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V.
Ringet darnach, daß ihr stille seid und das Eure schaffet

(1 Thess. 4, 11.)


Die Glocken läuteten, es war der heilige Abend vor Himmelfahrt. Der alte Herr Adelin saß am offnen Fenster und sah über die blühenden Baume und Sträucher des Kirchhofs, hoch hinauf an den blauen Schieferthürmen. Der Himmel stand hoch und glänzend darüber, Schwalben schwebten rundum, in den offnen Schalllöchern bewegten sich die Glocken im langsamen Schwunge und legten die vollen feierlichen Klänge weit über Stadt und Land. Herr Adelin hatte nicht allein den Blick, auch sein Herz hatte er nach oben gerichtet, auf seinem Gesichte lag tiefer Frieden. Sein Leben war ein Feierabend, und er harrte des ewigen Sabbaths. Dort am hohen Chore unter der Thränenweide lag Frau Katharine, seine selige Frau, vor zwei Jahren hatte er sie dorthin zur Ruhe geleitet, nachdem er vierzig Jahre an ihrer Seite glücklich gelebt. Vierzig Jahre hatte er aber auch der Stadt als Rath und der Kirche als Vorsteher mit treuem gläubigem Sinne gedienet. Neben seiner Katharine lagen noch viele seiner Freunde und Verwandte, und er stand ziemlich einsam in dem heraufblühenden Geschlecht, aber Liebe und Theilnahme fühlte er für dieses Geschlecht, und besonders lebte er mit Kindern und Enkeln in lebendiger Gemeinschaft. Er hatte drei Söhne und zwei Töchter, die Töchter waren an Prediger in der Umgegend verheirathet, ein Sohn war Kaufmann in Hamburg, einem hatte er die eigne Handlung übergeben, und den jüngsten, hatte er die Freude, seit einem Jahr hier an der Kirche als Prediger angestellt zu sehen. Die Kinder waren alle gottesfürchtig erzogen. Der älteste Sohn, der als Kaufmann in der Vaterstadt geblieben, führte mit seinem ganzen Hause ein frommes, ehrbares Leben, und erst seitdem der jüngere Bruder neben ihm stand, erhoben sich Stimmen gegen ihn, welche meinten, daß er nicht entschieden gläubig sei, und nicht eifrig genug dem Herrn diene. Der Vater schwieg dazu, obgleich bekanntlich der jüngste Sohn sein Liebling war, obgleich seine Gebete und Bitten ihn zum Prediger gemacht, und er mit hoher Freude an seiner Richtung und an seinem Leben hing. Er schwieg dazu, ja es schien, als ob er sich seitdem nur mit größerer Innigkeit dem älteren Sohne angeschlossen.

Als die Glocken ausgeläutet hatten, öffnete sich die Thür; und Marie Liebig, die Pathe und Freundin des alten Herrn Adelin trat ein. Marie war nahe an den Vierzigen, sie hatte in ihrer Jugend eine unglückliche Liebe gehabt, sich später nie zum Heirathen entschließen können, und opferte nun alle ihre Zeit und Kräfte der Thätigkeit der christlichen Liebe. Aber erst seitdem Pastor Adelin mit seiner Frau in der Gemeinde war, hatte ihr Leben eine feste Gestalt gewonnen, sie stand täglich mit ihnen in Verkehr, und auch in diesem Augenblick kam sie von dort.

Ich komme heut in einiger Aufregung, sagte sie, Ihre lieben Kinder thun mir zu leid, sie haben heut wieder einen rechten Aerger gehabt.

Was denn? fragte Adelin.

Oberpredigers werden In ihren Anfeindungen immer beißender, je mehr die Anerkennung für unseren lieben Herrn Pastor in der Gemeinde wächst. Ich habe ihnen aber auch eben gesagt, daß gerade in diesem Grunde der Anfeindungen der schönste Trost liegt; wenn sie sich von unser aller Liebe getragen fühlen, können sie Spott und Kränkung darüber vergessen.

Wenn diese Anerkennung ihnen Frieden bringen soll, entgegnete der alte Herr fast wehmüthig, so steht der Frieden noch auf schwachen Füßen; in der Gemeinde ist davon bis jetzt wenig zu spüren.

Mehr als Sie glauben, nahm Marie wieder das Wort. Gestern war ich noch bei unseren Nachbarsleuten, bei dem Korbmacher. Sie wissen, die alten Eltern feierten vor zwei Jahren ihre goldne Hochzeit und waren immer brave gottesfürchtige Leute, freilich so nach der alten Sorte, es trat nicht recht kräftig heraus, und besonders den Kindern gegenüber. Der junge Mann ist immer ein Feind der Gläubigen gewesen, und jetzt auch ein arger Demokrat. Als ich im vergangenen Herbst einmal dort war, schimpfte er gewaltig auf den Herrn Pastor, nannte ihn den Teufels-Prediger, den finsteren Mucker und was dergleichen Ausdrücke mehr im Volk umlaufen. Gestern aber sagte er schon, daß man es doch anerkennen müßte, wie gut es der Herr Pastor meine, und wie viel besser er seine Zeit verwende, als der Herr Oberprediger, der mehr in seinen Spielkränzchen und Theegesellschaften als in den Wohnungen der Armen zu finden sei. Ja! schloß Marie eifrig, die Leute müßten ja mit Blindheit geschlagen sein, wollten sie das nicht einsehen. Wie sah es im vergangenen Jahre in der Gemeinde aus, und wie jetzt!

Und wie denn? fragte lächelnd Herr Adelin.

Wir haben eine Kinderbewahranstalt, Ihr Sohn hat es endlich durchgesetzt, und es ist eine wahre Freude, Ihre Schwiegertochter darin zu sehen. Sie versteht es herrlich mit den Kindern zu verkehren, wie niedlich singen sie, wie schöne Sprüche können sie hersagen. Ich war selbst neulich dort, als eine Mutter kam, um ihre Freude zu bezeugen, daß ihr kleines Mädchen so Schönes hier lerne, es singe und bete auch zu Hause, und Eltern und Geschwister müßten regelmäßig vor Tisch sein Gebet mit anhören, es leide nicht, daß jemand eher zum Löffel griffe.

Dem alten Adelin war die Freude an dieser Geschichte auf dem Gesichte anzusehen, Marie aber fuhr im Eifer fort.

Aber nicht allein mit den kleinen Kindern beschäftigt sich unsere gute Anna, auch für die Nähschule hat sie Zeit, trotzdem sie selbst drei Kinder und den ganzen Haushalt zu versorgen hat. Abscheulich war es vom Magistrat, daß er uns kein Lokal zur Schule geben wollte, und die 50 Kinder haben keinen Platz in dem kleinen Pfarrhaus. Aber ich habe selbst den Rathmann Vollheim sagen hören, sie wollten keine pietistische Kindererziehung und würden absichtlich so viel Hindernisse als möglich in den Weg legen. Es freut mich nur, daß wir dennoch unseren Zweck erreicht haben. Für die gute Sache muß man zu kämpfen wissen.

Wäre es vielleicht nicht besser gewesen, Anna hätte in aller Stille 20 Kinder unterrichtet und mein Sohn hätte den langwierigen Streit mit den Stadtverordneten vermieden? fragte sanft Herr Adelin.

O Sie sanftmüthiger Mann, lächelte Marie, Sie gehören nicht in unsere Zeit.

Da hast Du Recht, Marie, entgegnete ernst der Alte, diese Zeit kömmt mir zuweilen sonderlich vor, und ich möchte ihr zurufen: »Ringet danach, daß ihr stille seid, und das Eure schaffet.«

Hat die Welt aber nicht lange genug im Schlafe gelegen? unterbrach ihn Marie eifrig. Ists nicht Zeit daß wir aufwachen? Sehen wir uns nur ganz in der Nähe um, wie sah es denn in unserer Stadt aus? Ehe unser lieber Herr Pastor kam, und ehe unsere vortreffliche Anne Leben in die Frauenwelt brachte? Diese Frau ist bewunderungswürdig, was sie schafft kann keine andere. Ich werde oft in meiner Schwachheit ganz traurig über mich, wenn ich das mit ansehe, es ist mir als könnte ich gar nichts leisten. Was macht ihr der Wöchnerinnenverein zu schaffen? Sie klettert in den Dachstuben umher, untersucht selbst das Elend, geht zu den Reichen, bettelt sich Sachen, zaubert im Umsehen Kinderkleider daraus, und der Noth ist abgeholfen. Dann der Missions-Nähverein, – sie allein hat ihn zu Stande gebracht und hält ihn. – Und wenn ich erst den Mann bedenke! Meine einzige Furcht ist nur, er reibt sich auf; er ist hingenommen von allen Seiten, überall muß er ein Feuer anzünden, Bibelstunde, Mission.

Ich weiß alles, unterbrach sie Vater Adelin, Du brauchst es mir nicht vorzuzählen, meine Gebete begleiten seine Wege, und mein Herz ist dankbar dem Herrn, der ihn so führt, und doch möcht ich ihm am ersten zurufen: »Ringet danach, daß ihr stille seid und das Eure schaffet.«

Marie sah den Sprecher ungläubig an und wollte schon mit neuem Eifer seine Rede unterbrechen. Aber Adelin war selbst in Feuer gekommen und litt es diesmal nicht. Die Welt ist jetzt voller Vereine, voller Unternehmungen, um das Reich des Herrn zu erweitern und zu befestigen, fuhr er fort, überall ist von innerer Mission die Rede, und Heil den Männern, die das Feuer angezündet haben; aber Vorsicht ihren Nachfolgern und Jüngern. Jene Vorgänger sind dazu vom Herrn berufen und besonders ausgerüstet, sie sollen laute Prediger des Evangeliums sein, ihre Stimme soll erschallen von einem Ende des Vaterlandes zum anderen, der Herr hat sie ausgerüstet daß sie bei allem Geben doch für sich noch übrig behalten. Nicht sind die Jünger berufen, immer ein Gleiches zu thun, bei dem Schaffen nach außen, vermissen sie den eignen inneren Segen, ja verlernen oft ganz, ihn zu vermissen. Sie sind so laut, so unruhig, sie können nicht genug arbeiten und schaffen, nicht schnell genug Früchte sehen, sie wollen das Licht des Evangeliums hineinfeuern in die Herzen der Menschen, wie Blitze die dunkele Nacht durchbrechen. O so laute Prediger machen mir bange, und ich sehne mich wahrhaft nach stillen Predigern, deren ganzes Leben aber eine stille selige Predigt ist. Solche stille selige Predigt wird die Herzen dem Evangelium öffnen, so wie das Tageslicht still und mild anhebt, die Dunkelheit durchbricht, bis die helle Sonne sich in verklärten Augen spiegelt. Meine Kinder, möcht ich, wären so stille Prediger; man müßte gar nicht reden von ihrem Thun, nur nach und nach fühlen was sie sind, – das Pfarrhaus müßte stehen in der Gemeinde wie ein stiller Tempel Gottes, wer ihm nahe kommt sieht seinen Frieden, seinen Glauben, seine Liebe, seine Kraft, und je mehr der innere Segen wächst, je mehr wird der Herr Wege finden, diesen Segen auch in die Gemeinde zu tragen. Am Vielthun geht oft der innere Segen an der eigenen Seele verloren, und ohne diesen Segen wird alles Arbeiten im Weinberge des Herrn, alle Liebe, aller Eifer, alle Aufopferung nur wie ein Flackerfeuer aufleuchten, aber nicht nachhaltig beleben und erwärmen. Ein jeder Mensch soll Zeit zum Nichtsthun haben und dieses Nichtsthun für das Höchste schätzen. Er soll sich versenken in sich selbst und in seinen Gott. So im Schauen und Beten soll er wachsen und stark werden. Wenig Wort und viele Kraft. Weniger thun und mehr beten.

Mehr beten? fragte Marie verwundert. Meinen Sie, daß unseres Pastors Predigten nicht Früchte des innigsten Gebetes sind.

Gewiß, aber wenn er mehr betete, mehr mit sich selbst umginge, mehr in sich hineinschaute, würden seine Predigten noch anders sein; es würden so stille Predigten sein, nach denen ich mich sehne. Der Stolz, der Hochmuth, die Hartherzigkeit der Menschen wird eher bewegt durch ein lebendiges Bild der Demuth, der Liebe, der Hingabe, als durch ein Eifern gegen ihre Fehler. Es gehört freilich mehr Geduld dazu, durch sein Leben wirken wollen, als durch sein Eifern.

Demüthig? fragte Marie wieder verwundert; ich sah nie demüthigere Menschen als Ihren Sohn und ihre Schwiegertochter.

Ja vor Gott ihrem Herrn sind sie demüthig, und im stillen Kämmerlein und in ihrer Selbsterkenntniß, aber die Demuth ist noch nicht in Fleisch und Blut bei ihnen gedrungen und beherrscht noch nicht ihr ganzes Leben.

Marie wollte eben das Wort zur Vertheidigung wieder übernehmen, als die Thür sich öffnete und die eben Erwähnten selbst eintraten. Regelmäßig kamen sie um diese Zeit, ehe sie ihren Spaziergang antraten, dem Vater einen kurzen Gruß zu sagen. Der Pastor, ein schlanker brünetter Mann mit lebendigem Blick und frischem Angesicht, seine Frau ebenso, aber noch rascher und feuriger in ihrem Wesen.

Marie hat Ihnen wohl erzählt, lieber Vater, begann sie gleich nach den ersten Begrüßungen, daß ich heut einen rechten Kummer hatte?

Noch nicht, entgegnete der Vater, wir sind nicht über die Vorrede hinaus gekommen.

Wir möchten alles Mögliche thun, um mit Oberpredigers in Frieden zu leben, fuhr Anna fort; aber es hilft alles nichts.

Wir wollen uns jetzt gar nicht um sie kümmern, sagte der Pastor; es hilft erstens nichts, und die Gemeinde muß auch sehen, daß wir nicht einen Weg mit ihnen gehen.

Was ist denn vorgefallen? fragte der Vater theilnehmend.

Weil sie unser öffentliches Leben nicht angreifen können, weil wir da, wie sie sagen, Heuchler sind, verleumden sie unser Leben im Haus. Eine lange Geschichte haben sie erzählt, wie ich mich neulich mit Anna gezankt, ja gedroht sie zu schlagen.

Und die schlechte Behandlung, fiel ihm Anna eifrig in das Wort, die ich vom Manne dulden müsse, räche ich wieder an Kindern und Gesinde. Ich sei die schlechteste Hausfrau und Mutter, und wenn ich außer dem Hause umherliefe, ginge es im Hause Kopf unter, Kopf über, und alle waren glücklich über mein Fortsein. Was thut man nun gegen solche abscheulichen Verleumdungen?

Am Besten gar nichts, entgegnete der Pastor.

Ich glaube doch nicht, daß dies das Beste ist, unterbrach ihn der Vater.

Aber lieber Vater, je mehr man über solche Dinge spricht, je größer werden sie, und wollt ich nun gar meinen Kollegen darüber zur Rechenschaft ziehen, da würde der Unfriede und das Aergerniß nur noch größer werden.

So meine ich es nicht, entgegnete der Vater sanft; wenn Ihr vielleicht immer freundlicher, liebevoller und demüthiger gegen Eure Anfeinder wäret?

So meinen sie, sie haben Recht, sagte Anna entschieden.

Auch möchten die Gläubigen irre werden, fügte Marie hinzu.

Der Alte schüttelte den Kopf. Ich meine, auf diese Weise werden sie am ersten ihr Unrecht fühlen, und auch die Gemeinde wird nicht lange darüber in Zweifel sein. Ihr müßt Euch freilich ein Weilchen in Geduld fassen und in Demuth die Zeit der Verkennung tragen lernen. Es wird uns schwer, von unseren Fehlern zu hören, besonders von Leuten, die uns verkennen und ungerecht anklagen, aber wir sollten es doch versuchen, ob aus solchen Dornen, die der Herr in unseren Weg legt, nicht Rosen für uns wachsen können.

Der junge Adelin, war an das Fenster getreten. Alle schwiegen.

Diese ungerechte Beschuldigung, meine liebe Anna, könnte Dich vielleicht veranlassen zu prüfen, ob Du wirklich eine solche Hausfrau und Mutter bist, wie Du es vor dem Herrn sein möchtest, und Du, lieber Heinrich könntest vielleicht Dein Amt als Ehemann und Hausvater wieder in ernstliche Erwägung ziehen. Doch verzeiht, daß ich, anstatt Euch zu trösten, Euch nur noch mehr beunruhige, schloß Vater Adelin mit sanftem Lächeln; damit aber heut dies Kapitel vollständig ist, erzähle Du, Marie, auf Eurem Spaziergang den Lieben unser Gespräch von vorhin treu nach der Wahrheit, lobe sie wie es Dein Herz begehrt, und laß dann des Alten Bedenken folgen.

Heinrich reichte dem Vater bewegt die Hand. Anna und Marie, gedankenvoll, thaten das Gleiche.

Gute Nacht, meine Kinder, ja es ist Zeit, daß Ihr geht, der Abendstern blickt schon über der Kirche, meine Gedanken gehen mit Euch in die stillen Fluren, der Herr segne Eure Herzen.

Die drei Wanderer waren kaum am nahen Thore, als Anna mit Ungeduld das Gespräch ihres Schwiegervaters von der Freundin wissen wollte. Marie berichtete getreulich. Sehr lebendig und anerkennend schilderte sie das Leben und Wirken ihrer Freunde, und darauf die Gedanken des Vaters darüber. Die Zuhörer waren still geworden, und Marie, die da glaubte, des Vaters Tadel könnte sie traurig machen und entmuthigen, begann von neuem ihre Verdienste hervorzuheben.

Nicht doch, liebe Marie; sagte Adelin sanft, das mag ich nicht hören, viel lieber sind mir die Worte: »Ringet danach, daß ihr stille seid und das eure schaffet.« – Anna reichte ihrem Manne die Hand. Der Abendstern blinkte heller, neben ihm waren unzählige Sterne aufgetaucht, der Thau fiel als ein stiller Segen auf die jungen Saaten, auf Blüthen und Blumen, und Heinrich und Anna mit weit aufgethanen Herzen hatten ihre Augen der Gnade dort oben zugewendet.

Es war ihnen lieb, daß Marie sie verließ und sie allein waren im Pfarrhaus. Adelin blieb in seiner Stube, kämpfend und ringend, die Worte seines Vaters brannten ihm im Herzen. »Herr! prüf, erfahre wie ichs meine!« so war sein heißes Gebet. Schon oft hatte er eine innere Stimme vernehmen müssen, die ihm sein Vielthun bedenklich machte, aber er konnte seinem Eifer nicht gebieten, er mußte schaffen und arbeiten, er wollte Früchte sehen. Ja er hatte sich immer wieder überredet, daß er ein besonders ausgerüstetes und auserwähltes Werkzeug des Herrn sei, der ihn auf diesen Platz gestellt, um etwas ganz Außerordentliches zu wirken. Auch heute konnte er sich trotz allen Kämpfens von diesem Gefühle nicht losmachen, er konnte seinen Martha-Sinn dem Herrn nicht zu Füßen legen, er war mit dem »Eins ist Noth« noch nicht im Klaren. Still sein ist schwer, schwerer als Eifern, demüthig Glauben und Nehmen schwerer als Arbeiten und Schaffen. Wo wollen wir aber geben wenn wir das nehmen vergessen? wie arbeiten ohne den Segen des demüthigen Glaubens und des Stilleseins?

Die Zeit des Stilleseins wird auch kommen, tröstete sich Adelin, es ist jetzt noch zu viel zu thun. Erst arbeiten, so lange es Tag ist, erst muß es besser werden in der Welt, besser hier in der Stadt, besser hier in der Gemeinde. Besser auch in seinem Herzen, das fühlte er wohl, denn oft vermißte er selbst den Frieden darin, den er andern hineinpredigen wollte. Warum verletzten ihn denn Verleumdungen so sehr? Warum konnte er es nicht ertragen auch vor den Menschen einmal als ein schwacher und sündiger Mensch zu stehen? Und warum suchte er lieber Trost für diese Trübsal in nur noch größerer Wirksamkeit nach außen, in einer gewissen Selbstgerechtigkeit, anstatt solche Verleumdungen als ein Kreuz auf sich zu nehmen und still zu erwägen, seine Liebe daran zu prüfen und mit Wohlthun zu vergelten alle Bosheit?

Aehnliche Kämpfe als ihr Mann hatte Anna, die noch lange im Sternenschein im Garten auf und ab wandelte. Ihr Herz gehörte ganz und gar dem Herrn, sie fühlte sich so glücklich in dieser Hingabe, daß sie auch alle Menschen solches Glückes hätte theilhaftig wissen mögen. Diese Liebe trieb sie zum Eifer, und der Eifer führte sie auf Abwege. Auch sie vergaß über dem Vielthun des Stilleseins. Sie arbeitete ja doch im Reiche des Herrn, sie verkündigte sein Evangelium, sie folgte seinen Wegen; aber sie kam nicht bis zum Kreuztragen. »Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich,« spricht der Herr, und das ist nicht allein Kreuz und Unglück durch äußere Schicksale, es ist besonders das Kreuz von dem es heißt: »Die Christo angehören, kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden.« Grobe Sünden und Begierden zu kreuzigen ist nicht schwer, aber die feinen, die sich am geistlichsten stellen, zu erkennen und zu bekämpfen, wird den geübtesten Christen schwer, und es gehört ein recht heiliger Ernst dazu, die Winkel des Herzens zu überwachen und zu prüfen.

Auch Anna kam heut über diese Prüfung nicht hinaus. Wie könnte der Herr nur verlangen, daß du die Hände in den Schoß legen sollst, ist es nicht ihm zu Lieb und Nutzen daß du dich regst? O ja, so dachte Martha auch, und doch hatte Maria das beste Theil erwählt. Die Welt steht kopfschüttelnd vor diesem Geheimniß, aber die Kinder Gottes fühlen die selige Gewißheit im Ausspruche des Herrn. Auch Anna war dies Geheimniß erschlossen, auch sie fühlte Sehnsucht nach dem demüthigen Glauben und Ruhen im Herrn, nach dem »Lasset euch genügen,« aber sie konnte den sich so geistlich stellenden Gelüsten ihres Herzens nicht widerstehen, die Bewahranstalt, der Frauenverein, die Mädchenschule gingen ihr durch den Kopf, die Verleumdungen ihrer Kollegin regten sie auf, sie waren unverdienet. – Freilich, wenn sie sich nach ihres Schwiegervaters Rath prüfte, und sich fragte, ob sie nicht noch eine bessere Mutter, eine sorgsamere Herrschaft und Hausfrau hätte sein können, so mußte sie vor dem Herrn gestehen, daß sie manches versäumt, daß sie täglich Schuld auf Schuld gehäuft. Weinend kniete sie am Bette ihrer Kinder und flehte Kraft von oben. Ja sie weinte und rang nach Frieden und konnte den Stachel doch nicht los werden, denn dazwischen sagte eine Stimme im Herzen: wie bitter ists sich so verleumden zu lassen und wie Unrecht haben die Leute, denn gleich den besten Müttern der Stadt hast du für deine Kinder gesorgt, über äußeren Tand und weltliche Geselligkeit sie nie vergessen, hast sie bekannt gemacht mit ihrem Herrn und Heiland und mit ihnen im wärmsten Liebesverkehr gelebt. Eben so mit den Dienstboten, – sie standen ihrem Herzen, ihrer Theilnahme nahe, sie fühlte sich von ihnen geliebt. Und alle diese tröstlichen Bekenntnisse konnten sie nicht ruhig machen. Endlich ermannte sie sich, sie wolle dem Herrn zu Lieb jede Verleumdung tragen, aber nur noch entschiedener und muthiger den angebahnten Weg fortgehen, ja sie überredete sich, daß der Herr sie dazu berufen und ihrer nothwendig bedürfe. Ihren Feinden hatte sie verziehen. Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen! Das kann einem Christen nicht schwer werden. Anna hatte nur Segenswünsche im Herzen, und doch – »Liebet eure Feinde« was das heißt, so recht im tiefsten Sinne es verstehen, aber besonders in diesem verstandenen Sinne es ausführen, ist ein Geheimniß, welches nur den demüthigsten Kindern Gottes erschlossen ist. –


Der Sommer ging vorüber und Adelins Anhang in der Gemeinde so wie die Theilnahme und Mithilfe für seine innere Missionsthätigkeit war bedeutend gewachsen. Auch das Verhältniß mit seinem Kollegen war besser geworden. Adelin hatte seines Vaters Rath befolgt und alle Anfeindungen nicht nur mit Ruhe, auch mit größerer Liebe und mit mehrerem Zuvorkommen vergolten, und kürzlich gestand er Anna, daß der Oberprediger unter spöttischer und ironischer Form oft eine innere Bewegung zu verbergen suche, und daß, wenn er sich mit seiner Geistesschärfe einst dem Evangelium zuwende, könne er dem Herrn und der Kirche ein viel kräftigerer Diener werden, als viele andere, die schon jetzt mit ihren schwachen Gaben dem Herrn dienen.

Wenn wir uns doch immer sagen wollten: wer weiß, was der Herr mit dem und mit jenem noch vor hat? wer weiß was in seinem Herzen vorgeht, – so würden wir mehr lieben, und lieben können wir nicht zu viel, Liebe ist niemals am unrechten Orte angebracht.

Auch Anna hatte sich der Oberpredigerin freundlicher gemacht, und wenn diese wohl eine oberflächliche geschwätzige Frau schien, und manche Stunden in Whistkränzchen und Kaffeevisiten zugebracht hatte, so bemerkte Anna jetzt, daß sie, geleitet und in Liebe angeregt, dies auch zu opferen und die Zeit der Armen- und Kinderpflege zu widmen vermochte. Ja als gegen Weihnachten Annas Kinder und zwar, immer eins nach dem andern das Scharlachfieber bekamen, und Anna Tag und Nacht das Krankenzimmer nicht verlassen konnte, war die Frau Oberprediger ihre eifrigste Stellvertreterin. Mit Beschämung hörte Anna ihr großes Lob, selbst die Freundin Marie mußte gestehen, daß sie unermüdlich in ihrer Thätigkeit sei und dabei wenigstens keinen Widerspruch gegen das Evangelium zeige. Sie lehrte die Kinder christliche Lieder, las im Frauenverein Missionsschriften vor, und zeigte sich in großer Gutmüthigkeit bereit, sich belehren zu lassen. Sollte der Herr dich doch entbehren können? solltest du doch Zeit zum Stillesein haben? O ja, sie hatte sich die Zeit nicht nehmen können, da hatte der Herr sie ihr gegeben, in den stillen durchwachten Nächten hatte sie den Maria-Dienst lieben lernen, sie hatte sich noch nie so selig, so friedlich gefühlt als in dieser Zeit des Nichtsthuns. Ihr stilles gläubiges Tragen des Kreuzes, das ihr der Herr durch gefahrvolle Krankheit der Kinder aufgelegt, ihre dennoch ununterbrochene Liebe und Theilnahme für andere, leuchtete heraus aus dem Pfarrhaus und zündete manches Flämmlein in der Gemeinde an, ganz ohne ihr Wollen und Thun, ganz ohne das frühere rastlose Eifern und Arbeiten.

Wenn ihr stille bliebet so würde euch geholfen, durch stille sein und hoffen würdet ihr stark sein.

Immer stiller! immer stiller! laß o stilles Lamm mich sein!
Still im Frieden, still in Freuden, immer in die Still hinein.
Wenig Wort und viele Kraft, und ein still und sanftes Wesen,
Mehr im Wandel als im Wort, sei zu meinem Schmuck erlesen.


Es war wieder der heilige Abend vor Himmelfahrt, der Himmel so licht als im vergangenen Jahr, Anna saß im blühenden Garten, sie schaute auf zum Abendstern, sie schaute hin zu der Thränenweide am hohen Chor. Neben der Großmutter schlief jetzt eines von ihren Kindern. Ja der Herr hatte sie schwer geprüft, und doch schaute sie auf diese Zeit als auf die größeste Segenszeit zurück. Der Tod des Kindes war ihr die Brücke zum Frieden des Himmels; was der Herr in ihr angefangen, wollte er auch vollenden; er hatte ihren Martha-Sinn gebrochen, unter Angst und Herzweh hatte sie gelernt, alles dem Herrn zu opfern, selbst das Liebste, ein Kind ihres Herzens, sie hatte aber auch erfahren die Süßigkeit, zu den Füßen des Herrn zu sitzen, im Glauben und in der Liebe zu ruhen und zu harren, und hätte dies für alles in der Welt nicht wieder hingegeben. Im Frühjahr bekam ihr Mann das Nervenfieber, aber beide nahmen dieses Krankenlager nicht als ein Unglück, nein als ein rechtes Gnadengeschenk vom Herrn, sie fühlten beide wie er, der Allweise und Allgütige, sie in ihrer Schwachheit nicht verlassen sondern ihnen mächtig unter die Arme greifen wolle. Was Adelin mit eigner Kraft und eignem Kampfe nicht erringen konnte, das brachte ihm diese Krankheit. Aller Eifer, alle Ungeduld war verschwunden. O Herr! vergieb unserer Thorheit. Klein ganz klein wollen wir anfangen, in Demuth und Geduld abwarten, ob Du das Werk möchtest groß machen. So beteten Adelin und Anna, alle Vereine, alle Unternehmungen hatten sie dem Herrn übergeben und waren der Sorge und Unruhe los. Verleumdungen und Anfeindungen, die ihnen im vergangenen Jahre so wehe gethan, ihnen wie Dornen im Herzen gesessen, waren zu Rosen erblüht, Rosen der Demuth und wahrhaftigen Reue. Alle Beschuldigungen, und wenn sie äußerlich noch so unwahr erschienen, klangen jetzt in ihren Herzen an. O Herr, vergieb uns, so wie wir denen vergeben, deren Stimme Du zu unserer Besserung erweckt hast. O segne uns, segne unser ganzes Haus, gieb uns Deinen stillen Geist, laß uns viel arbeiten an uns selbst, und viel lieben unsere Brüder.


Am anderen Morgen hielt Adelin nach der Krankheit seine erste Predigt wieder. Welch eine stille Predigt. Sie war eigentlich nicht für die Gemeinde, sie war allein für ihn, sie war seines Herzens Rufen zum Herrn, sie war ein Flehen um Demuth und Kraft im Stillesein und Harren. Aber gerade weil seine Worte aus einem eignen bewegten Herzen kamen, bewegten sie die Herzen in der Gemeinde wie noch nie.

Nach der Kirche ging Adelin zu seinem Vater, wo er auch den Bruder wußte. Er sagte nicht, was sein Herz bewegte, aber im ganzen Wesen war der Nachklang der Predigt. Des alten Adelins Gebete waren erhört, beide Brüder hatte er nie so in Liebe mit einander gesehen. Der ältere war von des Bruders so ganz verändertem Wesen schon längst angeregt und lebendig geworden. Lieber Heinrich, sagte er, ich möchte mit Gottes Hilfe morgen früh eine Hausandacht mit meiner Familie und mit meinen Leuten anfangen, Ihr sollt mir beide rathen.

Heinrichs Auge ward feucht. Der Herr segne Dich, lieber Bruder, sagte er.

Am Nachmittage saß Vater Adelin mit seinen Kindern, mit Marien und Oberpredigers in der Gartenlaube, die Kleinen beider Familien spielten gegenüber auf dem Rasenplatz. O es war sehr schön. Anna betete im Stillen: Herr segne uns und gieb uns die rechte Gemeinschaft und Liebe. Adelin dachte: Könnten wir uns doch gewöhnen, alle unsere Brüder schon in ihrer künftigen Verklärung zu sehen und zu lieben! Wie still war es in beider Seelen, und wie selig, – das war ein schöner Friedenstag. Dort oben unter dem lichten blauen Himmel wehte des Herren Friedensgeist, er säuselte in den Blüthenbäumen in der ganzen lieblichen geschmückten Natur und waltete in den demüthigen Herzen dieser Menschen.

»Ringet danach, daß ihr stille seid und das Eure schaffet.«


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