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Siebentes Kapitel

Endlich Land!

Mittwoch, 24. Juli. Endlich hat das Wunder sich ereignet. Land, Land , nachdem wir unsern Glauben daran schon beinahe aufgegeben hatten! Nach fast zwei Jahren sehen wir wieder über die nie endende weiße Linie dort am Horizont etwas aufsteigen. Diese weiße Linie hat sich seit vielen Jahrtausenden über dieses einsame Meer ausgedehnt und wird sich in künftigen Jahrtausenden ebenso darüber ausdehnen. Wir verlassen das Eis und lassen keine Spur hinter uns zurück; denn die Fährte unserer kleinen Karawane über die endlosen Ebenen ist längst verschwunden. Ein neues Leben beginnt für uns, während das Eis immer dasselbe bleibt.

Wie lange hat es in unsern Träumen gespukt, dieses Land, und nun kommt es wie eine Vision, wie ein Feenland! Schneeweiß wölbt es sich über dem Horizont wie ferne Wolken, von denen man fürchtet, daß sie im nächsten Augenblick verschwinden könnten. Das Wunderbarste aber ist, daß wir das Land während der ganzen Zeit gesehen haben, ohne es zu wissen. Ich habe es vom »Sehnsuchtslager« aus mehreremal studirt, in dem Glauben, daß es Gletscher seien, bin aber stets zu dem Schlusse gekommen, daß es nur Wolken sind, weil ich niemals einen dunkeln Punkt entdecken konnte. Außerdem schien es seine Form zu wechseln, was meiner Meinung nach dem Nebel zugeschrieben werden muß, der stets darüber lagerte; es kam aber mit seiner merkwürdig regelmäßigen Wölbung immer an derselben Stelle wieder. Jetzt erinnere ich mich jenes dunkeln Felsens, den wir im Lager östlich von uns sahen und den ich für einen Eisberg hielt. Es muß irgendein kleines Inselchen Diese Annahme ist äußerst zweifelhaft. gewesen sein.

Das Eis war gestern zerstückelter und aufgebrochener als je; es war in der That eine harte Arbeit, sich mit Gewalt einen Weg über Eisrücken, die wie wahre Berge waren, mit Thälern und Schluchten dazwischen, zu bahnen; aber wir befanden uns in gehobener Stimmung und machten Fortschritte. Bei Rinnen, über welche ein Uebergang schwer zu finden war, zauderten wir nicht, die Kajaks zu Wasser zu bringen, wodurch wir bald hinüberkamen. Manchmal gelangten wir nach einer sehr schlechten Stelle auf eine kurze Strecke flaches Eis, über das es mitten durch Tümpel und Lachen wie im Fluge ging. Als ich gestern Vormittag einmal eine Strecke vorauf war, bestieg Johansen einen Hügel, um über das Eis Ausschau zu halten. Er bemerkte einen seltsamen schwarzen Streifen über dem Horizont, hielt ihn aber, wie er sagte, für eine Wolke, und ich dachte nicht weiter daran. Als ich aber eine Weile später ebenfalls einen Hügel erstieg, um das Eis zu überschauen, bemerkte ich denselben schwarzen Streifen; er lief vom Horizont schräg hinauf in etwas, das ich für eine weiße Wolkenbank hielt. Je länger ich die Bank und den Streifen ansah, desto verdächtiger kamen sie mir vor, bis ich mich veranlaßt fand, das Fernrohr zu holen. Kaum hatte ich dasselbe auf den schwarzen Streifen gerichtet, als mir plötzlich einfiel, daß das Land sein müsse, das nicht einmal weit entfernt sein könne. Es war ein großer Gletscher, aus welchem schwarze Felsen emporragten. Nicht lange nachher überzeugte sich auch Johansen mit dem Glase, daß wir wirklich Land vor uns hätten. Eine ausgelassene Freude erfüllte uns beide. Dann sah ich eine ähnliche gewölbte weiße Linie ein wenig weiter östlich. Dieselbe war jedoch zum größten Theile mit weißem Nebel bedeckt, in welchem sie nur schwach zu unterscheiden war, und wechselte beständig die Form. Bald darauf kam sie jedoch vollständig heraus; sie war beträchtlich größer und höher als die erste, jedoch war kein schwarzer Flecken darauf zu sehen. So also sah das Land aus, zu dem wir jetzt gekommen waren! Ich hatte es mir in vielen Formen vorgestellt, mit hohen Spitzen und glänzenden Firnfeldern, aber nie so wie dieses. Es war nichts Freundliches daran, doch war es uns darum in der That nicht weniger willkommen, und im ganzen konnten wir auch bei all dem Schnee, der hier fällt, nicht anders erwarten, als daß es schneebedeckt sein würde.

Wir schlugen nunmehr unser Zelt auf und nahmen ein der Gelegenheit entsprechendes Festmahl ein: ein Labskaus aus Kartoffeln (zum vorletzten mal, wir hatten sie lange Zeit für diese Gelegenheit aufgespart), Pemmikan, getrocknetem Bären- und Seehundfleisch und Bärenzungen, alles durcheinandergehackt. Dann hatten wir einen zweiten Gang, bestehend aus Brotkrumen, in Bärenfett gebacken, sowie Vrilspeise und Butter und ein Stück Chocolade zum Nachtisch.

Wir hielten das Land für so nahe, daß es unmöglich lange dauern könne, bis es erreicht sei, gewiß nicht länger als bis zum nächsten Abend. Johansen war sogar sicher, daß wir es noch am selben Abend erreichen würden. Aber nichtsdestoweniger sollten noch dreizehn Tage mit derselben einförmigen Quälerei über das Treibeis vergehen.

Donnerstag, 25. Juli. Als wir gestern Abend wegen des Nebels halt machen mußten, hatte ich das Gefühl, daß wir ziemlich nahe an Land gekommen seien. Diesen Morgen, als wir aufgestanden waren, war glänzender Sonnenschein und das Erste, was Johansen that, als er für mich Wasser zum Kochen holte, war natürlich, daß er auf den nächsten Hügel kletterte und nach dem Lande aussah. Da lag es, erheblich näher als vorher; er ist ganz sicher, daß wir es vor Abend erreichen werden.

Ich entdeckte an diesem Tage noch ein neues Land westlich von uns (Süd 60° West mißweisend). Es lag wie ein Schild da, regelmäßig gewölbt, ähnlich dem erstgesehenen Lande, erhob sich wenig über den Horizont und schien sehr weit entfernt zu sein. Später ergab sich, daß dies Kronprinz-Rudolf-Land sein müsse. Wir setzten den Weg über Rinnen und rauhes Eis, so rasch wir konnten, fort, kamen an diesem Tage aber nicht weit, und das Land schien nicht viel näher zu sein. In Wirklichkeit war kein Unterschied zu bemerken, obgleich wir uns einzubilden suchten, daß es immer höher steige. Am Sonnabend, 27. Juli, scheine ich den Argwohn gehabt zu haben, daß wir thatsächlich vom Lande forttrieben, da ich geschrieben habe:

»Der Wind begann, gerade als wir gestern aufbrechen wollten, aus Südsüdwest (mißweisend) zu wehen, und hat im Laufe des Tages zugenommen. An der Luft war leicht zu bemerken, daß der Wind das Eis vom Lande abtrieb und sich Landrinnen namentlich an der Ostseite des Eises bildeten. Als ich gestern Abend auf einen Hügel hinaufkletterte, beobachtete ich einen schwarzen Streifen am Horizont unter Land. Ich untersuchte ihn mit dem Glase, und wie ich angenommen hatte, dehnte sich ein Eis- oder Gletscherrand in westlicher Richtung weit aus; auch war, nach der dort lagernden dunkeln Nebelbank zu urtheilen, eine breite Rinne davor. Mir scheint, daß das Land nicht weit entfernt sein kann, und wenn das Eis nur einigermaßen passirbar ist, so können wir das Land vielleicht heute erreichen. Der Wind hielt letzte Nacht an, ist jetzt aber abgeflaut, und es ist Sonnenschein draußen. Wir suchen mit allen in unserer Macht stehenden Mitteln uns in unserm neuen, aus wollenen Decken hergestellten Schlafsack eine behagliche Nachtruhe zu verschaffen. Wir haben versucht, auf dem nackten Eise, dann auf den Schneeschuhen und heute Nacht wieder auf dem nackten Eise zu liegen, aber das ist hart und nicht sehr bequem; auch ist es etwas kalt, wenn man naß ist – wir werden jedoch ein gutes warmes Bett um so höher schätzen, wenn wir es erst haben.«

Dienstag, 30. Juli. Wir kamen unglaublich langsam weiter, aber wir dringen trotzdem immer mehr in die Nähe des Landes vor. In Wirklichkeit waren wir wahrscheinlich weiter davon entfernt als vorher. Jede Art von Hinderniß scheint uns zu bedrängen: jetzt habe ich einen solchen Hexenschuß, daß ich gestern nur unter Aufbietung meiner ganzen Willenskraft mich weiter schleppen konnte. An schwierigen Stellen mußte Johansen mir und meinem Schlitten weiter helfen. Die Schmerzen fingen vorgestern an; gegen Ende unsers Marsches mußte Johansen vorangehen und einen Weg suchen. Gestern ging es mir viel schlimmer; wie es mir heute geht, weiß ich nicht, ehe ich mich zu bewegen anfange. Ich will jedoch dankbar sein, falls ich mich überhaupt weiter schleppen kann, wenn es auch nur mit unendlichen Schmerzen geschieht. Gestern Morgen mußten wir, nachdem wir neun Stunden gegangen waren, des Regens wegen um 3 Uhr halt machen und lagern; es war aber dem Regen gelungen, uns zu durchnässen, noch ehe wir einen passenden Platz für das Zelt gefunden hatten. Hier sind wir einen ganzen Tag geblieben, während es in Strömen goß, und wir sind dabei nicht trockener geworden. Unter uns befinden sich Pfützen, und der Sack ist auf der Unterseite durchweicht. Der Wind ist in diesem Augenblicke nach Westen herumgegangen, und es hat aufgehört zu regnen; wir bereiteten uns daher Brei zum Frühstück und gedenken dann den Weg wieder fortzusetzen. Aber wenn es aufs neue zu regnen anfangen sollte, müssen wir halt machen; denn wir dürfen uns nicht durchregnen lassen, weil wir keine Kleider zum Wechseln haben. Es ist nichts weniger als angenehm, mit nassen Beinen und mit Füßen, die wie Eiszapfen sind, zu liegen und keinen trockenen Faden zum Anziehen zu haben. Vereinzelte ausgewachsene Rosenmöven sahen wir heute viermal. Als Johansen morgens draußen war, um Wasser zu holen, bemerkte er zwei. Je weiter wir kamen, desto mehr sahen wir täglich von diesen merkwürdigen Vögeln.

Mittwoch, 31. Juli. Das Eis war infolge der Unebenheiten und der Rinnen so zerstückelt und unpassirbar, wie man sich nur denken kann. Die anhaltende Reibung und das Pressen der Schollen aneinander mahlt das Eis dermaßen zusammen, daß das Wasser voll von Schlammeis und kleinen Stücken ist. In solchem Wasser mit den Kajaks zu fahren, ist unmöglich, und das Suchen, bis man schließlich eine unsichere Uebergangsstelle findet, dauert lange. Manchmal müssen wir uns eine solche herstellen, indem wir kleine Schollen zusammenschieben, oder wir müssen die Schlitten auf einem kleinen Eisstück hinüberführen. Jede einzelne Rinne kostete uns viel Zeit und Mühe, und das Weiterkommen auf diese Weise ist nur ein langsames. Mein Rücken schmerzt noch immer; Johansen mußte wieder vorausgehen; abends und morgens muß er mir die Beinkleider an- und ausziehen, weil ich selbst nicht dazu im Stande bin. Er ist rührend aufopfernd und sorgt für mich, als ob ich ein kleiner Junge wäre; alles, wodurch er es mir leichter machen zu können glaubt, thut er im stillen, ohne daß ich es weiß. Armer Junge, er hat jetzt doppelt so schwer zu arbeiten, und ich weiß nicht, wie es enden soll. Heute fühle ich mich jedoch sehr viel besser und werde hoffentlich bald wieder vollständig gesund sein.

Donnerstag, 1. August. Eis mit mehr Hindernissen als hier – ob es das wol gibt? Aber wir arbeiten uns langsam weiter, und da dies geschieht, sollten wir eigentlich zufrieden sein. Wir haben übrigens eine Veränderung gehabt – prächtiges Wetter mit glänzendem Sonnenschein. Es scheint mir aber, als ob der Südwind, den wir gehabt haben und der die Rinnen geöffnet hat, uns wieder eine tüchtige Strecke weiter vom Lande gebracht habe. Wir sind auch weit nach Osten getrieben und sehen das westlichst gelegene Land mit den schwarzen Felsen, die wir zuerst wahrgenommen haben, nicht mehr. Es scheint beinahe, als ob die Rosenmöven sich hier zu Lande aufhalten; wir sehen sie täglich.

Ueber eins freue ich mich: mein Rücken ist fast wieder gut, sodaß ich unser Vorwärtskommen nicht mehr aufhalten werde. Jetzt habe ich einen Begriff davon, wie es sein würde, wenn einer von uns ernstlich erkranken sollte. Mir ist ungemein bange davor. Unser Schicksal wäre dann besiegelt.

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Unglaublich langsames Weiterkommen.

Freitag, 2. August. Es ist, als ob sich uns alles in den Weg gestellt hätte, sodaß wir niemals von diesem Treibeise fortkommen. Mein Rücken ist wieder gut. Das Eis war gestern passirbarer als vorher, sodaß wir einen beinahe guten Tagemarsch machten, dafür trieben uns aber Wind und Strömung wieder vom Lande ab, und wir sind wieder weiter davon entfernt. Gegen diese beiden Feinde ist, fürchte ich, alles Kämpfen vergeblich. Wir sind weit fort nach Südosten getrieben, haben die Nordspitze des Landes ungefähr rechtweisend westlich von uns und sind jetzt auf ungefähr 81° 36' nördlicher Breite. Meine einzige Hoffnung ist jetzt, daß diese östliche Drift vom Lande fort aufhören oder ihre Richtung ändern und uns damit wieder näher an das Land bringen werde. Leider haben die Rinnen sich mit jungem Eise bedeckt, sodaß man nicht weiß, wie man die Kajaks verwenden soll. Wenn es noch schlechter wird, dann sieht die Sache schlimm aus. Inzwischen können wir nichts thun, als so rasch wie möglich weiter gehen. Sollten wir jedoch ins Eis zurücktreiben, dann – ja dann ...

Sonnabend, 3. August. Unglaublich schwere Arbeit. Wir würden sie niemals ausführen können, wenn wir nicht müßten. Wir haben verteufelt wenig Schritte dem Lande zu gemacht, wenn wir solche überhaupt gemacht haben. Während der letzten Tage hatten wir für die Hunde kein Futter außer den Elfenbeinmöven und Eissturmvögeln, die wir haben schießen können, und das waren täglich nur ein paar. Gestern bekam jeder der Hunde nur ein kleines Stückchen Speck.

Sonntag, 4. August. Diese Rinnen machen verzweifelte Mühe und nehmen unsere ganze Kraft in Anspruch. Oft müssen wir mehrere hundert Meter weit nur aus Eisschlamm oder von Block zu Block gehen und die Schlitten nachschleppen, in steter Gefahr, daß sie ins Wasser fallen. Johansen war gestern sehr nahe daran, jedoch gelang es ihm, wie bisher immer, sich zu retten. Die Hunde fallen beständig hinein und nehmen ein Bad.

Montag, 5. August. Noch nie haben wir so schlechtes Eis gehabt als gestern, doch brachten wir es trotzdem fertig, unsern Weg mit Gewalt etwas weiter fortzusetzen. Zwei glückliche Begebenheiten hatten wir an diesem Tage; die erste war, daß Johansen nicht von einem Bären aufgefressen wurde, die zweite, daß wir offenes Wasser unter dem Gletscherrande am Lande sahen.

Wir brachen gestern Morgen um 7 Uhr auf und kamen auf Eis, das so schlecht wie möglich war. Es war, als ob ein Riese ungeheuere Blöcke kopfüber, kopfunter hinabgeschleudert und dazwischen nassen Schnee mit Wasser ausgestreut habe, in dem wir bis an die Hüften einsanken. Auch zahlreiche, tiefe Tümpel befanden sich zwischen den Blöcken. Es war eine Quälerei über Berg und Thal, auf und nieder über Block hinter Block, über Rücken hinter Rücken, mit tiefen Spalten dazwischen; keine freie Stelle groß genug, um nur das Zelt aufzuschlagen: so ging es die ganze Zeit weiter. Um unser Unglück zu vollenden, herrschte ein solcher Nebel, daß wir keine hundert Meter weit sehen konnten.

Nach einem unsagbar mühevollen Marsche erreichten wir endlich eine Rinne, über die wir mit den Kajaks hinüberfahren mußten. Nachdem wir den Rand der Rinne von dem jungen Eis und den Eisklumpen freigemacht hatten, zog ich meinen Schlitten an den Rand, wo ich ihn festhielt, damit er nicht ins Wasser gleiten könne. Plötzlich wurde es hinter mir lebendig, und Johansen, der sich gerade umgedreht hatte, um seinen Schlitten zu dem meinigen In der Regel kreuzten wir die Rinnen in folgender Weise: wir placirten die Schlitten mit den Kajaks nebeneinander, banden letztere aneinander fest und versteiften sie dadurch, daß wir die Schneeschuhe querüber unter die Strippen schoben. Dann ließen wir die Kajaks mit den darunter befestigten Schlitten zu Wasser. Auf der andern Seite brauchten wir die Schlitten nur wieder aufs Eis zu holen. zu ziehen, schrie: »Schnell die Büchse!« Ich drehe mich um und erblicke einen ungeheuern Bären, der sich gerade auf Johansen wirft, der auf dem Rücken lag. Ich greife nach meiner Büchse, die – im Futteral –! auf dem Verdeck lag, allein in demselben Augenblick gleitet das Kajak ins Wasser. Mein erster Gedanke ist, mich ebenfalls ins Wasser und über das Kajak zu werfen und von dort zu schießen, ich sehe aber ein, wie gefährlich das sein würde. Ich beginne daher, das Kajak mit seiner schweren Ladung so rasch wie möglich auf den hohen Rand des Eises zurückzuholen, und liege dabei ziehend und zerrend auf den Knien, um die Büchse zu fassen. Ich habe keine Zeit, mich umzublicken und zu sehen, was hinter mir vorgeht, als ich Johansen plötzlich in aller Ruhe hinter mir sagen höre: »Schieß schnell, wenn es nicht zu spät sein soll!«

Wie ich mich beeilte! Endlich hatte ich das Schaftende erfaßt, zog die Büchse heraus, drehte mich in sitzender Stellung herum und spannte im Nu den Hahn des Schrotlaufes. Der Bär stand keine zwei Meter entfernt, bereit, meinem Hunde »Kaiphas« ein Ende zu machen. Es war keine Zeit zu verlieren. Ich konnte nicht erst den Hahn des andern Laufes spannen, ich jagte dem Bären eine Schrotladung hinter das Ohr und streckte ihn todt zwischen uns nieder.

Der Bär mußte unserer Fährte wie eine Katze gefolgt sein und sich, von den Eisblöcken verdeckt, herangeschlichen haben, während wir das Eis in der Rinne entfernt und ihm den Rücken zugedreht hatten. An der Spur konnten wir sehen, wie der Bär über einen kleinen Rücken unter der Deckung eines Hügels neben Johansen's Kajak gekrochen war. Während letzterer, ohne etwas zu argwöhnen oder sich umzublicken, zurückging und sich bückte, um die Zugleine aufzunehmen, hatte er plötzlich ein am Ende des Kajaks hockendes Thier in Sicht bekommen, aber geglaubt, daß es »Suggen« sei. Ehe er noch Zeit hatte, recht zu begreifen, daß das Thier dazu zu groß sei, hatte er einen Schlag hinter das rechte Ohr bekommen, daß ihm die Funken aus den Augen stoben, und war dann, wie erwähnt, auf den Rücken gefallen. Er suchte sich so gut wie möglich mit den Händen zu wehren; mit der einen Hand packte er das Thier bei der Kehle, hielt sie fest und drückte sie mit aller Kraft zu. Gerade als der Bär im Begriff war, Johansen in den Kopf zu beißen, hatte dieser die denkwürdigen Worte gesprochen: »Schieß schnell!« Der Bär hatte fortwährend nach mir hingeblickt und ohne Zweifel darüber nachgedacht, was ich wol zu thun beabsichtigte, dann aber den Hund zu sehen bekommen und sich gegen diesen gewandt. Schnell wie der Gedanke hatte Johansen losgelassen und war fortgekrochen, während der Bär »Suggen« einen Schlag versetzt hatte, der den Hund ebenso kräftig aufheulen ließ, als wenn er von uns Prügel bekommen hätte. Dann hatte »Kaiphas« einen Klaps an die Nase erhalten. Inzwischen hatte Johansen sich auf die Beine gearbeitet und, als ich schoß, seine Büchse ergriffen, die aus dem Loche des Kajaks herausragte. Der einzige angerichtete Schaden bestand darin, daß der Bär Johansen etwas Schmutz von der rechten Backe abgekratzt, sodaß man dort einen weißen Streifen sah, und ihm eine leichte Verletzung an der einen Hand zugefügt hatte; »Kaiphas« hatte ebenfalls eine Schramme an der Nase.

Kaum war der Bär gefallen, als wir in geringer Entfernung noch zwei andere über einen Eishaufen gucken sahen; es waren die Jungen, die natürlich den Erfolg der mütterlichen Jagd sehen wollten.

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»Schieß schnell, wenn es nicht zu spät sein soll!«

Es waren zwei große Junge. Ich hielt es nicht für der Mühe werth, ihnen eine Patrone zu opfern; aber Johansen meinte, daß das Fleisch junger Bären einen viel zartern Geschmack habe als dasjenige alter Thiere. Er wolle einen schießen, sagte er, und rannte davon; mittlerweile hatten sich die jungen Bären auf die Socken gemacht. Doch kamen sie etwas später wieder zurück, und wir hörten sie noch in weiter Entfernung nach der Mutter brüllen.

Johansen sandte ihnen eine Kugel nach, doch war die Distanz zu groß, sodaß er nur eins der Jungen verwundete. Unter fürchterlichem Gebrüll machte es sich wieder davon, Johansen hinterher. Doch gab er die Jagd bald auf, da sie zu lang zu werden versprach. Während wir den Bären in Stücke schnitten, kamen die Jungen auf der andern Seite der Rinne wieder herbei, und die ganze Zeit, die wir dort waren, gingen sie immer um uns herum. Sie brüllten und heulten in einem fort und waren auf den höchsten Eishügeln in der Runde, um nach uns auszuschauen. Als wir die Hunde tüchtig gefüttert und selbst etwas rohes Fleisch verzehrt, sowie das von den Schinken abgeschnittene Fleisch in den Kajaks verstaut hatten, fuhren wir endlich über die Rinne und setzten unsern Weg fort.

Das Eis war und blieb schlecht, und wir kamen leider unmittelbar darauf an einige fürchterliche Rinnen, voll von dicht zusammengepackten Eisblöcken. An einigen Stellen war die ganze See voll davon. Es war zum Verzweifeln, dies zu sehen; aber vorwärts mußten wir. Zwischen all diesem losen Eis trafen wir eine ungewöhnlich dicke alte Scholle mit hohen Hügeln und mit Tümpeln dazwischen. Von einem dieser Hügel aus bemerkte ich durch das Glas das offene Wasser am Fuße des Gletschers; jetzt können wir nicht mehr weit zu gehen haben. Aber das Eis vor uns sieht so unheimlich aus; jedes Stück wird uns vielleicht, wenn es so wie dieses ist, viel Zeit kosten.

Während wir weiter zogen, hörten wir den verwundeten Bären hinter uns unaufhörlich brüllen; er erfüllte die ganze schweigsame Eiswelt mit seiner bittern Klage über die Grausamkeit der Menschen. Es war traurig anzuhören, und wenn wir Zeit gehabt hätten, würden wir ohne Zweifel umgekehrt sein und eine Patrone an das Thier gewendet haben. Wir sahen, wie die jungen Bären nach der Stelle hingingen, wo die Mutter lag, und dachten uns, daß wir sie los seien; doch hörten wir sie bald nachher aufs neue, und selbst als wir uns gelagert hatten, waren sie noch in der Nähe.

Mittwoch, 7. August. Endlich befinden wir uns in der Nähe des Landes, endlich liegt das Treibeis hinter uns und vor uns offenes Wasser, offen hoffentlich bis zu Ende. Gestern war der wichtige Tag. Als wir vorgestern Abend aus dem Zelte krochen, glaubten wir beide, daß wir uns dem Rande des Gletschers näher als je befänden. Mit neuem Muthe und in der schwachen Hoffnung, das Land an diesem Tage zu erreichen, machten wir uns wieder auf den Weg. Und doch wagten wir nicht daran zu denken, daß unser Leben auf dem Treibeise seinem Ende schon so nahe sei. Nachdem wir fünf Monate darauf herumgewandert waren und so viele Enttäuschungen erfahren hatten, waren wir auf einen Fehlschlag unserer Hoffnung nur zu wohl vorbereitet. Wir glaubten jedoch, daß das Eis weiterhin sich besser anließe, waren aber noch nicht weit gekommen, als wir an breite Rinnen voll von Schlamm und häßlichem, unebenem Eis, Hügeln und Thälern und tiefem Schnee mit Wasser gelangten, wo wir bis an die Hüften einsanken. Nach ein paar solchen Rinnen besserte es sich ein wenig, und wir kamen wieder auf flaches Eis. Nachdem wir eine Strecke darauf zurückgelegt hatten, war es augenfällig, wieviel näher wir dem Rande des Gletschers waren. Er konnte unmöglich mehr weit entfernt sein. Da kam Leben in uns! Wir spannten uns eifrig wieder vor die Schlitten, nahmen einen Anlauf, und fort ging es durch Schnee und Wasser, über Hügel und Ketten. Es ging wie im Fluge; was fragten wir danach, wenn wir bis hoch über unsere Pelzgamaschen ins Wasser sanken, sodaß sowol sie wie unsere Komager voll liefen und das Wasser in ihnen bei jedem Schritte wie in einer Pumpe auf- und niederging! Was machte das aus, wenn wir nur weiter kamen!

Bald darauf hatten wir Ebenen erreicht, wo wir rascher und immer rascher vorwärts kamen. Wir wateten durch Tümpel, sodaß das Wasser nach allen Seiten spritzte. Immer näher kamen wir, und an dem dunkeln Wasserreflex vor uns, der fortwährend höher stieg, bemerkten wir, wie wir uns dem offenen Wasser näherten. Wir nahmen jetzt nicht einmal von Bären Notiz, obwol viele in der Nähe zu sein schienen, da alte und neue Fährten kreuz und quer liefen. Ein Bär hatte sogar, während wir schliefen, das Zelt inspicirt, und an der neuen Fährte sahen wir, daß er mit dem Winde im Lee von uns herangekommen war. Wir hatten jetzt keine Verwendung für Bären, wir hatten genug zu essen. Bald konnten wir das offene Wasser unter der Gletscherwand sehen und immer schneller schritten wir aus. Während ich dahinrannte, dachte ich an den Zug der Zehntausend durch Asien, als die Soldaten Xenophon's nach einjährigem Kampfe gegen überlegene Streitkräfte endlich von einem Berge herab das Meer sahen und riefen: »Thalatta! Thalatta!« Wol war dieses Meer uns nach unserm monatelangen Umhertreiben auf dem endlosen weißen Treibeise ebenso willkommen.

Endlich stand ich am Rande des Eises. Vor mir lag die dunkle Meeresfläche mit weißen, treibenden Eisschollen; weit in der Ferne stieg die Gletscherwand jäh aus dem Wasser aus; das Ganze lag in düsterer nebelhafter Beleuchtung. Freude sprang uns bei diesem Anblick im Herzen auf, aber in Worten konnten wir ihr keinen Ausdruck geben. Hinter uns lagen nun alle unsere Sorgen, vor uns der Wasserweg in die Heimat, Licht und Lust entgegen! Ich winkte Johansen, der eine kleine Strecke zurück war, mit dem Hute, und er schwenkte den seinigen zur Antwort und schrie aus Leibeskräften: »Hurrah!« Ein solches Ereigniß mußte gefeiert werden, und wir thaten es, indem jeder von uns ein Stück Chocolade verzehrte.

Während wir noch standen und auf das Wasser blickten, tauchte der Kopf eines großen Seehundes auf, verschwand aber wieder in aller Stille; bald zeigten sich jedoch noch mehrere. Es war uns beruhigend, zu wissen, daß wir jede Minute uns so viel zu essen verschaffen können, wie wir wollen.

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Am offenen Meere.

Nun kam die Auftakelung der Kajaks für die Seefahrt. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn wir einzeln gerudert wären; allein mit den langen, großen Schlitten an Deck war dies nicht leicht, auch wagte ich nicht, sie zurückzulassen, da wir noch gute Verwendung für sie haben konnten. Für den Augenblick war daher nichts weiter zu machen, als die beiden Kajaks nebeneinander zu befestigen, sie mit den Schneeschuhen unter den Strippen zu versteifen und die Schlitten quer darüber zu legen, den einen vorn, den andern hinten.

Traurig war es, daß wir nicht daran denken konnten, unsere beiden letzten Hunde mitzunehmen; aber wahrscheinlich würden wir keine weitere Verwendung mehr für sie haben, und es würde sich nicht haben machen lassen, sie an Deck der Kajaks mitzuführen. Es that uns leid, uns von ihnen zu trennen; wir hatten die beiden Ueberlebenden sehr liebgewonnen. Armer »Suggen«, wie rührend schlau war er, und wie stolz und schön war »Kaiphas« bis zuletzt gegangen. Treu und ausdauernd waren sie uns auf der ganzen Reise gefolgt, und nun, als bessere Zeiten gekommen waren, mußten sie dem Leben Valet sagen. Sie in derselben Weise wie die andern tödten wollten wir nicht; wir opferten daher eine Patrone für jeden. Johansen erschoß meinen Hund hinter einem Hügel, ich den seinen; es war eine harte Aufgabe.

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»Kaiphas« letzter Gang.

Nun waren wir zum Aufbruch bereit. Es war wirklich ein Vergnügen, die Kajaks über das Wasser tanzen zu lassen und die kleinen Wellen an den Seiten plätschern zu hören. Seit zwei Jahren hatten wir eine solche Wasserfläche nicht mehr vor uns gesehen. Wir waren noch nicht weit gefahren, als wir den Wind so günstig fanden, daß wir ihn ausnutzen konnten, weshalb wir ein Segel auf unsere Flotille setzten. Bequem glitten wir vor dem Winde dem Lande zu, nach welchem wir uns die vielen Monate gesehnt hatten. Welche Veränderung, nachdem wir uns den Weg Fuß für Fuß, ja Zoll für Zoll auf dem Eise hatten erkämpfen müssen! Der Nebel hatte uns das Land eine Zeit lang verborgen, doch jetzt theilte er sich, und wir sahen den Gletscher gerade vor uns steil aufsteigen. In demselben Augenblick brach die Sonne durch; ich kann mich kaum eines schönern Morgens erinnern. Bald waren wir beim Gletscher, wo wir das Segel herablassen und westwärts rudern mußten, der Eiswand entlang, die 16-20 Meter hoch war und an welcher eine Landung unmöglich schien. Es war, als ob in dem Gletscher wenig Bewegung sei; das Wasser hatte sich am Fuße einen Weg tief ausgewaschen; Geräusch von fallenden Eisstücken oder Krachen von Spalten, wie man es bei großen Gletschern in der Regel hört, war nicht zu vernehmen. Er war auch auf der Oberfläche ganz eben; Spalten waren nicht zu bemerken. An der ganzen Höhe der Wand sah man ungewöhnlich scharf markirte Jahresschichten.

Bald entdeckten wir, daß die Gezeitenströmung mit großer Geschwindigkeit an der Gletscherwand entlang nach Westen setzte, und mit ihr kamen wir rasch weiter. Dagegen war es nicht leicht, einen Lagerplatz zu finden, sodaß wir schließlich gezwungen waren, auf einer treibenden Scholle Aufenthalt zu nehmen. Es war aber herrlich, sich zur Ruhe zu legen in dem Bewußtsein, nicht zu weitern Qualen im Treibeis aufstehen zu müssen.

Als wir uns heute Morgen erhoben, fanden wir das Eis rund um uns herum zusammengepackt, und ich weiß noch nicht, wie wir aus demselben herauskommen werden, hinaus in das offene Wasser im Westen von uns.

siehe bildunterschrift

Gletscherwand auf dem Lande (Eva-Insel).


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