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Diotima und Ulrich

 

Das Verhältnis Diotimas zu Ulrich hatte sich in dieser Zeit durch das zur Gewohnheit gewordene Beisammensein sehr gebessert. Sie mußten oft gemeinsam ausfahren, um Besuche zu machen, und er kam mehrmals wöchentlich und nicht selten unangekündigt und zu ungebräuchlichen Zeiten zu ihr. Es war ihnen beiden unter diesen Umständen bequem, aus ihrem verwandtschaftlichen Verhältnis Nutzen zu ziehen und die strengen gesellschaftlichen Vorschriften häuslich zu mildern. Diotima empfing ihn nicht immer im Salon und vom Haarknoten bis zum Rocksaum in Vollendung gepanzert, sondern zuweilen in leichter häuslicher Auflösung, wenn das auch bloß eine sehr vorsichtige Auflösung bedeutete. Es war eine Art Zusammengehörigkeit zwischen ihnen entstanden, die hauptsächlich in der Form des Verkehrs lag; aber Formen haben eine Wirkung nach innen, und die Gefühle, aus denen sie gebildet sind, können durch sie auch geweckt werden.

Ulrich fühlte zuweilen mit aller Eindringlichkeit, daß Diotima sehr schön sei. Sie kam ihm dann wie ein junges, hohes, volles Rind von guter Rasse vor, sicher wandelnd und mit tiefem Blick die trockenen Gräser betrachtend, die es ausrupfte. Er sah sie also auch dann nicht ohne jene Bosheit und Ironie an, die sich durch Vergleiche aus dem Tierreich an Diotimas Geistesadel rächte und aus einem tiefen Zürnen kam; es galt weniger diesem törichten Musterkind als der Schule, in der seine Leistungen Erfolg hatten. »Wie angenehm könnte sie sein,« dachte er »wenn sie ungebildet, nachlässig und so gutmütig wäre, wie es ein großgestalteter warmer weiblicher Körper immer ist, wenn er sich keine besonderen Ideen einbildet!« Die berühmte Gattin des vielberaunten Sektionschefs Tuzzi verflüchtigte sich sodann aus ihrem Körper, und es blieb nur dieser selbst übrig wie ein Traum, der samt Polstern, Bett und Träumendem zu einer weißen Wolke wird, die mit ihrer Zärtlichkeit ganz allein auf der Welt ist.

Kehrte Ulrich aber von einem solchen Ausflug der Einbildungskraft zurück, so sah er einen strebsamen bürgerlichen Geist vor sich, der Verkehr mit adeligen Gedanken suchte. Körperliche Verwandtschaft bei starkem Wesensgegensatz beunruhigt übrigens, und es genügt dazu auch schon die Vorstellung der Verwandtschaft, das Selbstbewußtsein; Geschwister können sich manchmal in einer Weise nicht ausstehen, die weit über alles hinausreicht, was daran gerechtfertigt sein könnte, und bloß davon kommt, daß sie einander schon durch ihr Dasein in Zweifel ziehen und eine leise verzerrende Spiegelwirkung aufeinander haben. Es genügte manchmal, daß Diotima ungefähr ebenso groß war wie Ulrich, um den Gedanken zu wecken, daß sie mit ihm verwandt sei, und ihn Abneigung gegen ihren Körper fühlen zu machen. Er hatte ihr da, wenn auch mit einigen Veränderungen, eine Aufgabe übertragen, die sonst sein Jugendfreund Walter innehatte; eigentlich die, seinen Stolz zu demütigen und zu reizen, ähnlich wie uns alte unangenehme Bilder, in denen wir uns wiedersehen, vor uns demütigen und zugleich in unserem Stolz herausfordern. Es ging daraus hervor, daß auch in dem Mißtrauen, das Ulrich Diotima schenkte, etwas Bindendes und Zusammenschließendes, kurz ein Hauch echter Neigung vorhanden sein mußte, so wie die einstige herzliche Zugehörigkeit zu Walter sich noch in der Form des Mißtrauens fortfristete.

Das befremdete Ulrich, da er doch Diotima nicht mochte, lange Zeit sehr, ohne daß er dahinter kommen konnte. Sie machten manchmal gemeinsame kleine Ausflüge; mit Tuzzis Unterstützung wurde das gute Wetter benützt, um Arnheim trotz der ungünstigen Jahreszeit »die Schönheiten der Umgebung Wiens« zu zeigen – Diotima gebrauchte niemals einen anderen Ausdruck dafür als dieses Klischee –, und Ulrich hatte sich in der Rolle einer älteren Verwandten, die den Ehrenschutz besorgt, jedesmal mitgenommen gesehen, da Sektionschef Tuzzi nicht abkömmlich war, und später hatte es sich herausgestellt, daß Ulrich mit Diotima auch allein fuhr, wenn Arnheim verreist war. Dieser hatte für solche Ausflüge, wie dann auch für die unmittelbaren Zwecke der Aktion, Wagen zur Verfügung gestellt, so viel man brauchte, denn das Fuhrwerk Sr. Erlaucht war in seiner Wappengeschmücktheit zu stadtbekannt und auffällig; es waren übrigens auch nicht Arnheims eigene Wagen, da reiche Leute immer andere finden, die sich ein Vergnügen daraus machen, ihnen gefällig zu sein.

Solche Ausfahrten dienten nicht nur dem Vergnügen, sondern hatten auch den Zweck, um die Teilnahme einflußreicher oder wohlhabender Personen an dem vaterländischen Unternehmen zu werben, und fanden noch öfter in der städtischen Bannmeile statt als über Land. Die beiden Verwandten sahen gemeinsam viel Schönes; Maria-Theresien-Möbel, Barockpaläste, Menschen, die sich noch auf den Händen ihrer Dienerschaft durch die Welt tragen ließen, neuzeitliche Häuser mit großen Zimmerfluchten, Bankpaläste und die Mischung spanischer Strenge mit den Lebensgewohnheiten des Mittelstands in den Wohnungen hoher Staatsdiener. Im ganzen waren es, was den Adel anging, die Reste einer großen Lebenshaltung ohne fließendes Wasser, und in den Häusern und Konferenzzimmern des bürgerlichen Reichtums wiederholte sich diese als hygienisch verbesserte, geschmackvollere, aber blassere Kopie. Eine Herrenkaste bleibt immer ein wenig barbarisch: Schlacken und Reste, die das Weiterglimmen der Zeit nicht verbrannt hatte, waren in den adeligen Schlössern liegen geblieben, wo sie lagen, knapp neben Prunkstiegen trat der Fuß auf Dielen aus weichem Holz, und abscheuliche neue Möbel standen unbekümmert zwischen wundervollen alten Stücken. Die Klasse der Emporgekommenen dagegen, verliebt in die imposanten und großen Momente ihrer Vorgänger, hatte unwillkürlich eine wählerische und verfeinernde Auslese getroffen. War ein Schloß in bürgerlichem Besitz, so zeigte es sich nicht nur wie ein Familienstück von Kronleuchter, durch das man elektrische Drähte gezogen hat, mit moderner Bequemlichkeit versehen, sondern auch in der Einrichtung war weniger Schönes ausgeschieden und Wertvolles dazu gesammelt worden, entweder nach eigener Wahl oder nach dem unwidersprechlichen Rat von Sachverständigen. Am eindringlichsten zeigte sich diese Verfeinerung übrigens nicht einmal in Schlössern, sondern in den Stadtwohnungen, die zeitgemäß mit dem unpersönlichen Prunk eines Ozeandampfers eingerichtet waren, aber in diesem Lande verfeinerten gesellschaftlichen Ehrgeizes durch einen unwiedergeblichen Hauch, ein kaum merkliches Auseinandergestelltsein der Möbel oder die beherrschende Stellung eines Bildes an einer Wand, das zart deutliche Echo einer großen Verklungenheit bewahrten.

Diotima war entzückt von so viel »Kultur«; sie hatte immer gewußt, daß ihre Heimat solche Schätze berge, aber das Ausmaß überraschte selbst sie. Sie wurden bei Landbesuchen gemeinsam eingeladen, und es fiel Ulrich auf, daß er Obst nicht selten ungeschält aus der Hand essen sah oder ähnliches, während in Großbürgerhäusern das Zeremoniell von Messer und Gabel strenge gewahrt wurde; die gleiche Beobachtung ließ sich auch an der Unterhaltung anstellen, die von vollendeter Distinktion fast nur in Bürgerhäusern war, wogegen in Adelskreisen die bekannte zwanglose, an Kutscher erinnernde Redeweise überwog. Diotima verteidigte das mit Schwärmerei gegen ihren Vetter. Bürgerliche Edelsitze, gab sie zu, seien mit mehr Hygiene und größerer Intelligenz eingerichtet. In den adeligen Landschlössern friere man im Winter; schmale, ausgetretene Treppen seien keine Seltenheit, und muffige, niedrige Schlafräume fänden sich neben prunkvollen Empfangszimmern. Es gebe auch keinen Speisenaufzug und kein Dienerbad. Aber gerade das sei nun einmal in gewissem Sinn das Heroischere, das Ererbte und großartig Nachlässige! schloß sie entzückt.

Ulrich benützte solche Ausfahrten, um dem Gefühl nachzuforschen, das ihn Diotima verband. Aber da alles dabei voll von Abschweifungen war, muß man ihnen ein wenig folgen, ehe man an das Entscheidende herankommt:

Damals trugen die Frauen Kleider, die vom Hals bis zu den Knöcheln geschlossen waren, und den Männern, obgleich sie noch heute ähnliche Kleider tragen wie damals, waren sie zu jener Zeit angemessener, denn sie stellten noch in lebendigem Zusammenhang die tadellose Geschlossenheit und strenge Zurückhaltung nach außen dar, die als Zeichen des Mannes von Welt galt. Die wasserhelle Aufrichtigkeit, sich nackt zur Schau zu stellen, würde selbst einem Menschen, der wenig Vorurteile hatte und in der Würdigung des entkleideten Leibes von keinerlei Scham behindert wurde, damals als ein Rückfall ins Tierische erschienen sein, nicht wegen der Nacktheit, sondern wegen des Verzichtes auf das zivilisierte Liebesmittel der Bekleidung. Ja eigentlich hätte man zu jener Zeit wohl gesagt, unter das Tierische; denn ein dreijähriges Pferd von guter Zucht und ein spielender Windhund sind viel ausdrucksvoller in ihrer Nacktheit, als es ein menschlicher Leib erreichen kann. Dagegen können sie keine Kleider tragen; sie haben nur eine Haut, die Menschen aber hatten damals noch viele Häute. Mit dem großen Kleid, seinen Rüschen, Puffen, Glocken, Glockenfällen, Spitzen und Raffungen hatten sie sich eine Oberfläche geschaffen, die fünfmal so groß war wie die ursprüngliche und einen faltenreichen, schwer zugänglichen, mit erotischer Spannung geladenen Kelch bildete, der in seinem Inneren das schmale weiße Tier verbarg, das sich suchen ließ und fürchterlich begehrenswert machte. Es war das vorgezeichnete Verfahren, das die Natur selbst anwendet, wenn sie ihre Geschöpfe Bälge sträuben oder Wolken von Dunkelheit ausspritzen heißt, um in Liebe und Schreck die nüchternen Vorgänge, auf die es dabei ankommt, bis zur unirdischen Torheit zu steigern.

Diotima fühlte sich zum erstenmal in ihrem Leben von diesem Spiel, wenn auch in dezentester Weise, tiefer berührt. Koketterie war ihr nicht fremd, denn sie gehörte zu den gesellschaftlichen Aufgaben, die eine Dame beherrschen muß; auch war es ihr nie entgangen, wenn die Blicke junger Männer dabei etwas anderes als Ehrfurcht für sie ausdrückten, ja sie hatte das sogar gern, weil es sie die Macht sanfter weiblicher Zurechtweisung fühlen ließ, wenn sie den wie die Hörner eines Stiers auf sie gerichteten Blick eines Mannes zwang, sich idealen Ablenkungen zuzuwenden, die ihr Mund äußerte. Aber Ulrich, gedeckt durch die verwandtschaftliche Nähe und die Selbstlosigkeit seiner Mithilfe an der Parallelaktion, beschützt auch durch das zu seinen Gunsten errichtete Kodizill, erlaubte sich Freiheiten, die das verästelte Geflecht ihres Idealismus senkrecht durchdrangen. So war es einmal bei einer Ausfahrt über Land vorgekommen, daß der Wagen an entzückenden Tälern vorbeirollte, zwischen denen von dunklen Fichtenwäldern bedeckte Berghänge nahe an die Straße herantraten, und Diotima mit den Versen »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben . . .?« darauf hindeutete; sie zitierte diese Verse selbstverständlich als Gedicht, ohne den dazugehörigen Gesang auch nur anzudeuten, denn das wäre ihr verbraucht und nichtssagend erschienen. Aber Ulrich erwiderte: »Die Niederösterreichische Bodenbank. Das wissen Sie nicht, Kusine, daß alle Wälder hier der Bodenbank gehören? Und der Meister, den Sie loben wollen, ist ein bei ihr angestellter Forstmeister. Die Natur hier ist ein planmäßiges Produkt der Forstindustrie; ein reihenweise gesetzter Speicher der Zellulosefabrikation, was man ihr auch ohne weiteres ansehen kann.« Von dieser Art waren sehr oft seine Antworten. Wenn sie von Schönheit sprach, sprach er von einem Fettgewebe, das die Haut stützt. Wenn sie von Liebe sprach, sprach er von der Jahreskurve, die das automatische Steigen und Sinken der Geburtenziffer anzeigt. Wenn sie von den großen Gestalten der Kunst sprach, fing er mit der Kette der Entlehnungen an, die diese Gestalten untereinander verbindet. Es kam eigentlich immer so, daß Diotima zu sprechen begann, als ob Gott den Menschen am siebenten Tage als Perle in die Weltmuschel hineingesetzt hätte, worauf er daran erinnerte, daß der Mensch ein Häuflein von Pünktchen auf der äußersten Rinde eines Zwergglobus sei. Es war nicht ganz einfach zu durchschauen, was Ulrich damit wollte; offenbar galt es jener Sphäre des Großen, der sie sich verbunden fühlte, und Diotima empfand es vor allem als kränkende Besserwisserei. Sie konnte nicht vertragen, daß ihr Vetter, der nun einmal für sie ein Schreckenskind war, etwas besser wissen wolle als sie, und seine materialistischen Einwände, von denen sie nichts verstand, weil er sie aus der niederen Zivilisation des Rechnens und der Genauigkeit holte, ärgerten sie gröblich. – »Es gibt gottlob noch Menschen,« erwiderte sie ihm einmal scharf »die trotz großer Erfahrungen an das Einfache zu glauben vermögen!« »Zum Beispiel Ihr Gatte« antwortete Ulrich. »Ich wollte Ihnen schon lange sagen, daß ich ihn beiweitem Arnheim vorziehe!«

Sie hatten damals die Gewohnheit angenommen, ihre Gedanken oft in der Form auszutauschen, daß sie über Arnheim sprachen. Denn wie allen Verliebten, bereitete es Diotima Vergnügen, von dem Gegenstand ihrer Liebe zu reden, ohne sich, wie sie wenigstens glaubte, dabei zu verraten; und weil Ulrich das so unausstehlich fand, wie es für jeden Mann ist, der keine hintergründige Absicht mit seinem eigenen Zurücktreten verbindet, kam es bei solchen Gelegenheiten oft vor, daß er Ausfälle gegen Arnheim machte. Ihn mit diesem verbindend, war ein Verhältnis eigener Art entstanden. Sie begegneten einander, wenn Arnheim nicht verreist war, fast täglich. Ulrich wußte, daß Sektionschef Tuzzi den Fremden beargwöhnte, so wie er selbst dessen Wirkung auf Diotima vom ersten Tag an hatte beobachten können. Zwischen diesen beiden schien es etwas Unrechtes freilich noch nicht zu geben, sofern ein Dritter das beurteilen kann, der in dieser Mutmaßung sehr dadurch bestärkt wurde, daß es unausstehlich viel Rechtes zwischen dem Liebespaar gab, das offenbar den höchsten Vorbildern platonischer Seelengemeinschaft nacheiferte. Dabei bekundete Arnheim eine auffallende Neigung, den Vetter seiner Freundin (oder vielleicht doch Geliebten? – fragte sich Ulrich; für das Wahrscheinlichste hielt er etwas wie Geliebte mehr Freundin, geteilt durch zwei) in das vertrauliche Verhältnis einzubeziehn. Er richtete oft sein Wort an Ulrich in der Weise eines älteren Freundes, die durch den Altersunterschied erlaubt war, aber durch den Unterschied der Stellung einen unangenehmen Zug von Herablassung gewann. Ulrich erwiderte das auch fast immer abweisend und in ziemlich herausfordernder Art, so als wüßte er nicht im geringsten den Verkehr mit einem Mann zu schätzen, der sich, statt mit ihm, mit Königen und Kanzlern über seine Ideen unterhalten konnte. Er widersprach ihm unhöflich oft und ungeziemend ironisch und ärgerte sich selbst über diesen Mangel an Haltung, den er besser durch das Vergnügen schweigender Beobachtung ersetzt hätte. Aber es geschah zu seinem eigenen Erstaunen, daß er sich durch Arnheim so heftig gereizt fühlte. Er sah den von der Gunst der Verhältnisse gemästeten, vorbildlichen Einzelfall einer geistigen Entwicklung in ihm, die er haßte. Denn dieser berühmte Schriftsteller war klug genug, um die fragwürdige Lage zu begreifen, in die sich der Mensch gebracht hat, seit er sein Bild nicht mehr im Spiegel der Bäche sucht, sondern in den scharfen Bruchflächen seiner Intelligenz; aber dieser schreibende Eisenkönig gab die Schuld daran dem Auftreten der Intelligenz und nicht ihrer Unvollkommenheit. Es lag ein Schwindel in dieser Vereinigung von Kohlenpreis und Seele, die zugleich eine zweckdienliche Trennung dessen war, was Arnheim mit hellem Wissen tat, von dem, was er in dämmeriger Ahnung redete und schrieb. Dazu kam, um noch mehr Unbehagen in Ulrich zu erregen, etwas, das ihm neu war, die Verbindung von Geist mit Reichtum; denn wenn Arnheim annähernd wie ein Spezialist über irgendeine Einzelfrage sprach, um dann plötzlich mit einer lässigen Gebärde die Einzelheiten im Licht eines »großen Gedankens« verschwinden zu lassen, so mochte das wohl einem nicht unberechtigten Bedürfnis entspringen, aber zugleich erinnerte dieses freie Verfügen nach zwei Richtungen an den reichen Mann, der sich alles leistet, was gut und teuer ist. Er war geistreich in einer immer ein wenig an das Verfahren des wirklichen Reichtums gemahnenden Bedeutung. Und vielleicht war es auch das noch nicht, was Ulrich am meisten reizte, dem berühmten Mann Schwierigkeiten zu bereiten, sondern das war vielleicht die Neigung, die dessen Geist zu einer würdigen Hof- und Haushaltung bekundete, die von selbst zur Verbindung mit den besten Marken des Herkömmlichen wie des Ungewöhnlichen führt; denn im Spiegel ihrer genießerischen Kennerschaft sah Ulrich die affektierte Fratze, die das Gesicht der Zeit ist, wenn man daraus die wenigen wirklich starken Züge der Leidenschaft und des Denkens entfernt, und fand darüber kaum Gelegenheit, auf den Mann besser einzugehen, dem man wahrscheinlich auch allerlei Verdienste nachsagen konnte. Es war natürlich ein völlig sinnloser Kampf, den er da führte, in einer Umgebung, die Arnheim von vornherein rechtgab, und für eine Sache, die gar keine Wichtigkeit besaß; bestenfalls hätte man sagen können, daß diese Sinnlosigkeit den Sinn restloser Selbstverschwendung hatte. Es war aber auch ein ganz aussichtsloser Kampf, denn wenn es Ulrich wirklich einmal gelang, seinen Gegner zu verwunden, so mußte er erkennen, daß er die falsche Seite getroffen hatte; gleich einem geflügelten Wesen erhob sich dann, wenn der Geistmensch Arnheim besiegt am Boden zu liegen schien, der Wirklichkeitsmensch Arnheim mit einem nachsichtigen Lächeln und eilte von solcher Gespräche müßigem Wesen zu Taten nach Bagdad oder Madrid.

Diese Unverwundbarkeit ermöglichte es ihm, der Ungezogenheit des jüngeren Mannes jene freundschaftliche Kameradschaft entgegenzusetzen, über deren Ursprung dieser mit sich nicht ins reine kam. Allerdings war Ulrich selbst daran gelegen, seinen Gegner nicht zu sehr herabzusetzen, denn er hatte sich vorgenommen, nicht so leicht wieder eines der halben und unwürdigen Abenteuer zu beginnen, an denen seine Vergangenheit viel zu reich war, und die Fortschritte, die er zwischen Arnheim und Diotima bemerkte, schenkten diesem Vorsatz eine große Sicherheit. Er richtete die Spitzen seiner Angriffe darum gewöhnlich so ein wie die eines Floretts, die biegsam nachgeben und von einer den Stoß freundschaftlich abschwächenden kleinen Hülle umgeben sind. Diesen Vergleich hatte übrigens Diotima gefunden. Es erging ihr verwunderlich mit ihrem Vetter. Sein offenes Gesicht mit der klaren Stirn, seine ruhig atmende Brust, die freie Beweglichkeit in allen seinen Gliedern verrieten ihr, daß bösartige, hämische, umgebogen-wollüstige Bedürfnisse in diesem Körper nicht zu Hause sein konnten; sie war ja auch nicht ganz ohne Stolz auf solche gute Erscheinung eines Mitglieds ihrer Familie und hatte gleich bei Beginn ihrer Bekanntschaft den Entschluß gefaßt, ihn unter ihre Leitung zu nehmen. Hätte er nun schwarze Haare, eine schiefe Schulter, unreine Haut und eine niedere Stirn gehabt, so würde sie gesagt haben, daß seine Anschauungen dazu stimmten; wie er aber in Wirklichkeit aussah, fiel ihr nur eine gewisse Nichtübereinstimmung mit seinen Ansichten auf und machte sich als unerklärliche Beunruhigung fühlbar. Die Tastfäden ihrer berühmten Intuition fahndeten vergeblich nach der Ursache, aber dieses Fahnden bereitete ihr am anderen Fadenende Vergnügen. In gewissem Sinn, natürlich nicht in einem ganz ernsten, unterhielt sie sich sogar mit Ulrich zuweilen lieber als mit Arnheim. Ihr Überlegenheitsbedürfnis fand an ihm mehr Befriedigung, sie hatte sich sicherer in der Hand, und was sie für seine Frivolität, Verstiegenheit oder nicht erlangte Reife hielt, gab ihr eine gewisse Genugtuung, die den täglich gefährlicher werdenden Idealismus ausglich, den sie in ihren Gefühlen für Arnheim unberechenbar anwachsen sah. Seele ist eine furchtbar schwere Angelegenheit und demzufolge Materialismus eine heitere. Die Regelung ihrer Beziehungen zu Arnheim strengte sie manchmal ebensosehr an wie ihr Salon, und die Geringschätzung für Ulrich erleichterte ihr das Leben. Sie begriff sich nicht, stellte aber diese Einwirkung fest, und das ermöglichte es ihr, wenn sie ihrem Vetter wegen einer seiner Bemerkungen zürnte, ihm einen Blick von der Seite zu senden, der nur ein winziges Lächeln im Augenwinkel war, indes das Auge idealistisch ungerührt, ja sogar ein bißchen verächtlich geradeaus blickte.

Jedenfalls, was immer auch die Gründe gewesen sein mögen, verhielten sich Diotima und Arnheim so zu Ulrich wie zwei Kämpfende, die sich an einem Dritten anhalten, den sie in wechselnder Angst zwischen sich schieben, und solche Lage war für ihn nicht ungefährlich, denn durch Diotima wurde dabei die Frage lebendig: Müssen Menschen mit ihrem Körper übereinstimmen oder nicht?


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