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Bonadea, Kakanien; Systeme des Glücks und Gleichgewichts

 

Wenn es in Kakanien jemand gab, der von Politik nichts verstand, noch wissen wollte, so war dies Bonadea; und doch bestand zwischen ihr und den unerlösten Nationen ein Zusammenhang: Bonadea (nicht zu verwechseln mit Diotima; Bonadea, die gute Göttin, Göttin der Keuschheit, deren Tempel durch Verkettung des Schicksals zum Schauplatz von Ausschweifungen geworden war, Gattin eines Landesgerichtspräsidenten oder dergleichen und unglückliche Geliebte eines Mannes, der ihrer weder würdig noch genügend bedürftig war) besaß ein System, und die Politik in Kakanien besaß keines.

Bonadeas System hatte bisher in einem Doppelleben bestanden. Sie stillte ihren Ehrgeiz in einem gehoben zu nennenden Familienkreis und empfing auch in ihrem gesellschaftlichen Verkehr die Genugtuung, für eine hochgebildete und distinguierte Dame zu gelten; gewissen Verlockungen, denen ihr Geist ausgesetzt war, gab sie aber mit der Ausrede nach, daß sie das Opfer einer überreizten Konstitution sei, oder auch, daß sie ein Herz habe, welches zu Torheiten verleite, denn Torheiten des Herzens sind ähnlich ehrenvoll wie romantisch-politische Verbrechen, selbst wenn ihre Begleitumstände nicht ganz einwandfrei sein sollten. Das Herz spielte dabei die gleiche Rolle wie Ehre, Gehorsam und des Dienstreglements III. Teil im Leben des Generals oder wie der irrationale Rest in jedem geordneten Lebensverhalten, der zuletzt alles in Ordnung bringt, was der Verstand nicht dahin zu bringen vermag.

Dieses System hatte aber mit einem Fehler gearbeitet; es teilte Bonadeas Leben in zwei Zustände, zwischen denen sich der Übergang nicht ohne schwere Verluste vollzog. Denn so beredsam das Herz vor einem Fehltritt sein konnte, so mutlos war es nachher, und seine Besitzerin wurde immerwährend zwischen manisch moussierenden und tintenschwarz ausfließenden Seelenzuständen hin und her bewegt, die sich nur selten ausglichen. Immerhin war es ein System; das heißt, es war kein sich selbst überlassenes Spiel der Triebe – etwa so, wie man einmal vor Zeiten das Leben als eine automatische Bilanz von Lust und Unlust, mit einem gewissen Schlußsaldo an Lust hat verstehen wollen –, sondern es enthielt beträchtliche geistige Vorkehrungen, um diese Bilanz zu fälschen.

Jeder Mensch hat eine solche Methode, die Bilanz seiner Eindrücke zu seinen Gunsten umzudeuten, so daß gewissermaßen das tägliche Existenzminimum an Lust daraus hervorgeht, das in gewöhnlichen Zeiten genügt. Seine Lebenslust kann dabei auch aus Unlust bestehn, solche Materialunterschiede spielen keine Rolle, denn bekanntlich gibt es ebenso glückliche Melancholiker wie es Trauermärsche gibt, die um nichts schwerer in ihrem Element schweben wie ein Tanz in dem seinen. Wahrscheinlich läßt sich sogar auch umgekehrt behaupten, daß viele fröhliche Menschen nicht um das geringste glücklicher sind als traurige, denn Glück strengt genau so an wie Unglück; das ist ungefähr so wie Fliegen nach dem Prinzip Leichter – oder Schwerer als die Luft. Aber ein anderer Einwand liegt nahe; denn hätte dann nicht die alte Weisheit der Wohlhabenden recht, daß kein Armer sie zu beneiden brauche, da es ja lediglich eine Einbildung sei, daß ihn ihr Geld glücklicher machen würde? Es würde ihn bloß vor die Aufgabe stellen, statt seines Lebenssystems ein anderes auszubilden, dessen Lusthaushalt bestenfalls doch nur mit dem kleinen Glücksüberschuß abschließen könnte, den er ohnedies hat. Theoretisch bedeutet das, daß die Familie ohne Obdach, wenn sie in einer eisigen Winternacht nicht erfroren ist, bei den ersten Strahlen der Morgensonne ebenso glücklich ist wie der reiche Mann, der aus dem warmen Bett heraus muß; und praktisch kommt es darauf hinaus, daß jeder Mensch geduldig wie ein Esel das trägt, was ihm aufgepackt ist, denn ein Esel, der um eine Kleinigkeit stärker ist als seine Last, ist glücklich. Und in der Tat, das ist die verläßlichste Definition von persönlichem Glück, zu der man gelangen kann, solange man nur einen Esel allein betrachtet. In Wahrheit ist aber das persönliche Glück (oder Gleichgewicht, Zufriedenheit oder wie immer man das automatische innerste Ziel der Person nennen mag) nur soweit in sich selbst abgeschlossen, wie es ein Stein in einer Mauer oder ein Tropfen in einem Fluß ist, durch den die Kräfte und Spannungen des Ganzen gehn. Was ein Mensch selbst tut und empfindet, ist geringfügig, im Vergleich mit allem, wovon er voraussetzen muß, daß es andere für ihn in ordentlicher Weise tun und empfinden. Kein Mensch lebt nur sein eigenes Gleichgewicht, sondern jeder stützt sich auf das der Schichten, die ihn umfassen, und so spielt in die kleine Lustfabrik der Person ein höchst verwickelter moralischer Kredit hinein, von dem noch zu sprechen sein wird, weil er nicht weniger zur seelischen Bilanz der Gesamtheit wie zu der des Einzelnen gehört.

Seit Bonadeas Anstrengungen, ihren Geliebten wiederzugewinnen, keinen Erfolg hatten und sie glauben machten, daß Diotimas Geist und Tatkraft ihr Ulrich geraubt hätten, war sie maßlos eifersüchtig auf diese Frau, hatte aber, wie das schwachen Menschen leicht widerfährt, in der Bewunderung für sie eine gewisse Erklärung und Entschädigung gefunden, die ihr für den Verlust zum Teil Genüge tat; in diesem Zustand befand sie sich nun schon geraume Weile und hatte es durchgesetzt, daß sie hie und da unter dem Vorwand bescheidener Beiträge zur Parallelaktion von Diotima empfangen worden war, ohne daß sie jedoch in den Verkehr des Hauses einbezogen wurde, und sie bildete sich ein, daß zwischen Diotima und Ulrich darüber ein gewisses Einvernehmen bestehen müsse. So litt sie unter der Grausamkeit der beiden, und da sie sie auch liebte, entstand in ihr die Illusion einer unvergleichlichen Reinheit und Selbstlosigkeit ihres Empfindens. Des Morgens, wenn ihr Mann die Wohnung verlassen hatte, worauf sie ungeduldig wartete, setzte sie sich sehr oft vor den Spiegel wie ein Vogel, der sein Gefieder zurechtschüttelt. Sie band, brannte und wand dann ihr Haar, bis es eine Form annahm, die Diotimas griechischem Knoten nicht unähnlich sah. Sie strich und bürstete kleine Locken hervor, und wenn das Ganze auch ein wenig lächerlich wurde, sie bemerkte es nicht, denn aus dem Spiegel lächelte ihr ein Antlitz entgegen, das in seiner allgemeinen Gestaltung nun von ferne an die Göttliche erinnerte. Die Sicherheit und Schönheit eines Wesens, das von ihr bewundert wurde, und sein Glück stiegen dann in den kleinen, seichten, warmen Wellen einer geheimnisvollen, wenn auch noch nicht tief vollzogenen Vereinigung in ihr empor, gleichwie man am Rand eines großen Meeres sitzt und die Füße ins Wasser stellt. Dieses einer religiösen Verehrung ähnliche Verhalten – denn von den Göttermasken, in die der Mensch in ursprünglichen Zuständen mit seinem ganzen Körper hineinkriecht, bis zu den Zeremonien der Zivilisation hat solches das Fleisch ergreifende Glück der gläubigen Nachahmung niemals seine Bedeutung ganz ausgespielt! – wurde über Bonadea noch dadurch mächtig, daß sie Kleider und Äußerlichkeiten mit einer Art Zwang liebte. Wenn Bonadea sich in einem neuen Kleid im Spiegel betrachtete, so hätte sie sich niemals vorzustellen vermocht, daß eine Zeit kommen könne, wo man etwa, statt Schinkenärmeln, gekräuselten Stirnlöckchen und langen Glockenröcken, Knieröckchen und Knabenhaar tragen werde. Sie hätte die Möglichkeit auch nicht bestritten, denn ihr Gehirn wäre einfach nicht imstande gewesen, eine solche Vorstellung aufzunehmen. Sie hatte sich immer so gekleidet, wie man als vornehme Frau aussehen mußte, und empfand jedes Halbjahr vor der neuen Mode eine Ehrfurcht wie vor der Ewigkeit. Hätte man ihrer Überlegungsfähigkeit das Zugeständnis der Vergänglichkeit abgezwungen, so hätte auch das ihre Ehrfurcht nicht im geringsten vermindert. Sie nahm den Zwang der Welt rein in sich auf, und die Zeiten, wo man die Besuchskarten an einer Ecke umbog oder seinen Freunden Neujahrswünsche ins Haus schickte oder auf dem Ball die Handschuhe abstreifte, lagen in den Zeiten, wo man das nicht tat, so weit hinter ihr wie für jeden andern Zeitgenossen die Zeit vor hundert Jahren, nämlich ganz und gar im Unvorstellbaren, Unmöglichen und Überholten. Darum war es auch in solchem Grade komisch, Bonadea ohne Kleider zu sehn; sie war dann gänzlich auch jedes ideellen Schutzes entkleidet und die nackte Beute eines unerbittlichen Zwangs, der so unmenschlich wie ein Erdbeben über sie herfiel.

Dieser periodische Untergang ihrer Kultur in den Umschwüngen einer dumpfen Stoffwelt hatte sich aber jetzt verloren, und seit Bonadea so geheimnisreiche Sorgfalt auf ihr Aussehen verwandte, lebte sie, was seit ihrem zwanzigsten Jahr nicht mehr geschehen war, den illegitimen Teil ihres Lebens als Witwe. Wohl kann man es als eine allgemeine Erfahrung hinnehmen, daß Frauen, die übergroße Sorgfalt auf ihr Aussehen verwenden, verhältnismäßig tugendhaft sind, denn das Mittel verdrängt dann den Zweck, genau so wie große Sporthelden oft schlechte Liebhaber abgeben, gar zu martialisch aussehende Offiziere schlechte Soldaten und besonders durchgeistigte Männerköpfe manchmal sogar Dummköpfe sind; aber bei Bonadea handelte es sich nicht nur um diese Frage der Energieverteilung, sondern sie hatte sich mit einer ganz überraschenden Überergiebigkeit ihrem neuen Leben zugewandt. Sie zog mit der Liebe eines Malers ihre Augenbrauen nach, emaillierte sich ein wenig an Stirn und Wangen, so daß diese aus dem Naturalismus zu jener leichten Überhöhung und Entfernung von der Wirklichkeit gelangten, die dem sakralen Stil eigentümlich ist, der Körper wurde im weichen Korsett zurechtgerüttelt, und für die großen Brüste, die ihr sonst immer etwas hinderlich und beschämend, weil allzu weiblich vorgekommen waren, empfand sie mit einemmal eine schwesterliche Liebe. Ihr Gatte war nicht wenig erstaunt, wenn er sie mit dem Finger am Hals kitzelte und zur Antwort bekam: »Zerstöre doch nicht meine Frisur!« oder wenn er fragte: »Willst du mir denn nicht die Hand geben?!« und sie antwortete: »Unmöglich, ich habe mein neues Kleid an!« Aber die Kraft der Sünde hatte sich gleichsam aus den Scharnieren gelöst, in denen sie der Körper gefangen hält, und wanderte wie ein frühlingshaftes Gestirn in der verklärten neuen Welt einer Bonadea umher, die sich unter dieser ungewohnten und mild verdünnten Art der Bestrahlung von ihrer »Überreizung« befreit fühlte, als ob ein Schorf von ihr abgefallen wäre. Zum erstenmal, seit sie verheiratet waren, fragte sich ihr Ehemann mißtrauisch, ob nicht ein Dritter seinen häuslichen Frieden störe.

Was sich damit ereignet hatte, war aber nichts anderes als eine Erscheinung aus dem Bereich der Lebenssysteme. Kleider, aus dem Fluidum der Gegenwart herausgehoben und in ihrem ungeheuerlichen Dasein auf einer menschlichen Gestalt als Form an sich betrachtet, sind seltsame Röhren und Wucherungen, würdig der Gesellschaft eines Nasenpfeils und durch die Lippen gezogenen Rings; aber wie hinreißend werden sie, wenn man sie samt den Eigenschaften sieht, die sie ihrem Besitzer leihen! Dann geschieht nicht weniger, als wenn in einen krausen Linienzug auf einem Stück Papier der Sinn eines großen Worts hineinfährt. Man stelle sich vor, die unsichtbare Güte und Auserlesenheit eines Menschen tauche plötzlich als ein dottrig goldener, vollmondgroß schwebender Heiligenschein hinter seinem Scheitelwirbel auf, wie es auf frommen, alten Bildern zu sehen ist, während er am Korso spazierengeht oder bei einem Tee soeben Sandwiches auf seinen Teller legt: es wäre ohne Zweifel eines der ungeheuersten und erschütterndsten Erlebnisse; und solche Kraft, das Unsichtbare, ja sogar das gar nicht Vorhandene sichtbar zu machen, beweist ein gut gemachtes Kleidungsstück alle Tage!

Solche Gegenstände gleichen Schuldnern, die den Wert, den wir ihnen leihen, mit phantastischen Zinsen zurückzahlen, und eigentlich gibt es nichts als Schuldnerdinge. Denn jene Eigenschaft der Kleidungsstücke besitzen auch Überzeugungen, Vorurteile, Theorien, Hoffnungen, der Glaube an irgendetwas, Gedanken, ja selbst die Gedankenlosigkeit besitzt sie, sofern sie nur kraft ihrer selbst von ihrer Richtigkeit durchdrungen ist. Sie alle dienen, indem sie uns das Vermögen leihen, das wir ihnen borgen, dem Zweck, die Welt in ein Licht zu stellen, dessen Schein von uns ausgeht, und im Grunde ist nichts anderes als dies die Aufgabe, für die jeder sein besonderes System hat. Mit großer und mannigfaltiger Kunst erzeugen wir eine Verblendung, mit deren Hilfe wir es zuwege bringen, neben den ungeheuerlichsten Dingen zu leben und dabei völlig ruhig zu bleiben, weil wir diese ausgefrorenen Grimassen des Weltalls als einen Tisch oder einen Stuhl, ein Schreien oder einen ausgestreckten Arm, eine Geschwindigkeit oder ein gebratenes Huhn erkennen. Wir sind imstande, zwischen einem offenen Himmelsabgrund über unserem Kopf und einem leicht zugedeckten Himmelsabgrund unter den Füßen, uns auf der Erde so ungestört zu fühlen wie in einem geschlossenen Zimmer. Wir wissen, daß sich das Leben ebenso in die unmenschlichen Weiten des Raums wie in die unmenschlichen Engen der Atomwelt verliert, aber dazwischen behandeln wir eine Schicht von Gebilden als die Dinge der Welt, ohne uns im geringsten davon anfechten zu lassen, daß das bloß die Bevorzugung der Eindrücke bedeutet, die wir aus einer gewissen mittleren Entfernung empfangen. Ein solches Verhalten liegt beträchtlich unter der Höhe unseres Verstandes, aber gerade das beweist, daß unser Gefühl stark daran teil hat. Und in der Tat, die wichtigsten geistigen Vorkehrungen der Menschheit dienen der Erhaltung eines beständigen Gemütszustands, und alle Gefühle, alle Leidenschaften der Welt sind ein Nichts gegenüber der ungeheuren, aber völlig unbewußten Anstrengung, welche die Menschheit macht, um sich ihre gehobene Gemütsruhe zu bewahren! Es lohnt sich scheinbar kaum, davon zu reden, so klaglos wirkt es. Aber wenn man näher hinsieht, ist es doch ein äußerst künstlicher Bewußtseinszustand, der dem Menschen den aufrechten Gang zwischen kreisenden Gestirnen verleiht und ihm erlaubt, inmitten der fast unendlichen Unbekanntheit der Welt würdevoll die Hand zwischen den zweiten und dritten Rockknopf zu stecken. Und um das zuwege zu bringen, gebraucht nicht nur jeder Mensch seine Kunstgriffe, der Idiot ebensogut wie der Weise, sondern diese persönlichen Systeme von Kunstgriffen sind auch noch kunstvoll eingebaut in die moralischen und intellektuellen Gleichgewichtsvorkehrungen der Gesellschaft und Gesamtheit, die im Größeren dem gleichen Zweck dienen. Dieses Ineinandergreifen ist ähnlich dem der großen Natur, wo alle Kraftfelder des Kosmos in das der Erde hineinwirken, ohne daß man es merkt, weil das irdische Geschehen eben das Ergebnis ist; und die dadurch bewirkte geistige Entlastung ist so groß, daß sich die Weisesten genau so wie die kleinen Mädchen, die nichts wissen, in ungestörtem Zustande sehr klug und gut vorkommen.

Aber von Zeit zu Zeit, nach solchen Zufriedenheitszuständen, die man in gewissem Sinn auch Zwangszustände des Fühlens und Wollens nennen könnte, scheint das Gegenteil über uns zu kommen oder, um es gleichfalls in Begriffen eines Narrenhauses auszudrücken, es setzt dann plötzlich auf der Erde eine gewaltige Ideenflucht ein, nach deren Ablauf das ganze Menschenleben um neue Mittelpunkte und Achsen gelagert ist. Die tiefer als der Anlaß reichende Ursache aller großen Revolutionen liegt nicht in der angehäuften Unzuträglichkeit, sondern in der Abnützung des Zusammenhalts, der die künstliche Zufriedenheit der Seelen gestützt hat. Man könnte darauf am besten den Ausspruch eines berühmten Frühscholastikers anwenden, der lateinisch »Credo, ut intelligam« lautet und etwas frei sich etwa so ins zeitgenössische Deutsche übersetzen läßt: Herr, o mein Gott, gewähre meinem Geist einen Produktionskredit! Denn wahrscheinlich ist jedes menschliche Credo nur ein Sonderfall des Kredits überhaupt. In der Liebe wie im Geschäft, in der Wissenschaft wie beim Weitsprung muß man glauben, ehe man gewinnen und erreichen kann, und wie sollte das nicht vom Leben im ganzen gelten?! Seine Ordnung mag noch so begründet sein, ein Stück freiwilligen Glaubens an diese Ordnung ist immer darunter, ja es bezeichnet wie bei einer Pflanze die Stelle, wo der Trieb angesetzt hat, und ist dieser Glaube verbraucht, für den es keine Rechenschaft und Deckung gibt, so folgt bald der Zusammenbruch; es stürzen Zeitalter und Reiche nicht anders zusammen wie Geschäfte, wenn ihnen der Kredit verlorengeht. Und damit wäre diese grundsätzliche Betrachtung des seelischen Gleichgewichts von dem schönen Beispiel Bonadeas zu dem traurigen Kakaniens gelangt. Denn Kakanien war das erste Land im gegenwärtigen Entwicklungsabschnitt, dem Gott den Kredit, die Lebenslust, den Glauben an sich selbst und die Fähigkeit aller Kulturstaaten entzog, die nützliche Einbildung zu verbreiten, daß sie eine Aufgabe hätten. Es war ein kluges Land und beherbergte kultivierte Menschen; wie alle kultivierten Menschen an allen Orten der Erde liefen diese zwischen einer ungeheuren Aufregung von Geräusch, Geschwindigkeit, Neuerung, Streitfall und allem, was sonst noch zur optisch-akustischen Landschaft unseres Lebens gehört, in einer unentschiedenen Gemütslage umher; wie alle anderen Menschen lasen und hörten sie täglich einige Dutzend Nachrichten, die ihnen die Haare sträubten, und waren bereit, sich über sie zu erregen, ja sogar einzugreifen, aber es kam nicht dazu, denn einige Augenblicke später war der Reiz schon durch neuere aus dem Bewußtsein verdrängt; wie alle anderen fühlten sie sich von Mord, Totschlag, Leidenschaft, Opfermut, Größe umgeben, die sich irgendwie in dem Knäuel ereigneten, der um sie gebildet war, aber sie konnten zu diesen Abenteuern nicht hingelangen, weil sie in einem Büro oder einer anderen Berufsanstalt gefangen saßen, und wenn sie gegen Abend freikamen, so explodierte ihre Spannung, mit der sie nichts mehr anzufangen wußten, in Vergnügungen, die ihnen kein Vergnügen bereiteten. Und eines kam gerade bei den Kultivierten, wenn sie sich nicht so ausschließlich der Liebe widmeten wie Bonadea, noch hinzu: Sie hatten nicht mehr die Gabe des Kredits und nicht die des Betrugs. Sie wußten nicht mehr, wo kam ihr Lächeln, ihr Seufzer, ihr Gedanke hin? Wozu hatten sie gedacht und gelächelt? Ihre Ansichten waren Zufälle, ihre Neigungen waren längst da, irgendwie hing alles als Schema in der Luft, in das man hineinlief, und sie konnten nichts von ganzem Herzen tun oder lassen, weil es kein Gesetz ihrer Einheit gab. Auf solche Weise war der Kultivierte der Mensch, der fühlte, daß irgendeine Schuld immer höher steige, daß er sie nie mehr werde abtragen können, er war der Mann, der den unausweichlichen Konkurs sah und entweder die Zeit anklagte, in der er zu leben verurteilt sei, obgleich er genau so gerne in ihr lebte wie nur irgendwer, oder sich mit dem Mut eines, der nichts zu verlieren hatte, auf jede Idee stürzte, die ihm eine Änderung versprach.

Das war nun freilich in der ganzen Welt so, aber als Gott Kakanien den Kredit entzog, tat er das Besondere, daß er die Schwierigkeiten der Kultur ganzen Völkern zu verstehen gab. Wie Bakterien waren sie dort in ihrem Boden gesessen, ohne sich wegen der ordentlichen Rundung des Himmels oder Ähnlichem Sorgen zu machen, aber auf einmal wurde es ihnen eng. Der Mensch weiß gewöhnlich nicht, daß er glauben muß, mehr zu sein, um das sein zu können, was er ist; aber er muß es doch irgendwie über und um sich spüren, und zuweilen kann er es auch plötzlich entbehren. Dann fehlt ihm etwas Imaginäres. Es war durchaus nichts in Kakanien geschehen, und früher hätte man gedacht, das sei eben die alte, unauffällige kakanische Kultur, aber dieses Nichts war jetzt so beunruhigend wie Nichtschlafenkönnen oder Nichtverstehenkönnen. Und darum hatten es die Intellektuellen leicht, nachdem sie sich eingeredet hatten, das werde in einer nationalen Kultur anders sein, auch die kakanischen Völker davon zu überzeugen. Das war nun eine Art Religionsersatz oder ein Ersatz für den guten Kaiser in Wien oder einfach eine Erklärung der unverständlichen Tatsache, daß die Woche sieben Tage hat. Denn es gibt viele unerklärliche Dinge, aber wenn man seine Nationalhymne singt, so fühlt man sie nicht. Natürlich wäre das der Augenblick gewesen, wo ein guter Kakanier auf die Frage, was er sei, auch mit Begeisterung hätte antworten können: »Nichts!« Denn das heißt Etwas, dem wieder freie Hand gegeben ist, aus einem Kakanier alles zu machen, was noch nicht da war! Aber die Kakanier waren keine so trotzigen Menschen und begnügten sich mit der Hälfte, indem sich jede Nation bloß bemühte, mit der anderen das zu machen, was ihr gut schien. Natürlich kann man sich dabei schwer Schmerzen vergegenwärtigen, die man nicht selbst hat. Und man ist durch zwei Jahrtausende altruistischer Erziehung so selbstlos geworden, daß man auch dann, wenn es mir oder dir schlecht gehen soll, immer für den anderen ist. Trotzdem darf man sich unter dem berühmten kakanischen Nationalismus nicht etwas besonders Wildes vorstellen. Er war mehr ein geschichtlicher als ein wirklicher Vorgang. Die Menschen dort hatten einander recht gern; sie schlugen sich zwar die Köpfe ein und bespien einander, aber das taten sie nur aus Rücksichten höherer Kultur, wie es ja auch sonst vorkommt, daß ein Mensch, der unter vier Augen einer Fliege nicht weh tun mag, unter dem Bild des Gekreuzigten im Richtsaal einen Menschen zum Tode verurteilt. Und man darf wohl sagen: Jedesmal, wenn ihre höheren Ichs eine Pause machten, atmeten die Kakanier auf und fühlten sich als brave Eßwerkzeuge, zu denen sie gleich allen Menschen geschaffen waren, sehr erstaunt über ihre Erfahrungen als Werkzeuge der Geschichte.


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