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Drittes Kapitel

Vom 15. August bis 31. December 1895.

Nachdem die »Fram« frei geworden war, hatte sie einige Tage eine sehr gute Lage in dem Teiche; in der Nacht des 14. August trieb aber ein hoher Eisblock in der Rinne herab, die sich jetzt ein wenig erweitert hatte, und klemmte sich zwischen der Schiffsseite und dem äußern Rande des Teiches fest, sodaß dieser jetzt vollständig gesperrt war. Da wir diesen unbequemen und gefährlichen Koloß nicht gern so nahe an unserer Seite haben wollten, im Falle, daß wir den ganzen Herbst und Winter an derselben Stelle bleiben sollten, beschlossen wir, ihn wegzusprengen. Scott-Hansen und Nordahl nahmen dies sofort in die Hand und führten das Werk nach mehrtägiger Arbeit aus.

Am Sonnabend, 17. August, trat nachmittags plötzlich eine ziemlich starke Eispressung um uns herum ein. Im Laufe weniger Minuten wurde die »Fram« mit dem Heck 60 und mit dem Bug 40 Centimeter in die Höhe gehoben. Ohne Geräusch und ohne sich im mindesten überzulegen, wurde das schwere Schiff rasch und leicht, als ob es eine Feder gewesen wäre, höher gehoben, ein Schauspiel, das ebenso eindrucksvoll war, als es beruhigend wirkte.

Am nächsten Tage lockerte sich das Eis wieder etwas, und das Schiff wurde aufs neue flott. So blieb es bis zum Morgen des 21. August, als eine neue starke Eispressung begann. Das Schiff befand sich jetzt in einer sehr schlechten Lage, mit einem hohen Hügel auf jeder Seite, welche es in einer Länge von 9 Meter einklemmten und 20-25 Centimeter in die Höhe schraubten. Doch hörte die Pressung schon nach ungefähr einer halben Stunde auf, worauf die »Fram« wieder in ihre alte Lage zurücksank.

Sobald sich Anzeichen von Eispressung zeigten, versuchten wir stets, das Schiff soweit wie möglich von dem bedrohten Punkte fortzuziehen, was uns gelegentlich gelang. Allein bei dem stürmischen Wetter mit südlichen Winden, das um diese Zeit herrschte, war es oft ganz unmöglich, das Schiff in Bewegung zu bringen, da es mit seiner schweren Takelung und dem hohen Zeltdach vorn dem Winde eine zu große Fläche bot. Unsere vereinten Kräfte waren oft nicht im Stande, das Schiff nur um einen Centimeter zu bewegen, und beständig brachen die Eisanker, Vertäuungen und Verholtrossen.

Am 22. August gelang es uns endlich, das Schiff ein wenig weiter zu verholen, sodaß wir hoffen konnten, dem Eisdruck zu entgehen, wenn das Eis wieder zu pressen beginnen sollte. Als es bald nachher lockerer und auch zerstückelter wurde als vorher, machten wir nochmals den Versuch, das Schiff etwas weiter zu holen. Jedoch mußten wir ihn bald aufgeben, weil zwischen den beiden großen Schollen nicht Raum genug war. Wir lagen nun bis zum 2. September an derselben Stelle, während beständig ein halber Sturm aus Südwest mit hin und wieder starkem Regen wehte. Am Abend des 30. August hatten wir eine schwere Regenböe, die die Eisbedeckung der Takelung löste und einen fürchterlichen Spektakel verursachte, wenn die Eisstücke klappernd auf das Deck, das Deckshaus und das Zeltdach herunterstürzten.

Unser »Gut« wurde um diese Zeit von Wind, Regen, Eisdruck und andern ähnlichen wackern Arbeitern gründlich gepflügt, geeggt und drainirt. Dann kam die langweilige Arbeit, die Gegenstände aus dem Schiffe zu schaffen, was das Zerschneiden und Parcelliren fast des ganzen »Gutes« nöthig machte, sodaß, was für uns frei blieb, knapp und beschränkt genug war.

Das auf diese Weise verkleinerte »Gut« bildete jetzt eine annähernd länglich-viereckige Scholle mit der längern Seite von Ost nach West, rings von mehr oder weniger offenen Spalten und Rinnen umgeben. Die »Fram« lag an der Nordseite in der Nähe der Nordostspitze mit dem Bug nach Westen vertäut. Unmittelbar hinter dem Schiffe, von der Spitze nur durch eine schmale Rinne getrennt, lag eine große Scholle, auf welcher außer andern Dingen ein Theil unsers Kohlenvorraths lagerte. In weiter Ferne nach Westen trieb noch immer der Große Hügel.

Während die übrigen Seiten des »Gutes« ungefähr geradlinig waren, bildete die Ostseite einen concaven Bogen oder eine Bai, die ein ausgezeichnetes Winterlager für die »Fram« bot. Jedoch war keine Möglichkeit vorhanden, das Schiff dort hineinzubringen, solange der Kanal zwischen dem »Gut« und der Scholle nach Osten hin geschlossen blieb. Am Nachmittage des 2. September lockerte sich das Eis endlich so viel, daß wir einen Versuch machen konnten. Mit Hülfe unsers Geschirrs gelang es uns, die »Fram« eine Schiffslänge nach Osten zu holen; doch war es unmöglich, sie für den Augenblick noch weiter zu bringen, da das neue Eis bereits ziemlich dick (die Temperatur war nachts -5° C.) und auch schon ziemlich stark zusammengeschoben war. Es nutzte auch nichts, die Eissäge in Gang zu setzen und einen Kanal zu schneiden, da das Schlammeis so tief war, daß wir die Bruchstücke nicht zur Seite oder untereinanderschieben konnten.

Am nächsten Tage begann ein halber Sturm aus Südosten mit Regen, doch nahm der Wind um 6 Uhr ab und ging nach Süden herum, und um 8 Uhr fing das Eis um die Rinne herum an, sich ziemlich stark zu lockern. Da wir jetzt mehr Platz hatten, machten wir beim Hauen eines Weges durch das neue Eis gute Fortschritte, und bis Mittag hatten wir die »Fram« in die Bai geholt und im Winterhafen vertäut, von dem wir alle hofften, daß es der letzte sein möchte.

Als Nansen und Johansen aufbrachen, hatten sie uns sieben Hunde zurückgelassen, die Hündin »Sussi« und die sechs jüngsten Hunde: »Kobben«, »Snadden«, »Bella«, »Skvint«, »Axel« und »Boris«. Am 25. April brachte »Sussi« 12 Junge zur Welt. Wir hatten auf Deck einen behaglichen kleinen Stall für sie hergestellt und ihn mit Renthierfellen ausgefüttert. Pettersen kam morgens herunter und erzählte uns, »Sussi« laufe winselnd und heulend umher, weshalb Mogstad und ich hinaufgingen und sie in den Stall einschlossen, wo sie sofort ein Junges zur Welt brachte. Als der Nachmittag kam und wir sahen, daß unsere Gemeinde immer mehr Bürger bekam, befürchteten wir, daß die Mutter nicht im Stande sein würde, den Wurf warm zu halten, und brachten daher die ganze Familie in den Salon. Sämmtliche Junge waren groß und hübsch, die meisten ganz weiß; sie sahen aus, als ob sie richtige kleine »Bjelkier« werden würden, wie die Samojeden die weißen Hunde nennen. Sie wuchsen und gediehen als Kajütspassagiere ausgezeichnet und wurden von jedem verzogen; nachdem sie einen Monat ihr Heim im Salon gehabt hatten, brachten wir sie nach dem erwähnten Stall auf Deck. Als sie ein paar Wochen dort gewesen waren, schien es, als ob sie plötzlich zu wachsen aufhörten, obgleich sie beständig mit rohem Bärenfleisch, Milch und den Fleischabfällen von unserer Tafel gefüttert wurden. In der zweiten Augustwoche verendeten zwei der Jungen an Krämpfen. Ein drittes gelang es dem Doctor vermittelst warmer Bäder und sorgsamer Pflege zu retten. Gegen Ende des Monats wurde wieder eins von den Jungen von Krämpfen ergriffen und verendete, obwol es ebenfalls mit warmen Bädern behandelt wurde und behaglich untergebracht gewesen war, erst im Salon und dann im Arbeitsraum.

Als im Anfang September die häufigen Regengüsse es im Stalle und auf Deck sehr feucht und unbehaglich machten, bauten wir draußen auf dem Eise einen Hundestall mit einer Persenning als Dach und einem Fußboden aus Planken, auf denen reichlich Späne ausgestreut waren. Während des Baues ließen wir die ganze Hundemeute auf das Eis hinaus. Allein nachdem sie etwa eine halbe Stunde umhergespielt hatten, bekamen die Jungen eins nach dem andern Krämpfe; diese Anfälle gingen jedoch schnell vorüber. Wir überschütteten die Hunde mit Seifenwasser und brachten sie dann in ihrem neuen Heim unter.

Als die Jungen älter wurden, mußten wir sie scharf beobachten, wenn wir sie auf das Eis hinausließen. Sie spielten und tummelten sich in solch unbändiger Freude umher, daß es oft vorkam, daß der eine oder andere von ihnen ins Wasser fiel und von dem derzeitigen »Hundevogt«, oder wer sonst gerade zur Hand sein mochte, mit Mühe wieder herausgefischt werden mußte. Außerdem gewannen sie auch bald Geschmack an längern Excursionen und folgten unsern Spuren weithin über das Eis.

Eines Tages waren der Doctor und ich hinausgegangen, um photographische Aufnahmen zu machen. In der Entfernung von etwa einem Kilometer von dem Schiffe trafen wir auf einen großen Süßwasserteich, auf dessen einladendem, spiegelglattem Eise wir eine kurze Rast hielten. Während wir gemächlich lagen und plauderten, sahen wir »Kobben« uns nachkommen. Sobald er uns erblickte, blieb er stehen und wunderte sich, was für merkwürdige Geschöpfe wir sein könnten. Als wir aber auf allen Vieren zu ihm hinzukriechen begannen, fand »Kobben« aus, wozu er die Beine habe. Er machte sich auf den Rückweg und rannte, als ob es sein Leben gälte; und selbst als wir zum Schiffe zurückkamen und mehrere der andern jungen Hunde uns entgegenliefen und uns erkannten, war das arme Geschöpf noch von so panikartiger Furcht ergriffen, daß es eine ganze Weile dauerte, ehe es uns nahe zu kommen wagte.

Am 28. September verloren wir wieder einen der jungen Hunde; er wurde von Krämpfen befallen und lag den ganzen Tag winselnd und heulend umher. Im Laufe des Abends wurde er an der einen Seite gelähmt, und da keine Hoffnung war, ihn zu retten, so machten wir seinen Leiden ein Ende. Es war traurig anzusehen, wie die hübschen kleinen Thiere litten, wenn die Krämpfe sich einstellten.

Am 9. October bekam »Skvint« Junge. Aber da das junge Thier sie in der so kalten Jahreszeit nicht hätte großziehen können, ließen wir ihr versuchsweise nur ein Junges; die übrigen wurden sofort getödtet. Eine Woche darauf warf »Sussi« zum zweiten mal, zwei Hunde und neun Hündinnen. Wir ließen ihr die beiden männlichen und ein weibliches Junges.

Es erwies sich nicht als rathsam, die beiden Mütter mit ihren Familien in demselben Stalle zu halten. Wenn eine von ihnen einen Augenblick hinauslief, nahm die andere sofort alle Jungen unter ihre Obhut, und es entstand eine allgemeine Beißerei, sobald die erstere wiederkam und ihr Eigenthum zurückverlangte. Aehnliches mußte ohne Zweifel auch in einer Nacht mit »Skvint« passirt sein, die Mogstad morgens vor der Thür des Stalles liegend und so fest an das Eis gefroren fand, daß es uns sehr viel Mühe kostete, sie wieder los zu bekommen. Sie muß eine nichts weniger als angenehme Nacht gehabt haben – das Thermometer war bis auf -33° C. gefallen gewesen; der Schweif war an eins der Hinterbeine festgefroren, sodaß wir den Hund in den Salon hinab nehmen mußten, um ihn wieder aufzuthauen. Um solchen Mißgeschicken vorzubeugen, ließ ich ihr eine getrennte Villa bauen, wo sie mit ihrem Kinde in Frieden leben konnte.

Als Mogstad eines Abends die jungen Hunde für die Nacht unterbrachte, fehlten zwei von ihnen. Hendriksen und ich machten uns sofort mit Laternen und Büchsen auf, um nach ihnen zu suchen. Wir glaubten, es sei ein Bär in der Nähe, da wir schon früher am Tage auf dem Eise östlich vom Schiffe viel Gebell gehört hatten; jedoch konnten wir keine Fährte finden. Nach dem Abendessen gingen wir zu Fünf, alle mit Laternen, nochmals auf die Suche. Nachdem wir eine Stunde lang an den Rinnen entlang und zwischen den Eisrücken gesucht hatten, fanden wir die Thiere endlich an der andern Seite einer neuen Rinne. Obwol das junge Eis auf derselben stark genug war, um sie zu tragen, waren sie, nachdem sie ins Wasser gefallen waren, so furchtsam, daß sie nicht zu uns herüberzukommen wagten und wir einen weiten Umweg machen mußten, um sie zu holen.

Um Mitte December nahmen wir die jüngsten der jungen Hunde an Bord, da sie jetzt groß geworden waren und reißaus nahmen, wenn man sie nicht sehr sorgfältig bewachte. Das Fallreep wurde bei Nacht offen gelassen, sodaß die Mütter vom Eise zu ihnen kommen konnten, wenn sie wollten.

Was das Temperament anlangte, so bestand zwischen der Generation Hunde, die wir ursprünglich an Bord genommen hatten, und denen, die wir jetzt besaßen, ein großer Unterschied. Während die erstern große Kämpfer waren und einander beständig befehdeten, oft bis zum Tode, waren die letztern äußerst ruhig und wohlerzogen, aber wild und wüthend genug, wenn es auf die Verfolgung eines Bären ging. Hin und wieder entstand ein kleiner Streit unter ihnen. »Axel« war der schlimmste von allen. Kurz vor Weihnachten machte er plötzlich einen wüthenden Angriff auf den harmlosen »Kobben«, gegen den er einen Groll hegte. Er bekam aber mehrere mal zum Abendbrot ein Tauende zu kosten, und das verbesserte seine Manieren ganz erstaunlich.

Während der ersten Hälfte September war das Wetter ziemlich unbeständig, mit vorherrschend westlichen und südwestlichen Winden, ziemlich viel Regen und Schnee und häufigen Störungen im Eise. Die Kälte bei Nacht, die manchmal -10° oder -11° C. erreichte, machte das junge Eis bald stark genug, um einen Mann zu tragen, ausgenommen am Heck des Schiffes, wo aller Schmutz über Bord geworfen wurde. Hier war das Eis sehr stark zerstückelt und bildete dicken Schlamm, der überfroren war, aber so dünn, daß er kein größeres Gewicht trug. Daher kam es, daß drei Mann an einem Tage, einer nach dem andern, an derselben verrätherischen Stelle eine Taufe erhielten.

Der erste war Pettersen. Er sollte um das Heck herumgehen, um nach der an der Backbordseite des Schiffes hängenden Logleine zu sehen; allein noch ehe er so weit kam, brach er durch das Eis. Kurz nachher passirte Nordahl dasselbe, und eine halbe Stunde später war Bentsen an der Reihe, hineinzufallen. Er gerieth bis über den Kopf ins Wasser, tauchte aber sofort wie ein Kork wieder auf und kletterte, ohne sich einen Augenblick aufzuhalten, wacker auf den Rand des Eises hinauf. Die Beobachtung der Logleine mußte verschoben werden, bis an Bord großes Wechseln und Trocknen der Kleider stattgefunden hatte.

Am 15. September lockerte sich das Eis so sehr, daß zwischen uns und dem Großen Hügel ein richtiger kleiner See lag. Am nächsten Tage war das Eis noch immer so unruhig, daß wir ernstlich daran denken mußten, die Gegenstände, die wir dort noch liegen hatten, zurückzuholen. Gegen Mittag unternahm ich einen Gang nach dem Hügel hinüber, um einen geeigneten Transportweg zu suchen, und entdeckte auch einen ganz ausgezeichneten. Aber als ich einige Stunden später mit Leuten und Schlitten aufbrach, um die Sachen zu holen, hatten sich um das »Gut« so viele Rinnen geöffnet, daß wir den Versuch für diesen Tag aufgeben mußten. Während des ganzen September und bis weit in den October hinein waren fast immer Pressungen im Eise. Es bildeten sich auf allen Seiten neue Rinnen, darunter einige nahe beim Schiffe. Unser Winterhafen erwies sich als ausgezeichnet. In der Bai, wo die »Fram« vertäut lag, zeigte sich nur sehr wenig Bewegung, dank dem neuen Eise, das wir hier um uns herum hatten und dessen Druck nur ganz unbedeutend war. Rasch war es zertrümmert und die Bruchstücke über- und untereinandergeschoben, während die beiden festen Spitzen der Bai die Hauptangriffe auszuhalten hatten. Ein- oder zweimal schien es, als ob die »Fram« wieder flott werden würde, ehe der Winter sie endgültig in seine Eisfesseln schlug. Am 25. October lockerte sich das Eis in der uns am nächsten liegenden Rinne so sehr, daß das Schiff vom Heck bis zu den Fockrüsten frei lag; allein bald darauf schob sich das Eis wieder zusammen, sodaß das Schiff aufs neue fest eingefroren war. Der stärkste Eisdruck fand am 26. und 27. October statt, doch wurde das Schiff nicht sehr heftig angegriffen. Die Eispressungen sind jedoch im Winter noch unangenehmer wegen des betäubenden Lärms, den sie machen, wenn das Eis gegen die Schiffsseite geworfen wird. Ganz anders ist es im Sommer, wenn das Eis zäher und elastischer ist und die Pressung ruhig vor sich geht.

Nach dem 1. November trat eine ruhigere Periode ein; die Pressungen hörten fast vollständig auf, die Kälte nahm zu, der Wind blieb östlich, und wir trieben während des Restes des Jahres in stetigem Tempo nach Norden und Westen.

Während des Herbstes hatte die Drift unsere Geduld auf eine schwere Probe gestellt. Infolge der vorherrschenden westlichen Winde setzte sie stetig nach Osten, und vergeblich blickten wir Tag für Tag nach einer Veränderung aus. Das Einzige, was unsere Stimmung aufrecht erhielt, war die Kenntniß, daß, wenn wir rückwärts gingen, dies nur langsam, manchmal nur sehr langsam war. Selbst mehrere Tage anhaltender westlicher Wind brachte uns nicht so weit nach Osten, daß nicht ein oder zwei Tage günstiger Wind es uns ermöglicht hätten, das, was wir verloren hatten, mehr als einzuholen.

Der 22. September war der zweite Jahrestag unsers Einfrierens, und dieses Ereigniß wurde abends mit einer kleinen Festlichkeit gefeiert. Wir hatten allen Grund, mit der Drift des zweiten Jahres zufrieden zu sein, da wir beinahe doppelt so weit vorwärts gekommen waren wie im ersten Jahre, und wenn das so anhielt, dann konnte kaum ein Zweifel sein, daß wir im Herbste 1896 aus dem Eise frei kommen würden.

Wie man aus der nachstehenden Tabelle ersehen wird, brachte der 22. September uns noch eine bemerkenswerthe Wendung zum Bessern. An diesem Tage setzte die Winterdrift allen Ernstes ein, die dann ohne Unterbrechung während des Restes des Jahres anhielt. sodaß wir an diesem Tage bis zur zweiten Woche im Januar von 82° 5' nach 41° 41' östlicher Länge getrieben sind, 3½ Kilometer täglich.

Datum Breite Länge Windrichtung
6. September 1895 84° 43' 79° 52' SW.
11.September 1895 84° 59' 78° 15' O.
22. September 1895 85° 2' 82° 5' Windstille.
9. October 1895 85° 4' 79° 30' O.
19. October 1895 85° 45' 78° 21' O. z. N.
25. October 1895 85° 46' 73° 25' NO.
30. October 1895 85° 46' 70° 50' NNW.
8. November 1895 85° 41' 65° 2' O.
15. November 1895 85° 55,5' 66° 31' ONO.
25. November 1895 85° 47,5' 62° 56' NO. z. N.
1. December 1895 85° 28' 58° 45' O.
7.December 1895 85° 26' 54° 40' NO.
14. December 1895 85° 24' 50° 2' Windstille.
21. December 1895 85° 15' 47° 56' NO.
28. December 1895 85° 24' 48° 22' NW.
9. Januar 1896 84° 57' 41° 41' N.

Am 11. October holten wir die Logleine ein und schlugen gerade hinter dem Heck ein neues Loch dafür ins Eis. Bis dahin hatte das Log nur 100 Meter Leine gehabt; jetzt gaben wir ihm 300 Meter.

Nach Mitte September nahm die Kälte stetig zu, wie die folgenden Beobachtungen zeigen.

Datum Minimum-Temperatur
18. September 1895 -12,5° C.
26. September 1895 -24,0°  "
19. October 1895 -30,0°  "
5. November 1895 -32,2°  "
9. November 1895 -38,3°  "
22. November 1895 -43,6°  "
31. December 1895 -44,6°  "

Das Wetter war während der letzten drei Monate des Jahres 1895 in der Regel schön mit klarer Luft und leichten Winden; nur hin und wieder (z. B. am 29. October und am 11., 26. und 27. November) frischte der Wind bis zu einem halben Sturme auf mit einer Geschwindigkeit bis zu 15 Meter in der Secunde.

Anfang September fanden wir, daß die »Fram« immer mehr Wasser zog, sodaß wir jeden Tag eine tüchtige Arbeit hatten, das Schiff auszupumpen und auszuschöpfen. Vom 23. an nahm das Leck jedoch stetig ab, und in der zweiten Octoberwoche war der Maschinenraum ganz wasserdicht. Das Schiff leckte indeß im Hauptraum noch ein wenig; allein auch hier hörte das Lecken bald auf, nachdem das Wasser in den Schiffsseiten gefroren war. Im übrigen benutzten wir unsere Zeit zu allerlei Arbeiten im Schiffe, indem wir das Eis im Raume abschlugen und entfernten, verschiedene Gegenstände reinigten, in Ordnung brachten u. s. w.

Erst am 23. September gestattete der Zustand des Eises, unsere Absicht auszuführen, die Gegenstände von unserm Großen Hügel zurückzuholen. Die Bahn war an diesem Tage für die Schlitten mit Neusilberkufen ausgezeichnet, wohingegen hölzerne Kufen ziemlich schwer glitten. Wir hatten außerdem auch hier und dort einige Verbesserungen des Weges vorgenommen, sodaß der Transport der Sachen leicht und schnell von statten ging. Insgesammt brachten wir 36 Kisten mit Hundekuchen und vier Kannen Petroleum nach dem Schiffe zurück. Am nächsten Tage holten wir, was zurückgeblieben war, und stapelten alles in der Nähe des Schiffes auf dem Eise auf.

Am 16. September begaben sich Scott-Hansen und Nordahl an die Vorbereitungen zum Baue eines geeigneten Hauses für ihre magnetischen Beobachtungen. Ihr Baumaterial bestand aus großen Blöcken neuen Eises, die sie auf Schlitten stapelten und mit Hülfe der Hunde nach der von ihnen ausgesuchten Baustelle fuhren. Abgesehen von einer oder zwei Versuchsfahrten, die Scott-Hansen vorher mit den Hunden gemacht hatte, war dies das erste mal, daß sie als Zugthiere verwendet wurden. Sie zogen gut, und die Fahrt ging ausgezeichnet. Das Haus wurde aus behauenen Eisblöcken gebaut, die nach innen etwas schräg abfallend übereinander aufgestellt waren, sodaß es nach der Vollendung einen compacten runden Eisdom bildete, einem finnischen Zelte nicht unähnlich. Ein bedeckter Gang aus Eis mit einer hölzernen Fallthür führte in das Haus hinein.

Als das Observatorium vollendet war, gab Scott-Hansen einen Einzugsschmaus, zu welcher Gelegenheit das Haus prächtig decorirt worden war. Es war mit einem Sofa und mit Lehnstühlen möblirt, die mit Bären- und Renthierfellen bedeckt waren. Das Fundament, auf welchem die magnetischen Instrumente aufgestellt werden sollten, war mit einer Flagge geschmückt, und eine Eisscholle diente als Tisch. Auf der letztern stand eine Lampe mit rothem Schirm, und an den Wänden war eine Anzahl rother Papierlaternen angebracht. Die Wirkung war eine sehr festliche, und in der gehobensten Stimmung saßen wir in dem Raume beisammen. Unser liebenswürdiger Wirth richtete an jeden einige humoristische Worte. Pettersen sprach den Wunsch aus, daß dies die letzte Eishütte sein möge, die Scott-Hansen auf dieser Reise baue, und daß wir alle im nächsten Herbst um diese Zeit zu Hause und um nichts schlimmer daran sein möchten als jetzt. Pettersen's frische, ungekünstelte kleine Ansprache wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen.

Im übrigen hatte Pettersen um diese Zeit gerade ein neues Amt angetreten, indem er vom 10. September ab die ganze Verwaltung von Juell's früherer Domäne übernommen hatte, ein Departement, dem er sein ganzes Herz zuwandte und in welchem seine Leistungen jeden aufs vollständigste befriedigten. Die einzige Abtheilung der Kochkunst, mit der er nichts zu thun haben wollte, war das Backen der Weihnachtskuchen, für die Juell selbst zu sorgen hatte, als ihre Zeit herankam.

Als der Winter einsetzte, bauten wir uns auch eine neue Schmiede an Stelle derjenigen, die am 27. Juli weggetrieben war. Sie wurde auf dem Eisrücken hergestellt, wo die Boote und ein Theil der Vorräthe von dem Großen Hügel aufbewahrt wurden. Ihre Einrichtung war ungefähr die gleiche wie bei der frühern Schmiede. Wir hatten erst in dem Eisrücken eine Höhle von genügender Größe gemacht und sie dann mit Eisblöcken und Schnee überdacht.

Als das Jahr dahinschwand und die Winternacht bevorstand, verließen uns nacheinander alle Seethiere und Zugvögel, die sich während des Sommers um uns herum getummelt und unsere Sehnsucht erweckt hatten. Sie machten sich nach dem Süden davon, zu Sonnenschein und Licht und gastfreundlichem Küsten, während wir noch einen weitern Winter hier in Eis und Dunkelheit liegen sollten. Am 6. September sahen wir die letzten Narwale in den Rinnen um das Schiff ihre Luftsprünge machen, und einige Tage später verabschiedete sich die letzte Schar Raubmöven. In diesen Breiten bewegt sich die Sonne rasch vom ersten Tage an, an dem sie im Süden über den Horizont blickt, bis zu der Zeit, in der sie den ganzen Tag und die ganze Nacht den Himmel umkreist; noch schneller scheinen ihre Bewegungen aber zu sein, wenn sie im Herbste auf ihrer abwärts führenden Bahn ist. Ehe man weiß, woran man ist, ist sie verschwunden, und aufs neue umfängt einen die schwer lastende Dunkelheit der arktischen Nacht.

Am 12. September hätten wir die Mitternachtssonne zum letzten male sehen müssen, wenn es klar gewesen wäre; und schon am 8. October erblickten wir um Mittag den letzten Schimmer des Sonnenrandes. Auf diese Weise geriethen wir auf ungefähr 85° nördlicher Breite in die längste arktische Nacht, die menschliche Wesen bisjetzt durchlebt haben. Fortan gab es nichts, das für einen Augenblick Tageslicht genannt werden konnte, und um den 26. October war kaum noch ein Unterschied zwischen Tag und Nacht bemerkbar.

So oft es die Zeit gestattete und die Oberfläche nur irgendwie günstig war, schweiften wir, entweder einzeln oder zu mehrern, auf Schneeschuhen in der Nachbarschaft des Schiffes umher. Als wir am Morgen des 7. October alle auf Schneeschuhen unterwegs waren, fand der Steuermann einen angetriebenen Baumstamm von etwa 2 Meter Länge und 16 Centimeter Stärke; an dem Stamme war noch ein Stück Wurzel. Nachmittags fuhren der Steuermann und ich mit einem Handschlitten hin und holten den Stamm. Er war ohne Zweifel in einem der sibirischen Wälder gewachsen und von der Flut oder der Strömung eines Flusses fortgerissen und in die See hinausgeführt worden, um von dem Treibeis hierher getragen zu werden.

Außer den Schneeschuhläufen unternahmen wir häufig auch Spaziergänge auf dem Eise, und am 20. November gab ich Befehl, daß jeder sich täglich zwei Stunden Bewegung in frischer Luft machen solle. Ich selbst war ein sehr großer Freund dieser Wanderungen, die Seele und Körper erfrischen, und ging oft vier, fünf Stunden täglich auf dem Eise hin und her, in der Regel zwei Stunden morgens und zwei Stunden nachmittags.

Am 8. October stellten Scott-Hansen und Mogstad eine Probe an im Ziehen der Schlitten mit 115 Kilogramm Fracht. Sie brachen um 9½ Uhr morgens auf und kehrten um 5 Uhr nachmittags zurück, nachdem sie sich etwa 6 Kilometer vom Schiffe entfernt und ziemlich schwieriges Terrain passirt hatten.

Wir glaubten in der That nicht, daß die »Fram« auch nur die geringste Gefahr liefe, bei Eispressungen zerdrückt zu werden; es war dies aber möglich oder wenigstens denkbar, wir hatten also auf alle Fälle die Pflicht, darauf vorbereitet zu sein. Demgemäß wandten wir viel Arbeit und Sorgfalt auf, um uns gegen eine etwaige Ueberraschung zu sichern.

Gegen Ende October legten wir auf dem Eise ein neues Depot an, das aus Proviant für sechs Monate, sowie einer vollen Ausrüstung von Schlitten, Kajaks, Schneeschuhen u. s. w. bestand. Der Proviant wurde auf fünf verschiedene Haufen vertheilt, die so aufgestapelt wurden, daß die Kisten in jedem Haufen einen Bogen bildeten. Bei einer solchen Verstauung konnten nie mehr als zwei Kisten verloren gehen, selbst wenn das Schlimmste eintreten und das Eis gerade unter einem Haufen sich spalten sollte. Der Proviant bestand, wie man aus der S. 417 mitgetheilten Liste ersehen hat, zum Theil aus Pemmikan, einem sehr nahrhaften Nahrungsmittel, das einen ausgezeichneten Labskaus gibt. Aus 200 Gramm Pemmikan, 100 Gramm Brot und 120 Gramm Kartoffeln läßt sich eine sehr reichliche Portion schmackhaften Labskaus herstellen.

Am 28. November passirten wir den 60. Längengrad und feierten diese Gelegenheit durch ein Fest. Der Salon war mit Flaggen decorirt, und es wurde ein ziemlich üppiges Mittagsmahl servirt mit Kaffee hinterher, während dem Abendessen Früchte und andere gute Dinge als Nachtisch folgten. Dieser Längengrad, in dessen Nähe Kap Fligely auf Franz-Joseph-Land liegt und der durch Chabarowa geht, wo wir vor 2¼ Jahren den letzten schwachen Spuren der Civilisation Lebewohl gesagt hatten, gab uns das Gefühl, als ob wir uns wieder der Welt und dem Leben näherten.


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