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Dreizehntes Kapitel

Die Begegnung

Dienstag, 23. Juni.

 

Do I sleep? do I dream?
Do I wonder and doubt?
Are things what they seem?
Or are visions about?

 

Was ist geschehen? Ich kann es noch immer kaum fassen. Wie unerschöpflich sind die Wechselfälle dieses Wanderlebens! Vor einigen Tagen im Wasser um das liebe Leben kämpfend, von Walrossen angegriffen; das Leben eines Wilden führend, das ich nun schon seit länger als einem Jahre ertragen habe mit der Gewißheit, eine weite Reise vor uns zu haben über Eis und Meer, durch unbekannte Regionen, ehe wir andern menschlichen Wesen begegnen, eine Reise voll Wechselfälle, voll Enttäuschungen, an die wir so gewöhnt sind – und jetzt ein Leben des civilisirten Europäers, umgeben von allem, was die Civilisation an Luxus und Wohlleben bietet; im Ueberfluß Wasser, Seife, Handtücher, saubere, weiche Wollkleider, Bücher und alles, nach dem wir während all der langen Monate geseufzt haben! –

Es war kurz nach Mittag, als ich am 17. Juni aufstand, um das Frühstück zu bereiten. Ich war nach dem Rande der See hinabgegangen, um Wasser zu holen, hatte Feuer angemacht, das Fleisch zerschnitten und in den Topf gelegt und bereits einen Schuh ausgezogen, um wieder in den Sack zu kriechen, als ich bemerkte, daß der Nebel über dem Lande seit dem vorhergehenden Tage sich etwas gehoben hatte. Ich dachte, es sei das Beste, die Gelegenheit zu benutzen und Umschau zu halten, zog daher den Schuh wieder an und begab mich auf den Hügel neben uns.

Vom Lande her kam eine sanfte Brise, die von den Bergen neben uns einen verwirrenden Lärm von Tausenden von Vogelstimmen herübertrug. Während ich auf diese Laute des Lebens horchte und die Scharen der über mir hin- und herfliegenden Alke beobachtete, während mein Auge der Küstenlinie folgte, auf den dunkeln, nackten Bergwänden ruhte und über die Eisebenen und Gletscher eines Landes glitt, das, wie ich glaubte, noch von keines Menschen Blick geschaut, noch von keines Menschen Fuß betreten war, das in arktischer Majestät hinter seinem Nebelmantel ruhte: da schlug plötzlich ein Laut an mein Ohr, der dem Bellen eines Hundes so ähnlich war, daß ich auffuhr. Es waren nur ein paar Belllaute, aber es konnte nichts anderes sein. Ich strengte das Gehör an, vernahm aber nichts mehr, als nur den alten brodelnden Lärm der Tausende von Vögeln. Ich mußte mich doch geirrt haben; es waren wol nur Vögel, die ich gehört hatte, und wieder glitt mein Blick zu den Straßen und Inseln im Westen. Dann kam das Bellen nochmals: erst einzelne Laute, dann ein richtiges Gebell; es war ein rauheres und ein dünneres Bellen; daran war nicht länger zu zweifeln. In diesem Augenblicke fiel mir ein, daß ich am Tage vorher zwei Knalle gehört hatte, die ich erst für Schüsse gehalten, die ich mir aber dann als Geräusch im Eise erklärt hatte. Ich rief Johansen zu, daß ich im Lande Hunde bellen hörte. Johansen sprang aus dem Sacke, in welchem er geschlafen hatte, und eilte aus dem Zelt. »Hunde?« Er wollte es nicht sofort glauben, sondern mußte selbst herauskommen und mit eigenen Ohren hören, während ich das Frühstück bereitete.

Er glaubte ein- oder zweimal etwas zu hören, was als Hundegebell gelten konnte. Dann ging es aber in dem Geräusch der Vögel unter, und mit Berücksichtigung aller Umstände meinte er, das, was er gehört habe, sei doch nichts anderes als Vogelstimmen gewesen. Ich sagte ihm, er möge glauben, was er wolle, jedenfalls würde ich mich so rasch wie möglich aufmachen. Ungeduldig stürzte ich das Frühstück hinunter. Ich hatte den letzten Rest Maismehl in die Suppe geschüttet, in dem sichern Gefühl, abends Mehlspeisen genug zu haben. Während wir aßen, erörterten wir die Frage, wer es sein könne, unsere Landsleute oder Engländer. Wenn es die englische Expedition war, die man bei unserer Abreise nach Franz-Joseph-Land geplant hatte, was sollten wir dann machen?

»O, wir brauchen nur einen oder zwei Tage bei ihnen zu bleiben«, sagte Johansen, »und müssen dann nach Spitzbergen weiter gehen, sonst wird es zu lange dauern, bis wir nach Hause kommen.«

Ueber diesen Punkt waren wir einig; wir wollten aber dafür sorgen, daß wir von ihnen gute Lebensmittel für die Reise bekämen. Während ich voranging, sollte Johansen zurückbleiben, um nach den Kajaks zu sehen, damit wir nicht Gefahr liefen, daß sie mit dem Eise forttrieben.

Ich holte meine Schneeschuhe, Fernrohr und Büchse hervor und war fertig. Ehe ich mich aufmachte, begab ich mich nochmals auf den Hügel, um zu lauschen und nach einem Wege über das unebene Eis landeinwärts auszuschauen. Es war kein Geräusch wie Hundegebell zu hören, nur das schrille Geschrei von Alken und Krabbentauchern und das Gekreisch der Stummelmöven. Ob es doch diese waren, die ich gehört hatte? Zweifelnd machte ich mich auf den Weg. Dann sah ich vor mir frische Fährten eines Thieres. Es konnten kaum Fährten eines Fuchses sein, denn dann müßten die Füchse hier größer sein, als ich sie je gesehen hatte. Aber Hunde? Konnte ein Hund in der Nacht nur wenige hundert Schritt von uns entfernt gewesen sein, ohne zu bellen oder ohne daß wir es bemerkt hätten? Das schien kaum wahrscheinlich zu sein. Was aber sonst? Ein Wolf? Ich ging weiter, voll wunderlicher Gedanken, zwischen Gewißheit und Zweifel schwankend. Sollten hier all unsere Mühen, all unsere Schwierigkeiten, Entbehrungen und Leiden enden? Es schien unglaublich, und doch – aus dem Nebellande des Zweifels begann endlich Gewißheit aufzudämmern.

Wieder traf der Laut eines bellenden Hundes mein Ohr, deutlicher als je vorher; ich sah immer mehr Fährten, die nur von Hunden herrühren konnten. Dazwischen befanden sich auch Fuchsfährten, aber wie klein sahen sie aus! Dann verging lange Zeit, und es war nichts weiter zu hören als der Lärm der Vögel. Wieder kam mir der Zweifel, ob nicht doch alles ein Traum sei. Dann aber fielen mir die Hundefährten ein; sie waren jedenfalls keine Täuschung. Wenn hier aber Menschen waren, dann konnten wir uns kaum auf Gillis-Land oder auf einem andern neuen Lande befinden, wie wir den ganzen Winter geglaubt hatten. Wir mußten doch an der Südseite von Franz-Joseph-Land sein, und der Verdacht, der mir einige Tage vorher gekommen war, mußte berechtigt sein, daß wir nämlich durch einen unbekannten Sund zwischen der Hooker- und der Northbrook-Insel hinausgerathen sein müßten und uns jetzt auf der Höhe der letztern befänden, trotz der Unmöglichkeit, unsere Position mit der Karte Payer's in Einklang zu bringen.

Mit seltsam gemischten Gefühlen setzte ich den Weg durch die zahlreichen Hügel und Unebenheiten landeinwärts fort. Plötzlich glaubte ich den Ruf einer menschlichen Stimme zu hören, einer fremden Stimme, der ersten in drei Jahren. Wie mir das Herz klopfte, wie mir das Blut zum Kopfe schoß, als ich auf einen Hügel hinaufrannte und mit der ganzen Kraft meiner Lungen schrie! Hinter dieser einen menschlichen Stimme inmitten der Eiswüste, dieser einzigen Botschaft vom Leben, standen die Heimat und alles, was die Heimat für mich umfaßte; weiter sah ich nichts, als ich mir einen Weg zwischen den Schollen und Eisrücken bahnte, so rasch mich meine Schneeschuhe tragen konnten. Bald hörte ich wieder rufen und sah von einem Rücken herab eine dunkle Gestalt, die landeinwärts zwischen den Hügeln sich bewegte. Es war ein Hund; aber weiter entfernt kam noch eine Gestalt, und das war ein Mensch. Wer war es? War es Jackson oder einer seiner Gefährten, oder war es vielleicht ein Landsmann? Rasch näherten wir uns einander; ich schwenkte den Hut, er that dasselbe. Ich hörte ihn zu dem Hunde sprechen und horchte. Es war englisch, und als ich näher kam, glaubte ich Jackson zu erkennen, den ich meiner Erinnerung nach einmal gesehen hatte.

siehe bildunterschrift

Begegnung mit Jackson.

Ich zog den Hut, wir reichten uns die Hände mit einem herzlichen »Wie geht es Ihnen?« Ueber uns ein Nebeldach, das die Welt rundherum ausschloß, zu unsern Füßen das holperige, treibende Packeis und im Hintergrunde ein Schimmer von Land, alles Eis, Gletscher und Nebel. Auf der einen Seite der civilisirte Europäer in einem carrirten englischen Anzuge und hohen Gummistiefeln, ordentlich rasirt, frisirt und den Duft parfümirter Seife verbreitend, den die geschärften Sinne des Wilden gleich bemerkten, auf der andern Seite der Wilde, bekleidet mit schmierigen Lumpen, schmutzig von Thran und Ruß, mit langem, ungekämmtem Haar und zottigem Bart, schwarz von Rauch, mit einem Gesicht, in welchem die natürliche Farbe unmöglich zu erkennen war durch die dicke Schicht von Fett und Ruß, die die Bemühungen eines ganzen Winters mit warmem Wasser, Moos, Lumpen und schließlich mit einem Messer vergeblich zu entfernen versucht hatten. Kein Mensch konnte vermuthen, wer der Wilde war, oder woher er kam.

Jackson: »Freue mich riesig, Sie zu sehen.«

»Danke, ich gleichfalls.«

»Haben Sie ein Schiff hier?«

»Nein, mein Schiff ist nicht hier.«

»Wie viele sind Sie?«

»Ich habe nur einen Gefährten draußen am Eisrand.«

Während wir sprachen, hatten wir begonnen, dem Lande weiter zuzuschreiten. Ich nahm als feststehend an, daß er mich erkannt hatte oder sich wenigstens denken könne, wer unter diesem wilden Aeußern verborgen sei, da ich nicht glaubte, daß ein vollkommen Fremder so herzlich aufgenommen werden würde. Plötzlich blieb er stehen, blickte mir voll ins Gesicht und sagte rasch:

»Sind Sie nicht Nansen?«

»Ja, das bin ich.«

»By Jove, es freut mich, Sie zu sehen?«

Darauf ergriff er meine Hand und schüttelte sie nochmals, während sein ganzes Gesicht ein einziges lächelndes Willkommen bildete und die Freude über dies unerwartete Zusammentreffen ihm aus den dunkeln Augen strahlte.

»Woher sind Sie jetzt gekommen?« fragte er.

»Ich verließ die »Fram« auf 84° nördlicher Breite, nachdem wir zwei Jahre getrieben waren, und habe den Breitengrad von 86° 15' erreicht, wo wir umkehren und uns nach Franz-Joseph-Land wenden mußten. Wir waren jedoch gezwungen, den Winter über irgendwo im Norden von hier zuzubringen, und sind jetzt auf dem Wege nach Spitzbergen.«

»Ich gratulire Ihnen von ganzem Herzen. Sie haben eine tüchtige Reise gemacht, und es freut mich ungemein, daß ich der Erste bin, der Ihnen zu Ihrer Rückkehr gratuliren kann.«

Noch einmal ergriff er meine Hand und schüttelte sie herzlich. Wärmer hätte ich nicht bewillkommnet werden können; dieses Händeschütteln war mehr als bloße Förmlichkeit. In seiner gastfreien englischen Weise sagte er sofort, er habe »eine Menge Platz« für uns und erwarte jeden Tag sein Schiff. Wie ich später fand, meinte er mit dieser »Menge Platz«, daß in seiner Hütte noch ein paar Quadratfuß übrig waren, die nachts von ihm und seinen Schlafgefährten nicht benutzt wurden. Aber Raum im Herzen macht Raum im Hause, und an dem erstern fehlte es nicht. Sobald ich zu Worte kommen konnte, fragte ich, wie es zu Hause ginge, und er konnte mir die willkommene Mittheilung machen, daß meine Frau und mein Kind, als er vor zwei Jahren abgefahren sei, sich in allerbester Gesundheit befunden hätten. Dann kamen Norwegen und die norwegische Politik an die Reihe, doch war ihm davon nichts bekannt, was ich als ein Zeichen auffaßte, daß auch darin alles in Ordnung sein müsse. Er fragte dann, ob wir nicht sofort hinausgehen und Johansen und unsere Habe holen sollten. Ich meinte jedoch, unsere Kajaks würden zu schwer sein, um sie allein über das zusammengeschobene Eis zu schleppen; wenn er Leute genug habe, sei es sicherlich besser, sie hinzuschicken. Um Johansen von unserer Begegnung in Kenntniß zu setzten, feuerten wir jeder zwei Schüsse ab. Bald darauf begegneten uns mehrere Leute: der Zweite im Commando Herr Armitage, der Chemiker und Photograph Herr Child und der Arzt Dr. Koetlitz. Als sie näher kamen, machte ihnen Jackson ein Zeichen und sagte ihnen, wer ich sei, worauf ich nochmals herzlich willkommen geheißen wurde. Dann begegneten wir noch andern: dem Botaniker Herrn Fisher, Herrn Burgeß und dem Finländer Blomqvist (dessen richtiger Name Melenius war). Fisher hat mir später erzählt, er habe sofort gedacht, daß ich es sein müsse, als er einen Mann draußen auf dem Eise gesehen habe; dann aber, als er mir begegnet sei, habe er diesen Gedanken wieder aufgegeben, da ich ihm als blond geschildert worden sei, während hier ein dunkler Mann mit schwarzem Bart und Haar erschien. Als alle versammelt waren, theilte Jackson ihnen mit, daß ich 86° 15' nördlicher Breite erreicht hätte, worauf mir von sieben kräftigen Kehlen ein dreifaches englisches Hurrah gebracht wurde, das zwischen den Hügeln widerhallte. Jackson schickte sofort seine Leute ab, um Schlitten zu holen und zu Johansen hinauszugehen, während wir dem Hause zuwanderten, das ich jetzt am Lande sehen zu können glaubte. Jackson erzählte mir nun, daß er für mich Briefe von zu Hause habe, die er im vorigen und in diesem Frühjahr, als er nordwärts gegangen sei, mitgenommen habe, für den Fall, daß wir uns begegnen sollten. Wir fanden jetzt, daß er im März in ziemlich geringer Entfernung südlich von unserer Winterhütte Er hatte Kap Richthofen, etwa 65 Kilometer südlich von uns, erreicht. gewesen sein mußte, dort aber zum Umkehren gezwungen worden war, weil er durch offenes Wasser aufgehalten wurde, dasselbe, über welchem wir den ganzen Winter hindurch die dunkle Luft gesehen hatten. Erst als wir den Gebäuden schon ganz nahe gekommen waren, erkundigte er sich eingehender nach der »Fram« und unserer Drift, worauf ich ihm unsere Geschichte kurz erzählte.

Später sagte er mir, daß er von dem Augenblicke unserer Begegnung an geglaubt habe, daß das Schiff zertrümmert worden sei und wir beiden die einzigen Ueberlebenden von der Expedition seien. Er hatte in meinen Zügen einen traurigen Ausdruck wahrzunehmen geglaubt, als er zum ersten mal nach dem Schiffe fragte, und hatte den Gegenstand deshalb nicht wieder berühren mögen. In der That hatte er sogar seine Leute insgeheim gewarnt, zu fragen. Erst infolge einer zufälligen Bemerkung von mir hatte er seinen Irrthum erkannt; dann erst hatte er sich genauer nach der »Fram« und nach den Uebrigen erkundigt.

Wir trafen bei dem Gebäude ein, einer niedrigen russischen Holzhütte auf einer flachen Terrasse, einer alten, 16 Meter über dem Meere gelegenen Strandlinie unter einem Berge. Es war von einem Stalle und vier runden, zeltartigen Gebäuden umgeben, in welchen Vorräthe aufbewahrt wurden. Wir betraten inmitten dieser öden, winterlichen Umgebung ein behagliches, warmes Nest, dessen Dach und Wände mit grünem Tuch bekleidet waren. An den Wänden befanden sich überall Photographien, Radirungen, Lichtdrucke und Regale mit Büchern und Instrumenten; unter dem Dache waren Kleidungsstücke und Schuhe zum Trocknen aufgehängt, und aus dem Ofen in der Mitte des behaglichen Raumes sandten uns die Flammen eines Kohlenfeuers ein warmes, gastfreies Willkommen entgegen.

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Nansen bei Eintreffen auf Kap Flora.

Ein seltsames Gefühl überkam mich, als ich mich in dieser ungewohnten Umgebung auf einen bequemen Stuhl setzte. Mit einem Schlage hatte das wechselvolle Schicksal jede Verantwortlichkeit, alle Schwierigkeiten aus meinen Gedanken, die während dreier langer Jahre damit bedrückt gewesen waren, fortgefegt. Hier war ich inmitten des Eises in einem sichern Hafen, und die sehnsüchtigen Wünsche dreier Jahre wurden von dem goldenen Sonnenscheine des dämmernden Tages eingeschläfert. Meine Pflicht war erfüllt, meine Aufgabe beendet; jetzt konnte ich ruhen, ruhen und warten. Aber die »Fram«! ...

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Elmwood, Jackson's Station aus Kap Flora.

Eine sorgfältig zugelöthete Blechbüchse wurde mir übergeben: sie enthielt zwei Jahre alte Briefe aus Norwegen. Meine Hände zitterten, mein Herz klopfte, als ich sie öffnete; es waren Nachrichten aus der Heimat, nur gute Nachrichten. Eine wunderbare milde Ruhe senkte sich auf meinen Geist herab.

Allmählich erfuhr ich, was im ersten Jahre nach unserer Abreise in der Welt vorgegangen war.

Dann wurde das Mittagessen servirt. Wie nett war es doch, wieder Brot, Butter, Milch, Zucker, Kaffee und alles andere zu haben, ohne das wir uns ein Jahr lang beholfen und nach dem wir uns doch so gesehnt hatten. Der Höhepunkt der Behaglichkeit wurde aber erreicht, als ich alle die schmutzigen Lumpen abwerfen, ein warmes Bad nehmen und mich von so viel Schmutz befreien konnte, als auf einmal möglich war. Dann wurden vom Kopf bis zu den Füßen weiche Kleider angelegt, das lange Haar geschnitten und der zottige Bart rasirt, und der Europäer kam nach und nach wieder zum Vorschein. Wie angenehm und behaglich, die Kleider anlegen zu können, ohne sich schmierig zu machen, besonders aber, umhergehen zu können, ohne fühlen zu müssen, wie sie bei jeder Bewegung am Körper festklebten!

Es dauerte nicht lange, bis Johansen und die andern mit den Kajaks und unsern Sachen folgten. Johansen erzählte mir, wie die warmherzigen Engländer ihn und die norwegische Flagge mit einem kräftigen Hurrah begrüßt hätten, als sie herangekommen seien und die Flagge neben einem schmutzigen wollenen Hemde an einem Bambusstock hätten wehen sehen, den er auf meine Anweisung aufgerichtet hatte, damit ich den Weg zu ihm zurückfinden könnte. Auf dem Wege hierher hatten sie ihm nicht gestattet, die Schlitten zu berühren; er mußte als Passagier daneben schreiten. Wie er sagte, sei das von all den Arten, wie wir über das Treibeis gewandert seien, die bequemste gewesen!

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Johansen bei Eintreffen aus Kap Flora.

Sein Empfang in der Hütte war kaum weniger herzlich als der meine, und bald machte er dieselbe Umwandlung durch, der ich mich unterzogen hatte.

Ich erkenne meinen Gefährten der langen Winternacht jetzt gar nicht wieder und suche vergeblich nach Spuren von dem Zigeuner, der an jener öden Küste am Fuße des steilen Gerölls und der dunkeln Basaltwand vor der niedrigen unterirdischen Hütte auf- und abgewandert ist. Der schwarze, rußige Höhlenmensch ist verschwunden; an seiner Stelle sitzt ein wohlgenährter europäischer Großkaufmann auf einem bequemen Stuhl, raucht eine kurze Pfeife oder eine Cigarre und hat ein Buch vor sich, aus dem er nach Kräften Englisch zu lernen sich bemüht.

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Johansen nach der Verwandlung.

Es ist überraschend, daß wir, seitdem wir die »Fram« verlassen haben, beide beträchtlich an Gewicht zugenommen haben. Als ich hier ankam, wog ich ungefähr 92 Kilogramm oder fast 10 Kilogramm mehr als beim Verlassen der »Fram«, während Johansen 75 Kilogramm wiegt und 6 Kilogramm zugenommen hat. Das ist die Folge davon, daß man sich einen Winter hindurch im arktischen Klima von nichts als Bärenfleisch und Fett genährt hat. Es stimmt aber nicht ganz mit den frühern Erfahrungen; unsere Trägheit muß das also zu Stande gebracht haben.

Hier leben wir nun in Frieden und Ruhe und warten auf das Schiff aus der Heimat und auf das, was die Zukunft uns bringen wird, während alles geschieht, um uns die Entbehrungen des Winters vergessen zu machen. Wir hätten kaum in bessere Hände fallen können, und es ist unmöglich, die unvergleichliche Gastfreundschaft und Freundlichkeit, die wir hier von allen Seiten erfahren, und die Behaglichkeit zu beschreiben, die wir fühlen. Sind es die Entbehrungen eines Jahres und der Mangel an menschlicher Gesellschaft, sind es die gemeinsamen Interessen, die uns in diesen öden Regionen so zu diesen Leuten hinziehen? Ich weiß es nicht; aber wir werden des Plauderns nie müde, und es kommt mir vor, als hätten wir einander Jahre gekannt, anstatt daß wir vor einigen Tagen uns zum ersten mal begegnet sind.

Mittwoch, 24. Juni. Es sind jetzt drei Jahre, seitdem wir die Heimat verlassen haben. Als wir heute beim Mittagstische saßen, stürzte Hayward, der Koch, mit der Nachricht herein, es sei ein Bär draußen. Wir begaben uns hinaus, Jackson mit seiner Camera, ich mit meiner Büchse. Wir bemerkten den Kopf des Bären über dem Rande des Ufers; er schnüffelte in der Richtung nach der Hütte in die Luft, während ein paar Hunde sich in respectvoller Entfernung hielten und bellten. Als wir uns näherten, kam er über den Rand gerade auf uns zu, blieb dort stehen, zeigte die Zähne und zischte, drehte sich dann herum und schritt langsam wieder hinunter nach dem Strande. Um ihn etwas aufzuhalten, damit Jackson noch hinzukommen und ihn photographiren könne, schickte ich ihm eine Kugel durch den Hinterkörper, gerade als er über dem Uferrande verschwand. Das half, und eine Kugel in die linke Schulter noch mehr. Von einigen Hunden umgeben, hielt der Bär jetzt Stand. Die Hunde wurden nun kühner, während ein paar Kugeln aus Jackson's Revolver in die Schnauze das Thier ganz wüthend machten. Er sprang zuerst auf den Hund »Misère« los, ergriff ihn im Genick und schleuderte ihn eine tüchtige Strecke über das Eis fort; dann sprang er gegen den andern Hund, ergriff ihn bei einer Pfote und zerriß ihm eine Zehe. Darauf fand er eine alte Blechbüchse, biß sie platt zusammen und schleuderte sie fort. Der Bär war rasend vor Wuth; eine Kugel hinter das Ohr beendete seine Leiden; es war ein Weibchen mit Milch in den Brüsten; doch fand sich kein Fötus, und auch Junge waren in der Nähe nicht zu sehen.

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Der verwundete Bär.

Sonntag, 5. Juli. Als Jackson und der Doctor heute Abend zur Alkenjagd auf dem Berge waren, begannen die Hunde fürchterlichen Lärm zu machen, namentlich der draußen vor der Thür angekettete Bärenhund »Nimrod« heulte und winselte verdächtig. Armitage ging hinaus, kam aber nach einer kleinen Weile wieder zurück und fragte mich, ob ich Lust hätte, einen Bären zu schießen. Ich begleitete ihn mit Büchse und Camera. Der Bär war nach einem kleinen Hügel auf dem Eise südlich von dem Hause geflüchtet und hatte sich der Länge lang auf demselben hingestreckt, während »Misère« und ein paar junge Hunde in geringer Entfernung von ihm herumstanden und unaufhörlich bellten. Als wir erschienen, floh der Bär über das Eis davon; die Schußweite war groß, allein trotzdem sandten wir einige Schüsse hinterher, in der Meinung, daß sie ihn in seinem Laufe vielleicht aufhalten könnten. Mit einer meiner Kugeln hatte ich das Glück, ihn am Hinterkörper zu treffen, worauf er wieder nach einem Eishügel floh. Hier konnte ich ihm näher kommen. Er war offenbar in großer Wuth und zeigte mir, als ich zu dem Hügel kam, auf dem er stand, die Zähne, zischte mich an und machte wiederholt Anstalt, sich von oben auf mich herabzustürzen. Infolge dessen machte ich schnell anstatt des photographischen Apparats meine Büchse bereit. Er kratzte den losen Schnee unter den Füßen fort, um einen bessern Stand für den Sprung zu erhalten, den er jedoch nicht unternahm; ich vertauschte daher die Büchse gegen meine Camera. Inzwischen war Jackson mit seinem Apparat auf der andern Seite herangekommen; als wir dann so viele Aufnahmen gemacht hatten, als wir haben wollten, schossen wir den Bären todt. Es war ein ungewöhnlich großes Weibchen.

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Ein Besucher. (Momentphotographie.)

Eine der ersten Aufgaben, nachdem wir zur Station Jackson's gekommen waren, war natürlich eine genaue Vergleichung unserer Uhren mit Jackson's Chronometer; auch war Herr Armitage so freundlich, sorgfältige Zeitbeobachtungen für mich vorzunehmen. Es zeigte sich nunmehr, daß wir doch nicht sehr weit von der Richtigkeit gewesen sind. Wir hatten unsere Uhren um ungefähr 26 Minuten falsch gestellt, was in der Länge einen Unterschied von 6½° ausmacht. Eine längere Begleichung, die Armitage vornahm, zeigte auch, daß der Gangverlust unserer Uhren fast genau so war, wie wir ihn angenommen hatten. Mit Hülfe dieser Auskunft war ich jetzt im Stande, unsere Längenbeobachtungen ziemlich genau auszurechnen; und eine der ersten Arbeiten, an welche ich mich hier machte, nun uns wieder Papier, Schreib- und Zeichenmaterialien sowie alles das zugänglich war, nach dem wir uns während des Winters so oft gesehnt hatten, bestand darin, eine Kartenskizze von Franz-Joseph-Land zu entwerfen, wie es nach unsern Beobachtungen meiner Ansicht nach sein mußte. Herr Jackson gestattete mir freundlichst, seine Karte des von ihm erforschten Theiles des Landes zu benutzen. Dadurch wurde mir die Arbeit erspart, meine astronomischen Beobachtungen und Peilungen für diesen Theil auszurechnen. Ferner habe ich Herrn Jackson meinen Dank auch für die Hülfe abzustatten, die er mir in jeder möglichen Weise mit Navigationstabellen, nautischem Jahrbuch Wir hatten kein nautisches Jahrbuch für 1896 und hatten bis dahin dasjenige für das vorhergehende Jahr benutzt. und aller Art Zeichenmaterial geleistet hat.

Unter Vergleichung der Karten von Payer, Leigh Smith und Jackson mit meinen Beobachtungen habe ich die diesem Bande beigefügte »Vorläufige Kartenskizze der als Franz-Joseph-Land bekannten Inselgruppe« entworfen. Ich habe Payer's und Jackson's Karten an denjenigen Stellen abgeändert, wo meine Beobachtungen wesentlich von den ihrigen abweichen. Ich erhebe keinen Anspruch darauf, mehr als eine vorläufige Skizze zu geben, da ich nicht einmal Zeit gehabt habe, meine eigenen Beobachtungen ordentlich auszurechnen. Wenn dies geschehen ist und mir alles Material Payer's zugänglich ist, dann läßt sich ohne Zweifel eine erheblich vertrauenswürdigere Karte herstellen. Die einzige Bedeutung, die ich für meine Skizze in Anspruch nehme, ist, daß sie in roher Weise zeigt, daß das, was bisher Franz-Joseph-Land genannt worden ist, in unzählige kleine Inseln ohne eine zusammenhängende, ausgedehnte Landmasse zertheilt ist. Vieles von Payer's Karte stimmt, wie ich fand, gut mit unsern Beobachtungen überein; allein das Räthsel, über welches wir den ganzen Winter nachgegrübelt hatten, blieb noch immer ungelöst. Wo war der Rawlinson-Sund, wo der Dove-Gletscher, wo war der ganze nördliche Theil von Wilczek-Land? Wo waren die Inseln, die Payer Braun-Insel, Hoffmann-Insel und Freeden-Insel genannt hatte? Die letztere könnte ohne Zweifel mit der südlichsten Insel von Hvidtenland identificirt werden, die Hoffmann-Insel kann vielleicht auch gefunden werden, allein die andern waren vollständig verschwunden. Ich habe anfänglich viel darüber nachgedacht, wie ein solcher Irrthum in die Karte eines Mannes wie Payer hatte kommen können, eines Mannes, der als Topograph so große Erfahrungen hat und dessen Karten sonst den Stempel großer Genauigkeit und Sorgfalt an sich tragen, eines Mannes, dessen Tüchtigkeit als Polarreisender ich stets bewundert habe. Ich habe seinen Reisebericht geprüft und gefunden, daß er ausdrücklich erwähnt, er habe in der Zeit, als er an dem Dove-Gletscher entlang fuhr, sehr viel Nebel gehabt, der das Land voraus vollständig verborgen habe. Aber eines Tages (es war am 7. April 1874) sagt er: Payer, Die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition in den Jahren 1872-74, S. 306.:

»Es hatte in dieser Breite den Anschein, als höre das Wilczek-Land plötzlich auf; doch als die Sonne die treibenden Nebel verzehrte, sahen wir die glänzende Hochfläche seiner ungeheuern Gletscher (Dove-Gletscher) in einem fast ununterbrochenen Weiß zu uns herüberstarren. Nach Nordost hin ließ sich das Land nur bis Kap Budapest in nebelgrauer Ferne verfolgen. Dieser Anblick allein war es, welcher dem Totaleindruck des Landes, das heißt, dem topographischen Charakter Spitzbergens widersprach; denn Gletscher ungewöhnlicher Größe setzen ein ausgedehntes Hinterland voraus.«

Ich habe über diese Schilderung oft nachgedacht, kann aber in Payer's Werk keine andere Lösung finden, die Licht in dieses Geheimniß brächte. Obwol es danach scheinen würde, daß sie an jenem Tage klares Wetter gehabt haben, müssen nichtsdestoweniger über Hvidtenland Nebelbänke gelegen haben, die es nach Süden mit Wilczek-Land verbanden und sich auch nordwärts in der Richtung nach Kronprinz-Rudolf-Land ausdehnten. Die von der Sonne beschienenen Nebelbänke müssen dermaßen geglitzert haben, daß man sie für Gletscher an einer fortlaufenden Küste gehalten hat. Ich kann diesen Irrthum um so leichter begreifen, als ich selbst auf dem Punkte gestanden habe, in ihn zu verfallen. Wie früher erwähnt, würden wir, wenn das Wetter am Abend des 11. Juni 1896 sich nicht aufgeklärt und uns in den Stand gesetzt hätte, die Straße zwischen der Insel Northbrook und Peter-Head (Alexandra-Land) zu unterscheiden, unter dem Eindruck geblieben sein, hier zusammenhängendes Land zu haben, und würden es bei der Zeichnung der Karte dieser Gegend auch als solches dargestellt haben.

Jackson und ich haben oft über die Benennung der Länder, die wir erforscht hatten, gesprochen. Ich fragte ihn, ob er etwas dagegen habe, wenn ich das Land, auf dem ich überwintert hatte, als ein kleines Zeichen unserer Dankbarkeit für die uns von ihm bewiesene Gastfreundschaft »Frederick-Jackson-Insel« benennen würde. Wir hatten die Entdeckung gemacht, daß diese Insel durch Straßen von dem Lande weiter nördlich getrennt war, welches Payer Karl-Alexander-Land genannt hatte. Im übrigen habe ich mich enthalten, einer von den Oertlichkeiten, die Jackson vor mir gesehen hatte, Namen zu geben.

Das Land um Kap Flora erwies sich in geologischer Beziehung als höchst interessant, und so oft die Zeit es mir erlaubte, untersuchte ich es entweder allein oder häufiger noch in Gesellschaft von Dr. Koetlitz, des Arztes und Geologen der englischen Expedition. Wir haben miteinander manchen interessanten Ausflug an den steilen Geröllhalden hinauf und hinunter gemacht, um Versteinerungen zu suchen, die wir an einzelnen Plätzen in großer Zahl fanden. Vom Strande bis zur Höhe von etwa 160 oder 200 Meter bestand der Boden aus weichem Thon, vermischt mit Knollen von rothbraunem thonigem Sandstein; in den Knollen fanden sich die Versteinerungen reichlich. Diese bestanden im wesentlichen aus Ammoniten und Belemniten und bewiesen, daß die ganze Schicht aus der mesozoischen Zeit (Jura) stamme. An mehrern Stellen hatte Dr. Koetlitz dünne Braunkohlenschichten im Thon gefunden, auch war versteinertes Holz vielfach zu beobachten. Ueber dem Thon lag der Basalt 200–230 Meter mächtig.

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Pastellskizze von Fridtjof Nansen. Mondring.
F. A. Brockhaus' Geogr.-artist. Anstalt, Leipzig. (22. Nov. 1893.)
Durch den Mond geht die vertikale Lichtachse mit einem abgeflachten, stark hervortretendem Lichtfeld, wo sie den Horizont trifft. Eine Andeutung der horizontalen Lichtachse ist beim Monde vorhanden. Auf beiden Seiten sind Theile des Mondrings mit Nebenmonden sichtbar.

Es war unleugbar ein schroffer Uebergang, als wir direct nach unserm langen unthätigen Leben im Winterlager uns wieder mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigten. In dem Botaniker der Expedition, Herrn Harry Fisher, fand ich einen Mann voll des wärmsten Interesses für die Fauna und Flora der Polargegenden. Seine Untersuchungen des Thier- und insbesondere des Pflanzenlebens dieser Gegend sowol zur See wie zu Lande werden sicherlich unsere Kenntnisse von ihren biologischen Verhältnissen in werthvollster Weise vergrößern.

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Dr. Koethlitz beim Burgfelsen, einem verwitterten Basaltblock auf Kap Flora.

Aber es standen auch noch andere Zerstreuungen zur Verfügung. Wenn mir der Kopf von der ungewohnten Arbeit müde wurde, konnte ich mich mit Jackson nach dem obern Ende der Geröllhalde begeben, um Alke zu schießen, die sich in Schwärmen an den Basaltmauern aufhielten. Sie nisteten zu Hunderten und Aberhunderten auf den Absätzen und Rändern über uns; an andern Stellen brüteten die Stummelmöven auf ihren Nestern.

Es war ein erquickendes Bild voll Leben und Bewegung. Wenn wir dort oben in der Höhe von 160 Meter standen und weithinaus über die See blickten, flogen die Alke in Schwärmen über unsern Köpfen hin und her; ab und zu erlegten wir einen oder zwei beim Vorbeifliegen. Jedesmal, wenn ein Schuß fiel, widerhallte es donnernd aus allen Felsspalten, und Tausende von Vögeln flatterten mit betäubendem Lärm von den Abhängen herab. Es sah aus, als ob ein Windstoß eine große Staubwolke von dem Rande oben herabgefegt habe. Allmählich kehrten die Thiere aber zu ihren Nestern zurück, wobei viele unsern Flinten zum Opfer fielen. Jackson hatte hier eine vortreffliche Vorrathskammer und machte reichlichen Gebrauch davon. Fast jeden Tag war er oben unter den Klippen, und gebratene Alke bildeten ein tägliches Gericht auf dem Mittagstische. Im Herbst wurden große Vorräthe davon angesammelt, um den Winter hindurch genug zu haben. Zu andern Zeiten pflegten Jackson und Blomqvist hinaufzugehen und Eier zu sammeln; sie schleppten eine Leiter mit, mit deren Hülfe Jackson an den senkrechten Klippen emporkletterte. Diese Eierjagd behagte uns weniger; sie sah zwischen den Basaltklippen, wo die losen Steine beständig unter den Füßen wegglitten, so tollkühn aus, daß ich mich darauf nicht einließ. Fern sei es jedoch von mir, zu leugnen, daß die Eier eine köstliche Speise bildeten, mochten wir sie weich gekocht zum Frühstück oder als Eierkuchen zum Mittagessen genießen.

Es war merkwürdig, wie ungewandt ich beim Klettern an steilen Stellen war. Ich entsinne mich noch sehr wohl des ersten Ganges mit Jackson das Geröll hinauf. Ich mußte alle hundert Schritt anhalten und Athem schöpfen, bevor ich weiter konnte. Ohne Zweifel war das eine Folge des langen Stillliegens; vielleicht war ich auch während des Winters in unserm Lager etwas blutarm geworden. Aber es war nicht bloß dies; schon die Höhe und Steilheit verursachten mir Unbehagen, es wurde mir fast schwindelig, und ich hatte große Mühe, wieder herunterzukommen, wobei ich es vorzog, mich, wo es möglich war, niederzusetzen und hinunterzurutschen. Nach einer Weile ging es vorüber und hatte ich mich wieder mehr an die Höhen gewöhnt; ich wurde auch weniger kurzathmig und konnte schließlich wieder fast wie ein normaler Mensch klettern. –

siehe bildunterschrift

Stummelmöve im Nest.

Inzwischen vergingen die Tage, und wir sahen noch immer nichts von dem englischen Schiffe. Johansen und ich wurden allmählich ein wenig ungeduldig. Wir erörterten die Möglichkeit, daß das Schiff sich vielleicht nicht den Weg durch das Eis bahnen könne und daß wir doch noch überwintern müßten. Der Gedanke war nicht besonders verlockend für uns, so nahe der Heimat zu sein und sie doch nicht erreichen zu können. Wir bedauerten, daß wir nicht sofort nach Spitzbergen weiter aufgebrochen seien; vielleicht hätten wir um diese Zeit dann schon die vielbesprochene Jacht erreicht. Weshalb waren wir eigentlich hier geblieben? Das war doch leicht zu erklären. Die Leute waren so freundlich und gastfrei gegen uns, daß es mehr als spartanisch gewesen wäre, hätten wir ihrer Liebenswürdigkeit widerstehen wollen. Und dann hatten wir vor unserer Ankunft sehr viel durchgemacht, und hier war ein warmes, behagliches Nest, wo wir nichts zu thun hatten, als uns hineinzusetzen und zu warten. Warten ist jedoch nicht immer die leichteste Aufgabe, und wir begannen ernstlich daran zu denken, uns wieder auf den Weg nach Spitzbergen zu machen. Aber hatten wir nicht schon zu lange gezögert? Es war jetzt Mitte Juli, und wenn wir wahrscheinlich auch rasch genug vorwärts kommen würden, so konnten wir doch auf unerwartete Hindernisse stoßen und vielleicht einen Monat oder noch mehr brauchen, um die Gewässer zu erreichen, in denen wir ein Schiff zu treffen hoffen durften. Das würde uns bis in die Mitte, vielleicht bis an das Ende des August bringen, um welche Zeit die Jachten schon begonnen haben würden, die Heimreise anzutreten. Wenn wir nicht sofort ein Schiff anträfen, würde es, nachdem wir erst einmal in den September gekommen wären, schwer sein, eins zu erreichen, und dann würden wir uns trotz allem auf einen weitern Winter gefaßt machen müssen. Nein, am besten war es, hier zu bleiben, da alle Aussicht vorhanden war, daß das Schiff erscheinen würde. Die beste Zeit zum Befahren dieser Gewässer ist der August und Anfang September, weil dann gewöhnlich das offene Wasser am ausgedehntesten ist. Darauf müssen wir vertrauen und im übrigen die Zeit ruhig ihren Gang gehen lassen.

Außer uns gab es noch andere, die ungeduldig auf das Schiff warteten: auch vier Mitglieder der englischen Expedition sollten nach zweijähriger Abwesenheit nach Hause zurückkehren.

Montag, 20. Juli. Wir werden wegen der Ankunft des Schiffes immer ungeduldiger, jedoch ist das Eis hier noch immer ziemlich dick. Jackson sagt, das Schiff hätte schon um die Mitte Juni hier sein sollen, und meint, es wäre schon mehrfach genügend offenes Wasser gewesen, um durchzukommen; ich hege darüber jedoch Zweifel. Obwol hier, selbst aus der Höhe von 160 Meter, nur wenig und zerstreutes Eis sichtbar ist, ist vielleicht weiter südlich mehr Eis und versperrt den Weg.

Eines Tages waren Jackson und der Doctor auf den Gipfel des Berges gestiegen; auch von diesem Punkte aus war sehr wenig Eis im Süden zu sehen; indeß überzeugt mich das um nichts mehr. Nach meiner Ansicht beweisen alle Erfahrungen, daß noch viel Eis nach Süden hin im Meere sein muß. Wenn Jackson sagt, daß die »Windward« im vorigen Jahre schon im Juli habe durchkommen können, ohne daß sie das Eis nur zu berühren brauchte, und hinzufügt, daß auch damals von hier kein Eis zu sehen gewesen sei, so finde ich durchaus nicht, daß das entscheidend ist. Wie gern täuscht sich der Mensch!

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Die englische Niederlassung auf Kap Flora.

Während der letzten Tage ist wieder mehr Eis von Osten hereingetrieben. Ich sehne mich danach, fortzukommen. Hier den ganzen Winter eingeschlossen zu werden! Dann haben wir Unrecht gethan, hier zu bleiben. Weshalb haben wir nicht die Reise nach Spitzbergen fortgesetzt? Wir würden jetzt wol zu Hause sein. Das Auge schweift hinaus über die unbegrenzte weiße Ebene. Nicht ein einziger Streifen dunkeln Wassers – Eis! Eis! –, ausgeschlossen von der Welt, von dem pulsirenden Leben, dem Leben, das wir schon so nahe glaubten!

Tief unten am Horizont ein blauer Wolkenstreifen. In weiter, weiter Ferne, jenseits des Eises ist offenes Wasser, und dort auf den langen rollenden Wogen des großen Oceans schaukelt sich vielleicht das Schiff, das uns zu den vertrauten Küsten tragen, das uns Nachrichten aus der Heimat und von unsern Lieben bringen soll.

Träume, träume von Heimat, von Schönheit! Verirrter Vogel, hier zwischen Eis und Schnee wirst du dies alles vergeblich suchen, Träume den goldenen Traum des kommenden Wiedersehens!

Dienstag, 21. Juli. Haben endlich guten Wind aus Norden erhalten, der das Eis in die See hinaustreibt. Heute Abend ist nichts als offenes Meer zu sehen; jetzt ist vielleicht Hoffnung, daß wir das Schiff bald erblicken.

Mittwoch, 22. Juli. Fortwährende Veränderungen, fortwährende Enttäuschungen. Gestern war die Hoffnung stark, heute hat der Wind sich nach Südost gedreht und das Eis wieder hereingetrieben. Wir müssen vielleicht noch lange Zeit warten.


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