auf und las:

»Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubet. Der Glaube ist die Hauptsache und das Auge, ja das Auge im Auge des ganzen Christenthums, an dem liegt alles. So viel Glaube, so viel Kraft, so viel Frucht. Und doch sind wir zu nichts ungeschickter als zum Glauben, wenn wir ihn auch schon haben. Darum haben wir Lebenslang um nichts mehr zu bitten, als um Glauben. Ach Herr, gieb und stärke ihn!

Der Glaub ist eine starke Hand
Und hält dich als ein festes Band;
Ach! stärke meinen Glauben!
Im Glauben kann Dich niemand mir,
Im Glauben kann mich niemand Dir,
O starker Jesu, rauben,
Weil ich fröhlich Welt und Drachen kann verlachen
Und die Sünden durch den Glauben überwinden.
Der Glaube bricht durch Stahl und Stein
Und faßt die Allmacht in sich ein.
Wer will euch übermeistern?
Was ist dem Feuer leichtes Stroh?
Der Satan flammt in lichter Loh,
Mit allen Gegengeistern.
Schaut in der Einfalt nur auf mich,
Ich führ die Meinen wunderlich
Durch meine Allmachts-Hände;
Doch endet sich ihr Leid und Streit
In dem Triumph der Herrlichkeit,
Und nimmt ein herrlich Ende.«

Die Welligen, Thränen in den Augen, reichte das Buch ihrer Tochter und sagte: Nun schlage Dir auch einen Spruch auf zu Deiner Stärkung, und Du, Herr, verzeihe meiner Schwachheit und Kleingläubigkeit; aber ich glaube, – ja, ich glaube.

Anna schlug auf und las:

»Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. – Sie bekehren sich, aber nicht recht, sondern sind wie ein falscher Bogen. Der bekehret sich recht, der sich auch von seiner inneren Schooß-Sünde und liebsten Lust bekehret, das ist, bis zu Christo, um dessen willen man auch das Liebste lassen und überwinden kann. O, prüfe dich ja genau, und betrüge dich nicht!

Denke nicht, du bist bekehret, weil du ja von Kindheit an
Alles Gute gut genennet, unter Frommen bist erzogen,
Und dir vieles angewöhnt; oder weil dich jederman
Schon für gut passiren läßt. Dies hat manchen schon betrogen,
Wie auch dieses, wenn man meint: so man einmal angefangen,
Oder doch beweget wird, o so sei schon alles gut.
Nein; du mußt auch hier zum Sieg und zum Durchbruch noch gelangen;
Die Bewegung macht es nicht, kämpfen muß man bis aufs Blut.
Halt dich nur nicht für bekehrt, so wirst du dich nicht betrügen,
Suche noch erst anzufangen, reiß dein eignes Bauwerk ein.
Das im Tode nicht besteht, kämpf und fleh, so wirst du siegen,
Und alsdenn nicht mehr, wie vor, der beinah ein Christ nur sein.«

Anna schwieg nachdem sie gelesen, und bewegte die Worte in ihrem Herzen. Sie mußte es sich schon im Innersten gestehen, daß sie mit einem recht unkindlichen und unhimmlischen Sinn der Mutter Vornehmen beurtheilt. Die Mutter aber hatte, während Anna las, leise einen Vers gesungen, und sagte, nachdem Anna das Buch bei Seite gelegt: Jetzt noch für meinen armen Christoph! und schlug auf:

»Führe uns nicht in Versuchung. Gott ist getreu, der euch nicht lasset versuchen über euer Vermögen, sondern machet, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihrs könnet ertragen.

Gott ist getreu, der über meine Kräfte
Mich armes Kind noch niemals hat versucht;
Vielleicht geschiehts, daß er die Angstgeschäfte
Des Trauergeists noch diesen Tag verflucht.
Mein Herz, du sollst es sehen, was dir für Hilfe sei
In kurzer Zeit geschehen: Gott ist getreu

Schon bei den letzten Worten hatte sich die Thür geöffnet und Christoph stand daran. Er sah so licht und froh aus, daß die Mutter Welligen, als sie sich zu ihm wandte, den Geist des Herrn aus seinen Augen leuchten sah. Er reichte ihr schüchtern das Geldstück. Da konnte die Alte nichts sagen vor Rührung und Thränen, und Anna stand auch und wischte sich mit dem Schürzenzipfel die nassen Augen, streichelte dem Knaben die Stirn und reichte der Mutter reuig die Hand.

»Alle Dinge sind möglich dem der da glaubet: Gott ist getreu,« – flüsterte diese. Christoph erzählte ihr seinen Kampf und des Herrn Hilfe, und da sangen sie alle drei, freudig erfüllt von dem Geiste, der heute so unverkennbar bei ihnen geweilt, das schöne Lied:

Laß, o Jesu! mir auf Erden
Meinen Ruf und Gnadenwahl
Alle Tage fester werden,
Daß ich mit der Deinen Zahl,
Die ihr schönes Erbtheil können
Ewig, unverwelklich nennen,
Bis zu Dir, durch Gottes Macht,
Werd im Glauben durchgebracht.

Bei Dir, Jesu! will ich bleiben;
Halte selbst Dein schwaches Kind,
Bis durchs selge an Dich Glauben
Seel und Leib geheiligt sind;
Alle Noth will ich Dir klagen,
Alles Dir ins Herze sagen.
Bis Du endest meinen Lauf:
Und dann hört mein Weinen auf.


Doch mit diesem ersten schönen Siege waren die Kämpfe nicht vorüber; ja sie gingen erst recht an, denn die Sünde, die Christophen schon als ihr sicheres Eigenthum betrachtet, ließ ihn so leicht nicht wieder los. Die Pflegemutter aber ward nicht muthlos und ging dem Sohne immer voran. Sie hegte das Pfund des Glaubens mit fester Treue; je größer die äußere Noth, je mehr Gnade und Segen erflehte sie vom Herrn.

So war der Sommer und Winter in Freud und Leid vergangen. Mit dem Frühjahr regte sich die Unruhe in Christoph mächtiger als je. Er hatte bei der alten Pflegemutter einen gar einförmigen Winter verleben müssen. Wenn er auch zwischen den Schul- und Arbeitsstunden sich zuweilen vor der Thüre auf Schnee und Eis herumtummeln durfte, so hörte er doch in der Schule mit Sehnsucht von den Irrfahrten und lauten Vergnüglichkeiten seiner früheren Genossen.

Du dummer Junge, sagte Lutchen Wilhelm öfter zu ihm, konntest es so gut haben in der Welt und mußt nun wie im Gefängniß leben. Aber wenn Du vernünftig wirst, will Dich meine Mutter immer noch nehmen. Du bist zwölf Jahr und groß und stark, kannst arbeiten beinahe wie ein Großer, im Sommer auf dem Felde, im Winter in der Fabrik; das soll schon ganz anders werden. In die Schule gehen wir bloß, wenn wir Lust haben, die Bettelfahrten sind auch ein Vergnügen, und trocken Brot mit Salz brauchst Du bei uns auch nicht runter zu würgen. Sieh, ein tüchtig Stück Wurst oder Speck, das mundet besser.

Christoph, obgleich er seine Gedanken verschwieg, hörte doch mit schwerem Herzen zu. Alle die Vorspiegelungen waren lockend und sein Salzbrot wollte ihm bei Wilhelms fettem Zubrot nicht recht schmecken. Oft kam er verdrießlich nach Hause, saß mit undankbarem Herzen beim einfachen Mittagbrot, und hatte auf die Fragen seiner Pflegemutter nur kurze Antworten. Aber diese suchte ihn immer wieder mit doppelter Liebe und Ermahnung zu gewinnen und fest zu machen.

Es war eines schönen warmen Abends im Monat April, da stand Christoph und grub das Kartoffelland für seine Pflegemutter. Das Vesperbrot war etwas knapp gewesen, er war sehr hungrig, und wagte doch nicht vor dem Feierabend seine Arbeit einzustellen und nach Hause zu gehen. Da kamen Lutchens Kinder und noch einige ähnliche Genossen lautlachend und spaßend den nahen Weg entlang. Christoph ging in der Furche hinunter, um doch wenigstens mit ihnen zu sprechen und eine kleine Zerstreuung zu haben.

Nu, Du alter Schotentoffel! sagte das eine Mädchen neckend zu ihm, hast Du denn für Dein alt grau Hexchen genug gethan, daß Du den Spaten schon bei Seite legst?

Christoph fragte verdrießlich, ob es nicht bald Feierabend sei.

Ach was Feierabend! entgegnete das Mädchen: wir gehen nach Mörsdorf, da ist große Bauernhochzeit. Komm mit, Christoph!

Der arme Packesel darf nicht mit, lachte Wilhelm; ehe ich aber solch Leben führte, wollte ich lieber ins Gras beißen, fügte er hinzu.

Der Haufe Kinder stand jetzt vor Christoph.

Du, Christoph, hast Du nicht mal Appetit auf Reisbrei, oder giebts den bei Euch alle Tage? begann das Mädchen wieder. Wir wollen gehörig lecken, die Bauerfrau hats schon versprochen, und Kuchen giebts auch, und manchen Dreier. Frickens Heinrich heirathet die Schulzen-Tochter, die habens beide dicke. Komm, Christoph, vergiß mal Deinen Hunger und Kummer!

Ich darf nur nicht, sagte Christoph kleinlaut.

Ei was darf nicht! wenn Du es thust, denn darfst Dus auch. Du machst der Alten Lurren vor, wirst es doch nicht ganz und gar verlernt haben. Sagst erst, Du hättest uns ein Stückchen begleiten wollen, denn hättest Du den Reisbrei gerochen, und hättest nicht umkehren wollen, und hättest ihr auch wollen ein Stückchen Kuchen mitbringen. Was ist denn das so große Sünde, wenn Du einen Abendspaziergang machst und bei der Hochzeit vorsprichst? Das thun wohl noch ganz andere Kinder als Du.

In dieser Weise sprach sie noch mehr und Christophen kam das Unternehmen selbst nicht mehr wie ein Unrecht vor. Einmal muß der Mensch doch ein Vergnügen haben, dachte er, und du willst nicht stehlen und nicht betteln und auch nichts Ungehöriges thun.

Was soll denn aber mit meinem Spaten werden? sagte er abwehrend und um Zeit zu gewinnen.

Das ist das wenigste, entgegnete Wilhelm; den buddeln wir in die Furche, da findet ihn kein Dieb und kannst ihn heute Abend wieder nehmen.

So geschah es und Christoph ging mit. Zwar sprach sein Gewissen laut: Laß ab, laß ab, es führt dich in das Verderben; aber das Vergnügen winkte so lieblich, und anstatt ernsthaft sich Gottes zu erinnern, holte er seine Schein- und Beschönigungsgründe hervor, und suchte es zu bezweifeln, daß der Herr wirklich eine so strenge Befolgung seines Gesetzes verlange. Wo der Zweifel ist, ist aber gleich der Teufel dahinter; Christoph hörte und sah bald nichts mehr als das wilde lustige Treiben der Kinder, und war bald eben so wie sie.

Ihre Erwartungen wurden nicht getäuscht. Die Hochzeitenmutter gab großmüthig den Bettelkindern nicht allein Reisbrei und Kuchen, sondern auch kleine Münze, und Christoph, als der best und ordentlichst Aussehende, kam bei allem am besten fort. Die Zeit war aber drüber hingegangen, es war dunkel geworden und Christoph trieb zur Heimkehr. Nicht also, sagten die Größeren: es ist hell, der Mond scheint, wir sind einmal beim Vergnügen, das Geld dürfen wir nicht heimtragen. Wilhelm sammelte alles zusammen, auch Christoph durfte seines nicht zurückbehalten und nun wurde in einer mitgebrachten Flasche Schnaps geholt. Vor einem Wäldchen halben Weges lagerten sie sich und begannen zu trinken und zu singen, ganz wie sie es von ihren Eltern gelernt. Daran auch mit theilzunehmen, ließ sich Christoph aber nicht bewegen. Der erste Rausch des Vergnügens war vorüber, er hatte Kuchen und Reisbrei genossen, sein Hunger war gestillt, und dennoch fühlte er kein Behagen, sondern dachte mit Schrecken an die Folgen seines Ungehorsams; ja als die Kinderschaar, berauscht vom Branntwein, in wilder Lust durcheinander jubelte, fühlte er einen Abscheu gegen dies Treiben und sehnte sich nach seiner gewohnten Ruhe. Eine Ruhe, die so viel wahrhaft frohe Stunden in sich eingeschlossen, Stunden, wo er recht mit freudigem Gewissen und in seinem Gott vergnügt sein konnte, – was ist das für ein Vergnügtsein gegen dies wilde Toben der Sünde!

Heimlich schlich er sich von den Kindern und eilte dem Dorfe zu, das längst im nächtlichen Frieren schlummerte. Da stand er nun vor dem kleinen Häuschen der Pflegemutter; mit klopfendem Herzen ging er von einer Thür zur andern, alles war fest verschlossen und das Fensterchen, das ihm oft so traulich hell gewinkt, sah ihn trüb und dunkel an. So spät hatte er aber auch noch nie davor gestanden, und noch nie mit dem schuldbewußten Herzen eines Verbrechers. O wie theuer mußte er den kurzen Rausch des Vergnügens bezahlen! Mit Furcht dachte er daran, seiner Pflegemutter wieder unter die Augen zu treten; er setzte sich auf die Bank vor der Hausthür und schaute gedankenvoll zu den Sternen auf. Sie leuchteten mild und freundlich zu ihm nieder. Da schwand mit einem mal die Furcht aus seinem Herzen und ein tiefer Schmerz nahm ihre Stelle ein: Schmerz über seinen Abfall von dem Herrn, der doch so unendlich freundlich sich ihm hingegeben, Schmerz über die Undankbarkeit gegen die Pflegemutter, die ihm zu Liebe die Ruhe und Behaglichkeit des Alters darangesetzt. So wie er sich jetzt dem Herrn in Reue und neuer Liebe hingab, so sehnte er sich auch der Pflegemutter seine Reue und den Zustand seines Herzens mitzutheilen. Unter Thränen schlief er ein.

Die Mutter Welligen aber schlief nicht, sie lag in ihrer Kammer und die Sterne mußten ihrem kummervollen Herzen Trost zusprechen. Als Christoph zur gewöhnlichen Zeit nicht zurückgekommen war, stand sie erwartungsvoll in der Thür und forschte nach ihm. Als es nun gar dämmerig ward, machte sie sich auf den Weg, um nach ihm zu sehen. Er war aber nicht auf dem Feld und nicht auf seinen gewöhnlichen Spaziergängen. Beim Rückweg fiel ihr ein, ob er wohl nicht könnte bei seinen Großeltern eingekehrt sein, – die waren in der letzten Zeit freundlicher gegen ihn geworden, hatten ihn hin und wieder angeredet und sogar in ihr Haus genöthigt. Als sie zu Freihausens eintrat, war es schon ganz dunkel geworden und beide saßen bei der Lampe.

Ich dachte Christoph wäre wohl hier, sagte die Welligen, betrübt, sich in ihrer Hoffnung getäuscht zu sehen.

Christoph, lächelte der alte Freihausen höhnisch, der ist ganz wo anders. Ich habs Euch gleich gesagt, Mutter Welligen, Ihr werdet an dem Jungen nichts Gutes erleben, die Schlechtigkeiten brechen wieder durch, und da haben wirs.

Die Welligen stand wie auf Kohlen und wollte hören was sie von dem Pflegling wüßten, und beide erzählten nun mit bitteren Anmerkungen Christophs Ausreißen mit Lutchens und das Saufgelage im Walde: denn Freihausen war spät Abends vom Steinbruch gekommen, und hatte den Saus und Braus aus der Ferne gesehen. Ich wollte aber nicht in ein Wespennest greifen, schloß er die Rede, da ist auch nichts zu helfen, da ist Hopfen und Malz verloren.

Und ich rathe Euch, fuhr die Freihausen fort, gebt den Jungen auf: früher oder später, – Ihr müßts doch, die Lutchen hat es einmal auf den Jungen abgesehen und in seinem Herzen ist er doch dieser Lebensweise gewogen; mit Güte kriegt Ihr ihn auch nicht wieder, und wenn Ihr ihn wieder habt, macht er Euch so viel Aerger, daß Ihr froh seid, wenn Ihr ihn bei der ersten besten Gelegenheit loswerdet.

Die Freihausen hatte in diesem Sinne noch mehr gesprochen, und alles so im Tone der Wahrheit, weil es ihre eigenen Erfahrungen mit Franz gewesen, daß die Welligen mit schwerem Herzen wieder in ihr Stübchen trat. Sie legte die Hände in den Schooß und wußte nicht was beginnen; ihr Herz war wie erstorben. Wenn du nicht beten kannst, so seufze, dachte sie endlich, der Herr versteht das Seufzen auch so gut als deine Worte. Und sie blickte auf zum Himmel, und bald ward es ihr anders, sie schämte sich ihrer Schwachheit. Bist du betrübt, daß der Herr von dir Größeres verlangt als bisher? O die Ungeduld, die da gleich will am Ziele sein und Mühe und Arbeit sparen möchte! Sollen wir denn nur Glauben und Vertrauen üben, wenn es uns gut geht und wir die Früchte unserer Arbeit sehen? das ist freilich ein leicht Ding, aber Abraham hat geglaubet auf Hoffnung, da nichts zu hoffen war, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. Ja wenn die Dürre um uns groß ist, wenn die Noth kaum zu fassen, da geduldig harren und mit festem Glauben hoffen, das ist des Christen Sache. Sie hatte wieder Muth zum Beten:

Laß, treuer Jesu! doch Dein eigen Werk nicht liegen;
Vollführe Du es selbst, und hilf mir herrlich siegen.
Hier hast Du mich, mein Gott, ich bin in Deiner Hand,
Wie der gelinde Thon in eines Töpfers Händen.
Du forderst nur von mir des Willens Stillestand:
Du wirst schon ohne mich Dein Werk in mir vollenden;
Drum mache mich nur still, und nimm mich gänzlich hin,
Zu Deines Hauses Zier, weil ich der Deine bin. –

Und zur Antwort sagte sie sich tröstend:

Du bist ein auserwähltes Pfand,
Ich finde dich in meiner Hand
Von mir selbst angeschrieben.
Ich denk an dich, ich helfe dir,
Ich laß Dich nicht, das glaube mir –
Ich will dich ewig lieben.

Ich weiß, Gott hat mich nicht vergessen.
Ich lieg ihm ja in Herz und Sinn,
Er hat mein Theil mir zugemessen,
Dadurch ich schon vergnüget bin,
Wenn ich in Hoffnung mich recht fasse,
Und mich ihm kindlich überlasse.
Ich freue mich auf seinen Schluß,
Und weiß, wenn alle Wetter toben,
Daß dennoch, was der Herr von oben
Beschlossen hat, geschehen muß.

Sie ging nun zur Ruhe, und wenn sie auch nicht schlafen konnte, so schaute sie doch getröstet und gläubig hoffend zu den hellen Sternen auf, die da so mild und doch so prächtig am dunkelblauen Himmel leuchteten. Es war um Mitternacht, da hörte sie ein Geräusch, wie einen Fall vor der Hausthür, ihr Herz konnte kaum den freudigen Gedanken unterdrücken, es möchte Christoph sein; und obgleich der Freihausen Reden ihr aufwallendes Herz niederdrücken wollten, stand sie doch eilig auf und steckte ihr Lämplein an. Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Hausthür. Ja wirklich da lag Christoph auf der Bank und im festen Schlaf. Wie war ihr Herz voll Freude. Noch nie hatte sie der Anblick des Knaben so glücklich gemacht als jetzt. Es heißt ja auch: »Also wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der da Buße thut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.« – Die Welligen fühlte, daß der Herr das Kind aus den Händen der Sünde gerettet und es ihr wiedergegeben. Sie rüttelte ihn aus dem Schlaf. Er schlug die Augen auf, und sah kaum die bekannten milden Züge, da stand sein ganzes Thun vor seiner Seele.

Hier muß ich Dich finden? sagte sie wehmüthig und zeigte dem Kinde jetzt mehr ihre Traurigkeit über seine Sünde, als die Freude über seine Rückkehr.

Christoph aber sah sie furchtsam an. Wenn Ihr es noch einmal mit mir versuchen wollt – sagte er weinend und konnte nicht weiter sprechen.

Der Welligen Herz ward immer weicher, und sie hatte Mühe sich zu bezwingen und dem Knaben den Stachel nicht zu früh aus der Seele zu ziehen, der da zu seinem eignen Heil noch brennen mußte.

Sie führte ihn in die Stube und er mußte ihr die ganze Geschichte seiner Verführung erzählen. Er schloß damit, daß er zu Gott hoffe, vor aller Verführung jetzt sicherer als früher zu sein. Bis jetzt hatte ihn in der Erinnerung sein früheres Leben oft noch süß gelockt; jetzt hatte er es mit erneutem Herzen und anderen Augen einmal wieder geschaut und genossen.

Die Mutter Welligen fühlte die Wahrheit dieser Worte und sandte dem Herrn ein stilles Dankgebet, aber auch ein lautes erscholl mit Christoph zusammen, ehe sie beide zu Bette gingen.


So vergingen beiden die Tage in Frieden. Aber, wenn auch die Kämpfe seltener und weniger hartnäckig kamen: die treue Mutter hörte nicht auf zu wachen und zu beten, und Christoph nahm zu an Alter und Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen. Ja, es gab im Dorfe, außer den ruchlosen, wenige Leute, die nicht mit Theilnahme auf den Knaben geschaut hätten, der sich so augenscheinlich geändert, und durch der Welligen Sorge und die treuliche Hilfe des Predigers Müller ein Kind geworden, das allen andern im Dorfe zum Vorbild dienen konnte. Selbst die Großeltern, als sie eine lange Zeit nach Christophs letztem Vergehen, das ein Aergerniß dem ganzen Dorfe war, seine Besserung gesehen hatten, fingen an sich ihm zu nähern. Zu seinem dreizehnten Geburtstag schenkte die Großmutter ihm eine neue Weste, und forderte ihn auf, sie zuweilen zu besuchen. Christoph folgte dieser Aufforderung gern; seine Pflegemutter hatte ihm immer das Leben seiner Großeltern als ein sehr unglückliches vorgestellt, und es ihm zur Aufgabe gemacht, ihren Lebensabend zu beglücken. Der alte Freihausen, obgleich stumpf und stumm, litt es doch gern, wenn Christoph ihm bei allerlei häuslichen Arbeiten behilflich war, ja er hörte die Plaudereien des Knaben und die oft ernsten schönen Erzählungen meist mit Aufmerksamkeit an. Die Frau aber, wärmer und rascher im Gefühl, wandte ihre ganze Liebe dem Enkel zu, und wie ihr Sohn einst durch das Böse sie beherrschte und in seiner Gewalt hatte, so gewann der Enkel durch das Gute nach und nach immer mehr Einfluß über sie. Wie gern hätte sie den frohen sanften Jungen bei sich aufgenommen, aber eine Anspielung nur hatte sie überzeugt, seine Liebe und Dankbarkeit sei an die Pflegemutter, so lange sie lebe, gefesselt.

So war der Sommer und Herbst vergangen, und Weihnachten stand vor der Thür. Christophs Herz war voll Freude, die Großeltern hatten ihm einen Heilgen Christ versprochen, der nicht wenig reich ausfallen sollte. Seine Pflegemutter hatte zwar nie das schöne Fest so ganz ohne Freude für ihr Pflegekind vorübergehen lassen, aber je älter sie wurde, je weniger verdiente sie, und das tägliche Brot ward oft sehr knapp. Christoph dagegen hatte auch zu jedem Feste für die Pflegemutter eine Freude erdacht, und wenn es auch nur ein schön geschriebenes Sprüchlein, oder ein neu gelerntes Liedchen gewesen wäre. Diesesmal ging seine Sorge weiter, er wollte auch für die Großeltern ein Festgeschenk ersinnen. Was konnte er ihnen schenken? Irdische Gaben hatte er nicht, die Großeltern hatten sie im Ueberfluß. An himmlischen Gaben aber waren sie arm, und mit kindlicher Angst dachte er oft an ihre Verdammniß. Er wußte wohl, daß sie ihr Leben hindurch vom Herrn nichts wissen wollten, daß sie auch jetzt noch nie zur Kirche gingen, nie hatte er sie singen oder beten hören, oder in der Bibel und in andern geistlichen Büchern lesen sehen. Wohl aber sahe er sie hart und gleichgiltig mit einander verkehren, und ihr Leben erschien ihm, wenn er sein eignes frohes friedsames Leben mit der Pflegemutter dagegen verglich, ein gar armes und trübseliges. Dies Leben auch froher und friedsamer zu machen, war sein innigstes Begehren, und manches Gebet für die Großeltern stieg aus seinem kindlichen Herzen zu Gott empor. Daß sie jetzt viel freundlicher und zutraulicher gegen ihn wurden, machte ihn muthiger, und er nahm sich vor, zum heiligen Christfest ihre Herzen zu bestürmen und sie zum ersten Kirchengehen zu bewegen. Seine Pflegemutter hatte ihm oft gesagt: Wer nur einmal den Anfang macht, sich dem Teufel ab und dem Himmel zuzuwenden, da kommen die Engel Gottes und dienen ihm, und wer nur aufthut das Herz, dem ist der Segen des Herrn gewiß.

Den Weihnachts-Heiligenabend, als einen schulfreien Tag, benutzte Christoph nun nicht allein zu einem Dank- und Liebesbrief für die Pflegemutter, sondern auch für die Großeltern. Er schilderte darin seine kindlichen Gefühle für sie so warm und ergreifend, sagte, es solle sein innigstes Streben sein, sich der Liebe und Zuneigung der Großeltern würdig zu zeigen, und erbat sich von ihnen als einzige Gunst und als Zeichen, daß sie seine dargebrachte Liebe annehmen möchten, das Glück aus, von beiden am ersten Festtagsmorgen in die Kirche geführt zu werden.

Als dieser Morgen kam, stand er früh auf, bereitete der Pflegemutter das Frühstück, die unwohl im Bette lag, und ging, als die Glocken zur Frühkirche läuteten, dahin mit freudigem Herzen. Hell sang er sein Hallelujah mit und wanderte dann, seinen Brief unter der Weste verborgen, zu den Großeltern. Dies war die ihm festgesetzte Stunde, den heiligen Christ in Empfang zu nehmen. Noch war die Großmutter nicht ganz fertig, aber der Großvater stand mit Christoph am Feuerherd und hörte ruhig an, wie ihm Christoph von der schönen Frühpredigt erzählte; und als endlich die Stubenthür geöffnet wurde, stand der Knabe entzückt vor den vielen reichen Gaben. Da lag ein vollständiger neuer Anzug zu seiner nahen Konfirmation, eine Bibel und ein Gesangbuch in goldenem Schnitt, eine kleine Axt, um dem Großvater beim Holzmachen helfen zu können, und Kuchen und Aepfel und Nüsse. Im Uebermaße seiner Freude wußte er sich kaum zu lassen, er drückte und herzte die großmüthigen Geber; und diese, obgleich gar nicht gewohnt Liebesbeweise zu geben und zu empfangen, erwiderten dies jeder auf seine Art. Beiden ging das Herz auf, beide empfanden zum ersten Mal in ihrem Leben, das Geben seliger als Nehmen sei, und es war dies die schönste Stunde in ihrem Leben.

Doch nun kam für Christoph noch eine wichtige Sache. Als sie alle drei so in rechter Bewegung um den hellen Tisch herum standen, griff er in die Brust und reichte dem Großvater den Brief. Der setzte sogleich seine Brille auf, seine Frau sah ihm über die Schulter und beide lasen. Der Frau rannen gleich die Thränen über die Backen, und obgleich Freihausen kein Wort der Erwiderung hatte, und auch sie es bei diesen Thränen bewenden ließ, faßte Christoph doch die schönsten Hoffnungen. Für jetzt setzte er sich still in eine Ecke, nahm seine Bibel zur Hand und las, während die Großmutter die Hausgeschäfte besorgte, und der Großvater eine Pfeife rauchend am Ofen saß. Doch als es zum Vorläuten kam, stand der Alte auf, holte den Sonntagsrock aus dem Schrank, bürstete die neue Mütze glatt, legte die weißen Handschuhe dabei und die Pfeife aus dem Munde. Christophs Herz hüpfte vor Freuden, denn bald kam auch die Großmutter im sonntäglichen Anzug herein, und als nun die Glocken in vollen Tönen zur Kirche riefen, wandelte Christoph zwischen beiden den Weg dahin.

Das Dorf blickte verwundert auf die ungewohnten Kirchgänger, die es auch kaum wagten ihre Augen aufzuschlagen; aber Christoph wandelte mit desto hellerem Blick, er erschien allen wie ein Engel, der da zwei Verlassene führt, und Blicke der Theilnahme und Liebe begleiteten ihn. Solche von der Seite aufgefangene Blicke fielen wie Sonnenstrahlen in die Herzen der alten Freihausens, denn sie hatten gefürchtet, nur Spott und Hohn von der Gemeinde für ihren ungewöhnlichen Schritt zu ernten. Und als nun der Prediger Müller mit einer rechten warmen Weihnachts- und Liebespredigt die Herzen der Zuhörer bewegte, blieben auch ihre Herzen nicht unberührt. – »Herr, wo sollen wir hingehen? Du hast Worte des ewigen Lebens,« – so sagte die innere Stimme. Ja wenn sie sich auch lange gestreubt hatten dem Herrn ihr Herz aufzuthun, er hatte ihnen seine Macht im Zorne und jetzt auch seine Macht der Gnade gezeigt.

Als die Welligen wieder gesund war, nahm sie oft Theil an Christophs Besuchen bei den Großeltern. Mancher Winterabend verging in herzlichen Gesprächen, und alle hörten gern und aufmerksam zu, wenn Christoph aus dem goldnen Gesangbuch und der goldnen Bibel ihnen vorlas. Ja, der Herr war mit dem Knaben; er lernte es immer mehr, die Herzen der Großeltern zu fesseln; oft gingen sie mit ihm zur Kirche und zeigten sich immer geneigter, das Wort des Herrn anzunehmen. Christophs innigster Herzenswunsch ging nun dahin, sie zu bewegen, wenn er das heilige Abendmahl zum ersten Mal genösse, es mit ihm zu genießen. Auch dies Gebet wurde ihm erhört. Von den Fasten an versäumten sie keinen Sonntag in die Kirche zu geben, und am Palmsonntage traten sie, die zwar immer noch mehr von der Furcht als von der Liebe erfüllten Sünder, zu dem Tische des Herrn. Aber der Herr spricht: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.«


Als Christoph confirmirt war, ging er täglich auf Arbeit, um seine schwächliche Pflegemutter zu unterstützen. Den Vorschlag, ein Handwerk zu lernen, hatte er ausgeschlagen, um diese Unterstützung nicht noch weiter hinaus geschoben zu sehen. Die Pflegemutter war alt, wer weiß wie lange er ihre Liebe und Treue hier auf Erden noch vergelten konnte.

Aber die Welligen war noch nicht zu alt, um nicht noch ein rechtes Unglück erleben zu können. Ihr Schwiegersohn Traugott Schlüter starb an einem hitzigen Nervenfieber und ließ seine Anna mit sechs Kindern in hilfloser Lage zurück. Annas ältester Sohn war in Christophs Alter, aber immer krank und schwächlich; und obgleich er confirmirt war, konnte er seiner Mutter nichts verdienen. So entschloß sich denn die Welligen, ihre Tochter und ihre Enkelkinder zu sich in das kleine Häuschen zu nehmen, um ihnen wenigstens die Miethe zu ersparen. Christoph, jetzt sechszehn Jahre alt, war ihr treuester Rathgeber und ihr Helfer; er unterstützte wo er konnte, sorgte für die kleineren Kinder, und that alles was nur der Haushalt Arbeiten für ihn brachte. Seine Großeltern waren nun zwar nicht recht zufrieden, daß er da mitten in der Familienlast saß, aber er hatte mit jedem Jahre mehr Einfluß auf sie erlangt, sie mußten seinen verständigen Reden wohl beipflichten, und warteten nur sehnlichst auf den Tod der Mutter Welligen, um den Enkel dann ins Haus zu nehmen, um das Glück und die Ehre seines Besitzes allein zu genießen, und ihm einst ihr Hab und Gut zu hinterlassen. Von Franz und seiner Familie war zu ihrem Troste nie wieder ein Wörtchen verlautet.

So ging ein Jahr nach dem andern hin. Christoph war ein schlanker frischer Bursche geworden, die Zierde des Dorfes, und sollte nun Soldat werden. Eine große Betrübniß für die Pflegemutter. Zwar bedurfte sie seiner äußeren Hilfe nicht mehr so nöthig, zwei Söhne von Annen waren herangewachsen und erwarben durch großen Fleiß den nöthigen Unterhalt für die Familie; aber den Pflegesohn in ihren letzten Tagen zu entbehren, seine Trostesworte auf ihrem Krankenlager, an das sie fast immer gefesselt war, nicht mehr hören zu können, ihn vielleicht gar in der Sterbestunde nicht um sich zu haben, war ihr der größte Schmerz. Aber da war nichts zu machen, und Christoph reiste, selbst sehr betrübt und von der ganzen Familie beweint, nach dem Orte seiner Bestimmung ab. Im ersten halben Jahre, wo er seiner Heimath noch ganz nahe stand, ward auch der sehnlichste Wunsch seiner Pflegemutter, daß er ihr die Augen zudrücken möchte, erfüllt. An einem hellen Frühlingstag stand er an ihrem Sterbebette: die Abendsonne fiel auf ihre verklärten Züge, und Christoph war erfüllt von heiliger Wehmuth und heiligem Verlangen, einst eben so wie diese Gerechte von der Welt zu scheiden.

Mit dem nächsten Herbst wurde sein Regiment nach einer ferneren Provinz verlegt. Seine Bibel, sein Gesangbuch und andere schöne Bücher, die er sich nach und nach angeschafft, waren seine treuen Begleiter, und sein Herr und Heiland, der ihm im tiefsten Herzen lebte, ging mit ihm auch in die Ferne. So wie er ein frommer guter Mensch war, war er auch ein braver Soldat und ward geliebt von seinen Obern und seinen Kameraden; ja er vermochte es, durch Sanftmuth und Freundlichkeit, und auch wiederum durch Ernst an seinem Orte, nach und nach ein Häuflein um sich zu sammeln, das seine Gesinnungen theilte. Seine Lebensgeschichte und die seiner Eltern und Großeltern kam ihm hier gut zu statten, denn wohl selten hält der Herr den Menschen in den Erlebnissen anderer einen Spiegel hin, worin sie so deutlich die Folgen der Sünde und den Segen der Gottesfurcht sehen, als gerade in diesen Lebensgeschichten.

Eines Tages hatte Christoph in den Festungswällen Dienst, er mußte einige Baugefangene die mit Hacke und Spaten beschäftigt waren, beaufsichtigen und bewachen. Das war für ihn immer ein schweres Geschäft, denn die Rohheiten und gotteslästerlichen Reden dieser Gefallenen anzuhören, war ihm ein Gräuel. Von dem ganzen Trupp, der etwa aus acht Männern verschiedenen Alters bestand, erregte ein älterer in ihm den größten Abscheu. Sein von der Sünde verzerrtes Gesicht sah frech und schamlos in die Welt hinein, und auch das Heiligste wurde durch seine Spott- und Schmutzreden besudelt. Ob es wohl nicht möglich wäre, in einem solchen gesunkenen Wesen die Ahnung und die Achtung vor etwas Höherem zu erwecken? dachte er, indem er die wenigen Schritte die der Raum ihm erlaubte, auf und abging. Du willst es versuchen, vielleicht ist doch einer oder der andere, der die Hilfe annimmt; und als sie sich gerade zur Arbeitspause hingesetzt, fing er eine Unterhaltung mit ihnen an.

Euch scheint das Leben hier wohl zu gefallen, Ihr seid so vergnügt, – sagte er mit ernster Stimme.

Glücklich ist wer vergißt, was mal nicht zu ändern ist, sagte lachend der Alte.

Was kann man besseres thun hier als wenigstens lustig sein! sagte ein anderer.

Besseres könnt Ihr immer thun, fuhr Christoph weiter fort. Ihr könnt jetzt überlegen, was Euch in diese unglückliche Lage gebracht hat, und bei Zeiten darüber nachdenken, wenn Ihr einmal frei seid, wie Ihr glücklicher leben mögt.

Nun was das zu sagen hat, so werde ich wohl hier mein glückliches Leben beenden, sagte spaßend wieder der Aeltere.

Euch wird freilich wohl nicht mehr zu helfen sein, fuhr Christoph ihn etwas ärgerlich an, und der Herr Gott mag Eurer armen Seele gnädig sein.

Brav gesprochen, lachte der Angeredete. Aber bange machen gilt nicht. Lustig gelebt und selig gestorben, hat dem Teufel sein Handwerk verdorben.

Ihr habt weder lustig gelebt, noch werdet Ihr selig sterben und dem Teufel sein Handwerk verderben, entgegnete Christoph. Euer Leben ist ein jammervolles gewesen, das steht auf Eurem Gesichte geschrieben, Hunger und Kummer, Unfriede und Angst und Gewissensqual waren Eure Verfolger, sie werden Euch ohne Rettung in die äußerste Finsterniß treiben, und da werdet Ihr selber rufen: Herr sei meiner armen Seele gnädig! Da ists aber zu spät, der Herr hört Euch nicht mehr, und ist eine ewige Kluft zwischen Euch und ihm befestigt. Und Ihr alle, wandte sich jetzt Christoph zu den andern, Ihr werdet ihm dorthin folgen und an seinen Qualen Theil nehmen, wie Ihr hier an seiner Gottlosigkeit Theil nehmet.

Diese Worte machten die Zuhörer stutzig, sie wurden immer ernster und stiller, nur der älteste suchte durch sein gleichgiltiges freches Gesicht Christophs Zorn zu erregen. Christoph wandte sich schaudernd von ihm.

Ein hübscher Bursche! sagte halb laut jetzt einer zu seinem Nachbar. Und was er sagt ist wahrhaftig nicht unrecht. Der hat gewiß eine gute Erziehung gehabt und ist guter Leute Kind.

Ja das mag wohl, entgegnete ein noch jüngerer, der weiß es nicht wie es bei unser einem zugeht und wie man so nach und nach in den Dreck kommt.

Christoph hörte die Worte. Ihr irrt euch, wenn Ihr denkt, daß ich guter Eltern Kind bin; ich habe eigentlich so gut wie keine Eltern gehabt, habe hinter den Zäunen gelegen, aber der Herr hat sich meiner erbarmt und wurde mein Vater. Wenn Ihr zuhören wollt, will ich Euch meine Geschichte erzählen.

Alle waren es zufrieden, nur der Schlimmste unter ihnen konnte es wieder nicht lassen einige ruchlose Witze dazwischen zu werfen. Christoph aber kehrte sich nicht daran und begann:

Ich heiße Christoph Freihausen und bin weit von hier aus dem Sächsischen. – Nach diesem Anfang ward der Bleiche auch still und aufmerksam, und die andern meinten, daß die Neugierde ihm den Mund gestopft habe. – Christoph erzählte nun wie seine Großeltern gelebt, wie sie auf Rechtschaffenheit vor den Leuten mehr gegeben als vor Gott, und was das für Früchte getragen; er schilderte das Elend seiner Eltern, sein eigenes Elend und seine Errettung, alles mit kurzen Worten, aber so aus dem warmen Herzen, daß er die Theilnahme daran auf allen Gesichtern las. Selbst an dem Bleichen war eine sichtliche Veränderung zu merken, er ward still in sich gekehrt, und selbst noch, als die anderen bei der Arbeit wieder mehr gesprächig wurden, blieb er schweigsam und warf nur zuweilen scheue Blicke auf Christoph hin.

Dieser verließ mit großer Befriedigung seinen Posten, und bat noch denselben Abend seinen Offizier, ihm recht oft diesen Posten zu überlassen. Er erzählte, welche Gespräche er mit den Gefangenen gehabt, und daß sie ihn gebeten, ihnen wieder aus seinem Leben zu erzählen. Der Offizier, der Christophs Geschichte kannte, und da er gleicher Gesinnung mit ihm war, große Stücke auf den braven Menschen hielt, hörte das theilnehmend an und veranlaßte, daß Christoph schon nach einigen Tagen wieder Dienst bei den Gefangenen hatte. Diesmal aber hatte er den bleichen oft erwähnten Mann allein zu bewachen; vergeblich besann er sich, wie er eine Unterhaltung mit ihm beginnen solle, und die geheimnißvollen Blicke, die der Arbeitende zuweilen auf ihn warf, machten ihm das Alleinsein fast schaurig. So war es dämmerig geworden und die Zeit seiner Wache war halb vorüber, als mit einem Mal der Gefangene Ketten und Ringe von seinen Beinen ohne alle Mühe losschüttelte und den Wall entlang lief. Christoph legte im Augenblick sein Gewehr an und rief: Steh oder ich schieße! Der Fliehende stand still, wandte sich, sah mit seinem bleichen Gesicht auf Christoph und sagte höhnisch: Schieße nur, Christoph! auf Deinen Vater! damit Du mich nicht allein in die Hölle laufen lässest. – Darauf setzte er seine Flucht so eilig als möglich fort.

Christoph stand erschüttert, sein Arm war gelähmt, und so fand ihn der Unteroffizier, der die Begebenheit aus weiter Ferne mit angesehen. Dieser überhäufte ihn mit einer Fluth von Vorwürfen und führte ihn in die Wache. Christoph, innerlich betäubt, folgte ihm ohne sich zu verantworten. Offiziere und Soldaten wunderten sich der Feigheit dieses sonst so thatkräftigen Soldaten; als aber Christoph nun von seinem Offizier theilnehmend nach den Gründen seines Betragens gefragt wurde, erwachte er aus seiner Bestürzung, Thränen liefen ihm über die Backen, er weinte wie ein Kind. Ich hatte das Gewehr schon angelegt, sagte er stockend –

Und? fragte der Offizier.

Es war mein Vater! schluchzte Christoph.


Franz Freihausen hatte durch allerlei Lügengewebe seinen Namen und seine Verhältnisse zu verbergen gewußt, um sich nicht auch seine ersten Diebstähle angerechnet zu sehen. Seit mehreren Jahren hatte er hier auf der Festung vergeblich auf Flucht und Befreiung gesonnen, und die zufällige Entdeckung seines Sohnes regte keine andern Gefühle in ihm an, als daß dieser ihm zu seinem Vorhaben behilflich sein sollte. Daß er das freiwillig nicht sein würde, sah er voraus; aber wie er es berechnete, so war es gelungen.

Gelungen? Nein, das war es doch nicht. Beim Sprung von dem Festungs-Walle war er gestürzt, hatte sich das Rückgrat arg verletzt und ward so von seinen Verfolgern gefunden. Ja, Christophen sollte der Schmerz und der Jammer des Anblicks eines solchen Vaters erspart werden, denn schon nach einigen Stunden gab dieser seinen Geist auf.

Christoph, ob er gleich von seinen Vorgesetzten und seinen Kameraden noch mehr Liebe und Theilnahme sah als zuvor, war still und in sich gekehrt, er konnte das Schicksal seines Vaters nicht aus den Gedanken los werden. Doch der Herr, der ihn betrübt gemacht, konnte ihn auch wieder trösten, und die erste Freude seines danieder gedrückten Lebens war die Entdeckung seines jüngern Bruders, dessen Aufenthalt in einem rheinischen Arbeitshause sein Vater einem Mitgefangenen anvertraut hatte. Christoph erhielt Urlaub und reiste sogleich dahin, getrieben von Freude und Furcht zugleich. Freude, ihn wieder zu sehen, und Furcht, wie ihn zu finden. Aber seine Furcht war ohne Grund, Wilhelm war nicht in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Zu sehr hatte er durch dessen Leben leiden müssen, ja ein Abscheu gegen diesen Vater erfüllte ihn so, daß er ihn verließ; und da seine Mutter vor einigen Jahren an den Folgen des Trunkes gestorben war, hatte man ihn als bettelnde Waise in ein Arbeitshaus gesteckt. Der liebe Gott hatte seine Rettung beschlossen. Lehre und Ermahnung und theilnehmende Liebe fanden bei ihm einen guten Boden und jetzt, nachdem er beinahe vier Jahre in der Anstalt gewesen, ward er nicht mehr wie ein Sträfling sondern wie ein Kind des Hauses betrachtet. Er hätte auch längst die Freiheit erlangen können, aber er verlangte sie nicht, eine Heimath hatte er sonst nirgends, hier hatte er sie gefunden, und fand auch als fleißiger Tischlergeselle sein Brot.

Das Glück der beiden Brüder war unbeschreiblich. Nachdem Christoph seinen Abschied erhalten, zogen beide nach der Heimath. Die alten Freihausens hatten tief erschüttert das Ende ihres Sohnes erfahren, und der Herr, der die Herzen erforscht, sah den Keim des so lange verschmähten Glaubens und Gotteslebens langsam in ihnen ersprießen und gab seinen Segen dazu. Dieser Segen aber war besonders die Nähe der beiden Brüder, die, nachdem die Stürme ihres Lebens vorüber waren, recht wie ein Gnaden- und Liebeszeichen von oben ihren letzten Tagen den still ersehnten Frieden brachten.


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