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25

Die Siamesischen Zwillinge

 

Später am Abend kam er noch einmal darauf zurück.

»Du mußt wissen,« begann er seiner Schwester zu erzählen »daß ich eine Art von Eigenliebe nicht kenne, ein gewisses zärtliches Verhältnis zu mir selbst, das scheinbar den meisten anderen Menschen natürlich ist. Ich weiß nicht, wie ich das am besten beschreibe. Ich könnte zum Beispiel sagen, daß ich immer Geliebte gehabt habe, zu denen ich in einem Mißverhältnis stand. Sie sind Illustrationen zu plötzlichen Einfällen gewesen, Karikaturen meiner Laune: also eigentlich nur Beispiele meines Unvermögens, in natürliche Beziehungen zu anderen Menschen zu treten. Schon das hängt damit zusammen, wie man sich zu sich selbst verhält. Im Grunde genommen, habe ich mir immer Geliebte ausgesucht, die ich nicht mochte –«

»Aber damit hast du doch nur recht!« unterbrach ihn Agathe. »Wenn ich ein Mann wäre, ich würde mir gar kein Gewissen daraus machen, mit den Frauen aufs unzuverlässigste umzugehn. Ich würde sie auch nur aus Zerstreutheit und Staunen begehren!«

»Ja? Würdest du? Das ist nett von dir!«

»Sie sind lächerliche Schmarotzer. Gemeinsam mit dem Hund teilen sie das Leben des Mannes!« Agathe gab diese Versicherung nicht etwa mit sittlicher Entrüstung ab. Sie war angenehm müde, hielt die Augen geschlossen, hatte sich zeitig zur Ruhe begeben, und Ulrich, der gekommen war, sich von ihr zu verabschieden, sah sie an seiner Stelle im Bett liegen.

Es war aber auch das Bett, in dem sechsunddreißig Stunden früher Bonadea gelegen hatte. Wahrscheinlich kam Ulrich darum wieder auf seine Geliebten zurück. »Ich wollte damit aber nur auf das Unvermögen zu einem sanft begründeten Verhältnis mir selbst gegenüber hinauskommen« wiederholte er lächelnd: »Wenn ich etwas mit Anteil erleben soll, muß es als Teil eines Zusammenhangs geschehn, es muß unter einer Idee stehn. Das Erlebnis selbst möchte ich eigentlich lieber schon hinter mir, in der Erinnerung haben; der aktuelle Gefühlsaufwand dafür kommt mir unangenehm und lächerlich unangebracht vor. So ist es, wenn ich mich rücksichtslos dir zu beschreiben versuche. Und die ursprünglichste und einfachste Idee, wenigstens in jüngeren Jahren, ist schon die, daß man ein verfluchter und neuer Kerl sei, auf den die Welt gewartet habe. Aber über das dreißigste Jahr hält das nicht vor!« Er überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Nein! Es ist so schwer von sich selbst zu reden: eigentlich müßte ich ja gerade sagen, daß ich nie unter einer dauernden Idee gestanden habe. Es fand sich keine. Eine Idee müßte man lieben wie eine Frau. Selig sein, wenn man zu ihr zurückkehrt. Und man hat sie immer in sich! Und sucht sie in allem außer sich! Solche Ideen habe ich nie gefunden. Ich bin immer in einem Mann-Mannesverhältnis zu den sogenannten großen Ideen gestanden; vielleicht auch zu den mit Recht so genannten: Ich glaubte mich nicht zur Unterordnung geboren, sie haben mich gereizt, sie zu stürzen und andere an ihre Stelle zu setzen. Ja, vielleicht bin ich gerade von dieser Eifersucht zur Wissenschaft geführt worden, deren Gesetze man in Gemeinschaft sucht und auch nicht für unverbrüchlich ansieht!« Wieder hielt er ein und lachte über sich oder seine Schilderung. »Aber sei das wie immer,« fuhr er ernst fort »jedenfalls habe ich es auf diese Weise, daß ich keine oder jede Idee mit mir verbinde, verlernt, das Leben wichtig zu nehmen. Es erregt mich eigentlich weit mehr, wenn ich es in einem Roman lese, wo es von einer Auffassung geschürzt ist; aber wenn ich es in seiner vollen Ausführlichkeit erleben soll, finde ich es immer schon veraltet und altmodisch-ausführlich und im Gedankengehalt überholt. Ich glaube auch nicht, daß das an mir liegt. Denn die meisten Menschen sind heute ähnlich. Zwar täuschen sich viele eine dringliche Lebensfreude vor, nach der Art, wie man die Volksschulkinder lehrt, munter durch die Blümelein zu springen, aber es ist immer eine gewisse Absichtlichkeit dabei, und sie fühlen das. In Wahrheit können sie einander ebenso kaltblütig morden, wie herzlich miteinander auskommen. Unsere Zeit nimmt die Geschehnisse und Abenteuer, von denen sie voll ist, ja sicher nicht ernst. Geschehen sie, so erregen sie. Sie stiften dann auch sogleich neue Geschehnisse, ja eine Art Blutrache von solchen, ein Zwangsalphabet des B- bis Z-Sagens, weil man A gesagt hat. Aber diese Geschehnisse unseres Lebens haben weniger Leben als ein Buch, weil sie keinen zusammenhängenden Sinn haben.«

So sprach Ulrich. Locker. Wechselnd in der Stimmung. Agathe gab keine Antwort; sie hielt noch immer die Augen geschlossen, lächelte aber.

Ulrich sagte: »Ich weiß nicht mehr, was ich dir erzähle. Ich glaube, ich finde nicht mehr zum Anfang zurück.«

Sie schwiegen eine Weile. Er konnte ausführlich das Gesicht seiner Schwester betrachten, das nicht vom Blick ihrer Augen verteidigt war. Es lag als ein Stück nackten Körpers da, wie Frauen, wenn sie im Frauenbad beisammen sind. Der weibliche unbewachte, natürliche Zynismus dieses nicht für den Mann berechneten Anblicks übte noch immer eine ungewohnte Wirkung auf Ulrich aus, wenn es auch längst nicht mehr jene heftige war wie in den ersten Tagen ihres ersten Beisammenseins, als Agathe gleich ihr Schwesterrecht forderte, möglichst ohne jede seelische Verblümung mit ihm zu sprechen, da er für sie nicht ein Mann wie andere sei. Er erinnerte sich an die mit Schreck vermischte Überraschung, die es ihm als Knaben bereitet hatte, wenn er auf der Straße eine Schwangere oder eine Frau sah, die ihr Kind an der Brust saugen ließ: sorgsam dem Knaben entzogene Geheimnisse wölbten sich dann plötzlich prall und unbefangen in der Sonne. Und vielleicht hatte er lange Zeit Reste solcher Eindrücke mit sich getragen, denn plötzlich war ihm zumute, als fühlte er jetzt ganz frei von ihnen. Daß Agathe Frau war und schon manches hinter sich haben mußte, schien ihm eine angenehme und bequeme Vorstellung zu sein; man mußte sich nicht so in acht nehmen wie bei einem jungen Mädchen, wenn man mit ihr sprach, ja es kam ihm rührend natürlich vor, daß bei einer Frau alles schon moralisch schlaffer sei. Er hatte auch das Bedürfnis, sie in Schutz zu nehmen und durch irgendeine Güte für irgendetwas zu entschädigen. Er nahm sich vor, alles für sie zu tun, was er nur könne. Er nahm sich sogar vor, wieder einen Mann für sie zu suchen. Und dieses Bedürfnis nach Güte gab ihm, kaum daß er es merkte, den verlorenen Faden des Gesprächs zurück.

»Wahrscheinlich verändert sich in den Jahren der Geschlechtsreifung unsere Eigenliebe« sagte er ohne Übergang. »Denn da wird eine Wiese von Zärtlichkeit, in der man bis dahin gespielt hat, abgemäht, um Futter für einen bestimmten Trieb zu gewinnen.«

»Damit die Kuh Milch gibt!« ergänzte Agathe nach einer kleinsten Zeit ungezogen und würdevoll, aber ohne die Augen zu öffnen.

»Ja, das hängt wohl alles zusammen« meinte Ulrich und fuhr fort: »Es gibt also einen Augenblick, wo unser Leben fast alle seine Zärtlichkeit verliert, und diese zieht sich auf jene einzige Ausübung zusammen, die dann damit überladen bleibt: Kommt dir das nicht auch so vor, als ob überall auf der Erde eine entsetzliche Dürre herrschte, während es an einem einzigen Ort unaufhörlich regnete?!«

Agathe sagte: »Mir kommt es vor, daß ich meine Kinderpuppen mit einer Heftigkeit geliebt habe wie nie einen Mann. Als du abgereist warst, habe ich am Dachboden eine Kiste mit meinen alten Puppen gefunden.«

»Was hast du damit getan?« fragte Ulrich. »Hast du sie verschenkt?«

»Wem hätte ich sie schenken sollen? Ich habe sie im Herdfeuer bestattet« erzählte sie.

Ulrich entgegnete lebhaft: »Wenn ich mich an meine früheste Zeit erinnere, so möchte ich sagen, daß damals Innen und Außen kaum noch getrennt waren. Wenn ich auf etwas zu kroch, kam es auf Flügeln zu mir her; und wenn sich etwas ereignete, das uns wichtig war, so wurden davon nicht etwa bloß wir erregt, sondern die Dinge selbst begannen zu kochen. Ich will nicht behaupten, daß wir dabei glücklicher gewesen sind als später. Wir besaßen uns ja noch nicht selbst; eigentlich waren wir überhaupt noch nicht, unsere persönlichen Zustände waren noch nicht deutlich von denen der Welt abgeschieden. Es klingt sonderbar, und ist doch wahr, wenn ich sage, unsere Gefühle, unsere Willnisse, ja wir selbst waren noch nicht ganz in uns darin. Noch sonderbarer ist, daß ich ebenso gut sagen könnte: waren noch nicht ganz von uns entfernt. Denn wenn du dich heute, wo du ganz im Besitz deiner selbst zu sein glaubst, ausnahmsweise einmal fragen solltest, wer du eigentlich seist, wirst du diese Entdeckung machen. Du wirst dich immer von außen sehn wie ein Ding. Du wirst gewahren, daß du bei einer Gelegenheit zornig wirst und bei einer anderen traurig, so wie dein Mantel das eine Mal naß und das andre Mal heiß ist. Mit aller Beobachtung wird es dir höchstens gelingen, hinter dich zu kommen, aber niemals in dich. Du bleibst außer dir, was immer du unternimmst, und es sind davon gerade nur jene wenigen Augenblicke ausgenommen, wo man von dir sagen würde, du seist außer dir. Zur Entschädigung haben wir es allerdings als Erwachsene dahin gebracht, bei jeder Gelegenheit denken zu können ›Ich bin‹, falls uns das Spaß macht. Du siehst einen Wagen, und irgendwie siehst du schattenhaft dabei auch: ›ich sehe einen Wagen‹. Du liebst oder bist traurig und siehst, daß du es bist. In vollem Sinn ist aber weder der Wagen, noch ist deine Trauer oder deine Liebe, noch bist du selbst ganz da. Nichts ist mehr ganz so da, wie es in der Kindheit einmal gewesen ist. Sondern es ist alles, was du berührst, bis an dein Innerstes verhältnismäßig erstarrt, sobald du es erreicht hast eine ›Persönlichkeit‹ zu sein, und übriggeblieben ist, umhüllt von einem durch und durch äußerlichen Sein, ein gespenstiger Nebelfaden der Selbstgewißheit und trüber Selbstliebe. Was ist da nicht in Ordnung? Man hat das Gefühl, irgend etwas wäre noch rückgängig zu machen! Man kann doch nicht behaupten, daß ein Kind ganz anders erlebe als ein Mann! Ich weiß keine entscheidende Antwort darauf, wenn es auch diesen und jenen Gedanken darüber geben mag. Aber seit langem habe ich es in der Weise beantwortet, daß ich die Liebe zu dieser Art Ichsein und dieser Art Welt verloren habe.«

Es war Ulrich angenehm, daß ihm Agathe zugehört hatte, ohne ihn zu unterbrechen, denn er erwartete ebensowenig eine Antwort von ihr wie von sich selbst und war überzeugt, daß eine Antwort, wie er sie meine, gegenwärtig niemand geben könne. Trotzdem befürchtete er nicht einen Augenblick, wovon er rede, könnte etwa für sie zu schwierig sein. Er betrachtete es nicht als ein Philosophieren und glaubte nicht einmal einen ungewöhnlichen Gesprächsstoff zu behandeln, so wenig wie sich ein junger Mensch, dem er in dieser Lage glich, durch die Schwierigkeit des Ausdrucks davon abhalten läßt, alles einfach zu finden, wenn er, von einem anderen angeregt, die ewigen Fragen »Wer bist du? So bin ich« mit ihm tauscht. Er entnahm die Sicherheit, daß ihm seine Schwester Wort für Wort zu folgen vermöge, ihrem Dasein und nicht einem Denken. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, und darin war etwas, das ihn glücklich machte. Dieses Gesicht mit geschlossenen Augen war ganz ohne Rückstoß. Es übte eine grundlose Anziehung auf ihn aus; auch in jener Weise, als zöge es in eine nirgends endende Tiefe. Er fand, in den Anblick dieses Gesichts versinkend, nirgends den Bodenschlamm der aufgelösten Widerstände, an dem sich ein in die Liebe Getauchter abstößt, um wieder empor zur Trockenheit zu kommen. Aber da er es gewohnt war, die Neigung zur Frau als eine gewaltsam umgekehrte Abneigung gegen den Menschen zu erleben, was – wenn er es auch mißbilligte – eine gewisse Sicherheit verbürgt, sich nicht in ihr zu verlieren, erschreckte ihn die reine Geneigtheit, in der er sich neugierig immer tiefer neigte, fast wie eine Gleichgewichtsstörung, so daß er bald diesem Zustand auswich und vor Glück zu einem etwas jungenhaften Scherz seine Zuflucht nahm, um Agathe ins alltägliche Leben zurückzurufen: mit dem vorsichtigsten Griff, dessen er fähig war, versuchte er, ihr die Augen zu öffnen. Agathe schlug sie lachend auf und rief aus: »Dafür, daß ich deine Eigenliebe sein soll, gehst du recht grob mit mir um!«

Diese Antwort war ebenso jungenhaft wie sein Angriff, und ihre Blicke stemmten sich übertrieben gegeneinander wie zwei Knaben, die balgen möchten, aber vor Heiterkeit nicht können. Plötzlich ließ das Agathe jedoch und fragte ernst:

»Kennst du den Mythos, den Platon irgendwelchen älteren Vorbildern nacherzählt, daß der ursprüngliche ganze Mensch von den Göttern in zwei Teile geteilt worden sei, in Mann und Weib?« Sie hatte sich auf den Ellbogen aufgerichtet und wurde unerwartet rot, denn sie kam sich nachträglich mit der Frage, ob Ulrich diese wahrscheinlich allgemein bekannte Geschichte kenne, etwas unklug vor. Kurz entschlossen fügte sie darum hinzu: »Nun stellen die unseligen Hälften allerhand Dummheiten an, um wieder ineinander zu fahren: Das steht in allen Schulbüchern für den höheren Unterricht; leider steht nicht darin, warum es nicht gelingt!«

»Das kann ich dir sagen« fiel Ulrich ein, glücklich zu erkennen, wie genau sie verstanden habe. »Kein Mensch weiß doch, welche von den vielen umherlaufenden Hälften die ihm fehlende ist. Er ergreift eine, die ihm so vorkommt, und macht die vergeblichsten Anstrengungen, mit ihr eins zu werden, bis sich endgültig zeigt, daß es nichts damit ist. Entsteht ein Kind daraus, so glauben beide Hälften durch einige Jugendjahre, sie hätten sich wenigstens im Kind vereint; aber das ist bloß eine dritte Hälfte, die bald das Bestreben merken läßt, sich von den beiden anderen möglichst weit zu entfernen und eine vierte zu suchen. So ›hälftet‹ sich die Menschheit physiologisch weiter, und die wesenhafte Einung steht wie der Mond vor dem Schlafzimmerfenster.«

»Man sollte denken, daß Geschwister doch den halben Weg schon zurückgelegt haben müßten!« warf Agathe mit einer rauh gewordenen Stimme ein.

»Zwillinge vielleicht.«

»Sind wir nicht Zwillinge?«

»Sicher!« Ulrich wich plötzlich aus. »Zwillinge sind selten; Zwillinge verschiedenen Geschlechts sind eine ganz große Seltenheit; wenn sie aber noch dazu verschieden alt sind und sich die längste Zeit kaum gekannt haben, so bildet das eine Sehenswürdigkeit, die unser wirklich würdig ist!« erklärte er und strebte in eine seichtere Heiterkeit zurück.

»Wir sind aber als Zwillinge zusammengetroffen!« forderte Agathe unbeeinflußt.

»Weil wir unerwartet ähnlich angezogen waren?«

»Vielleicht. Und überhaupt! Du kannst ja sagen, daß es Zufall gewesen sei; aber was ist Zufall? Ich glaube, gerade er ist Schicksal oder Schickung oder wie du das nennen magst. Ist es dir nie zufällig vorgekommen, daß du gerade als du geboren worden bist? Doppelt so viel ist es, daß wir Geschwister sind!« So führte es Agathe aus, und Ulrich unterwarf sich dieser Weisheit. »Wir erklären uns also als Zwillinge!« stimmte er bei. »Symmetrische Geschöpfe der Naturlaune, werden wir fortab gleich alt, gleich groß, gleichen Haares, in gleich gestreiften Kleidern und mit der gleichen Schleife unter dem Kinn durch die Gasse der Menschen wandeln; ich mache dich aber aufmerksam, daß sie uns halb gerührt und halb spöttisch nachblicken werden, wie es immer geschieht, wenn sie etwas an die Geheimnisse ihres Werdens erinnert.«

»Wir können uns ja auch gerade entgegengesetzt kleiden« entgegnete Agathe belustigt. »Gelb der eine, wenn der andere blau ist, oder rot neben grün, und das Haar können wir violett oder purpurn färben, und ich mache mir einen Buckel und du dir einen Bauch: und trotzdem sind wir Zwillinge!«

Aber der Scherz war ausgeschöpft, der Vorwand verbraucht, sie verstummten eine Weile. »Weißt du,« sagte Ulrich dann plötzlich »daß es eine sehr ernste Angelegenheit ist, von der wir sprechen?!« – Kaum hatte er das gesagt, als seine Schwester wieder den Fächer der Wimpern über die Augen senkte und mit dahinter versteckter Bereitschaft ihn allein sprechen ließ. Vielleicht sah es auch nur so aus, als ob sie die Augen schlösse. Das Zimmer war dunkel, das Licht, das brannte, verdeutlichte weniger, als daß es sich in hellen Flächen über alle Umrisse ergoß. Ulrich hatte gesagt: »So wie an den Mythos vom Menschen, der geteilt worden ist, könnten wir auch an Pygmalion, an den Hermaphroditen oder an Isis und Osiris denken: es bleibt doch immer in verschiedener Weise das gleiche. Dieses Verlangen nach einem Doppelgänger im anderen Geschlecht ist uralt. Es will Liebe eines Wesens, das uns völlig gleichen, aber doch ein anderes als wir sein soll, eine Zaubergestalt, die wir sind, die aber doch eben auch eine Zaubergestalt bleibt und vor allem, was wir uns bloß ausdenken, den Atem der Selbständigkeit und Unabhängigkeit voraushat. Unzählige Male ist dieser Traum vom Fluidum der Liebe, das sich, unabhängig von den Beschränkungen der Körperwelt, in zwei gleichverschiedenen Gestalten begegnet, schon in einsamer Alchimie den Retorten der menschlichen Köpfe entstiegen –«

Dann hatte er gestockt; ersichtlich war ihm etwas eingefallen, das ihn störte, und er hatte mit den beinahe unfreundlichen Worten geschlossen: »Selbst unter den alltäglichsten Verhältnissen der Liebe finden sich ja noch Spuren davon: in dem Reiz, der mit jeder Veränderung und Verkleidung verbunden ist, wie in der Bedeutung der Übereinstimmung und Ichwiederholung im anderen. Der kleine Zauber bleibt sich gleich, ob man eine Dame zum erstenmal nackt sieht oder ein nacktes Mädel zum erstenmal im hochgeschlossenen Kleid, und die großen, rücksichtslosen Liebesleidenschaften sind alle damit verbunden, daß sich ein Mensch einbildet, sein geheimstes Ich spähe ihn hinter den Vorhängen fremder Augen an.«

Es klang, als bäte er sie damit, was sie sprächen, nicht zu überschätzen. Agathe aber dachte noch einmal an das blitzhafte Gefühl der Überraschung, das sie empfunden hatte, als sie einander, in ihren Hausanzügen gleichsam verkleidet, zum erstenmal begegnet waren. Und sie erwiderte: »Das gibt es nun also seit tausenden Jahren; ist es denn leichter zu verstehn, wenn man es aus zwei Täuschungen erklärt?!«

Ulrich schwieg.

Und nach einer Weile sagte Agathe erfreut: »Aber im Schlaf ist es trotzdem so! Da sieht man sich doch manchmal auch in etwas anderes verwandelt. Oder begegnet sich als ein Mann. Und dann ist man so gut zu ihm wie nie zu sich selbst. Du wirst wahrscheinlich sagen, daß das sexuelle Träume seien; aber mir kommt eher vor, daß es viel ältere sind.«

»Hast du oft solche Träume?« fragte Ulrich.

»Manchmal; selten.«

»Ich beinahe nie« gestand er. »Es ist ewig lange her, daß ich so geträumt habe.«

»Und doch hast du mir einmal erklärt,« sagte nun Agathe »ich meine recht zu Anfang muß es gewesen sein, noch dort im alten Haus –, daß der Mensch vor Jahrtausenden wirklich andre Erlebnisse gekannt hat!«

»Ach, du meinst das gebende und das nehmende Sehen?« erwiderte Ulrich und lächelte, obgleich es ja Agathe nicht sah. »Das Umfangen werden und Umfangen des Geistes? Ja, von dieser geheimnisvollen Doppelgeschlechtlichkeit der Seele hätte ich natürlich auch sprechen müssen! Wovon übrigens nicht?! In allem spukt etwas davon. Selbst in jeder Analogie steckt ja ein Rest des Zaubers, gleich und nicht gleich zu sein. Aber hast du nicht bemerkt: in allen diesen Verhaltensweisen, von denen wir gesprochen haben, im Traum, in Mythos, Gedicht, Kindheit und selbst in der Liebe, ist der größere Anteil des Gefühls doch durch einen Mangel an Verständigkeit erkauft, und das heißt: durch einen Mangel an Wirklichkeit?«

»Du glaubst also nicht wirklich daran?« fragte Agathe.

Darauf antwortete Ulrich nicht. Aber nach einer Weile sagte er: »Wenn man es in die heillose heutige Ausdrucksweise übersetzt, so kann man das, was heute für jeden erschreckend gering ist, die perzentuelle Beteiligung des Menschen an seinen Erlebnissen und Taten nennen. Im Traum scheinen es hundert Prozente zu sein, im Wachen ist es kein halbes! Du hast es ja heute gleich an meiner Wohnung bemerkt; aber meine Beziehungen zu den Menschen, die du kennen lernen wirst, sind keine anderen. Ich habe das einmal – und wahrhaftig, wenn ich nicht irre, muß ich hinzufügen, daß es im Gespräch mit einer Frau geschehen ist, wo es sehr am Platz war – auch die Akustik der Leere genannt. Wenn eine Nadel in einem leer ausgeräumten Zimmer zu Boden fällt, hat der davon entstehende Lärm etwas Unverhältnismäßiges, ja Maßloses; aber ebenso ist es, wenn zwischen den Menschen Leere liegt. Man weiß dann nicht: schreit man, oder ist es totenstill? Denn alles Unrechte und Schiefe gewinnt die Anziehungskraft einer ungeheuren Versuchung, sobald man ihm im letzten nichts entgegensetzen kann. Findest du nicht auch? Aber verzeih,« unterbrach er sich »du wirst müde sein, und ich lasse dich nicht ruhn. Es scheint, ich fürchte, daß dir manches an meiner Umgebung und meinem Umgang mißfallen wird.«

Agathe hatte die Augen geöffnet. Nach der langen Verborgenheit drückte ihr Blick etwas ungemein schwer zu Bestimmendes aus, das Ulrich über seinen ganzen Körper sich mit Teilnahme ausbreiten fühlte. Er erzählte plötzlich wieder weiter: »Als ich jünger war, habe ich versucht, gerade darin eine Stärke zu sehn. Man hat dem Leben nichts entgegenzusetzen? Gut, so flieht das Leben vom Menschen weg in seine Werke! So ungefähr habe ich gedacht. Und es hat ja auch wohl etwas Gewaltiges auf sich mit der Lieblosigkeit und Verantwortungslosigkeit der heutigen Welt. Zumindest liegt darin etwas von einem Flegeljahrhundert, wie es schließlich in den Jahrhunderten ebenso wie in den Jahren des Wachstums vorkommen mag. Und wie jeder junge Mensch habe ich mich anfangs in Arbeit, in Abenteuer und Vergnügen gestürzt; es schien mir gleich zu sein, was man unternehme, sofern es nur mit vollem Einsatz geschehe. Erinnerst du dich, daß wir einmal über die Moral der Leistung gesprochen haben? Sie ist das uns eingeborene Bild, nach dem wir uns richten. Aber je älter man wird, desto deutlicher erfährt man, daß dieses scheinbare Übermaß, diese Unabhängigkeit und Beweglichkeit in allem, diese Souveränität der treibenden Teile und der Teilantriebe – sowohl die deiner eigenen gegen dich wie die deine gegen die Welt – kurz, daß alles was wir als Gegenwartsmenschen für eine Kraft und uns auszeichnende Arteigentümlichkeit gehalten haben, im Grunde nichts ist als eine Schwäche des Ganzen gegenüber seinen Teilen. Mit Leidenschaft und Wille ist dagegen nichts auszurichten. Kaum willst du ganz und mitten in etwas sein, siehst du dich schon wieder an den Rand gespült: das ist heute das Erlebnis in allen Erlebnissen!«

Agathe mit den nun offenen Augen wartete darauf, daß sich in seiner Stimme etwas ereignen werde; als es nicht geschah und die Rede ihres Bruders abbrach wie ein Pfad, der von einer Straße abgezweigt ist und nicht mehr zurückkehrt, sagte sie: »Nach deiner Erfahrung kann man also nie wirklich aus Überzeugung handeln und wird es nie können. Ich meine« verbesserte sie sich »mit Überzeugung nicht irgendeine Wissenschaft, auch nicht die moralische Dressur, die man uns beigebracht hat, sondern, daß man sich ganz bei sich sein fühlt und daß man sich auch bei allem andern sein fühlt, daß irgend etwas gesättigt ist, was jetzt leer bleibt, ich meine etwas, wovon man ausgeht und wohin man zurückkehrt. Ach ich weiß ja selbst nicht, was ich meine,« unterbrach sie sich heftig »ich hatte gehofft, daß du es mir erklären wirst!«

»Da meinst du gerade das, wovon wir gesprochen haben« antwortete Ulrich sanft. »Und du bist auch der einzige Mensch, mit dem ich so darüber sprechen kann. Aber es hätte keinen Zweck, wenn ich nochmals anfinge, um ein paar verlockende Worte mehr hinzuzufügen. Eher muß ich wohl sagen, daß ein Mitten-inne-Sein, ein Zustand der unzerstörten Innigkeit des Lebens – wenn man das Wort nicht sentimental versteht, sondern in der Bedeutung, die wir ihm soeben gegeben haben, – wahrscheinlich mit vernünftigen Sinnen nicht zu fordern ist.« Er hatte sich vorgebeugt, berührte ihren Arm und sah ihr lange in die Augen. »Es ist vielleicht eine Menschenwidrigkeit« sagte er leise. »Wirklich ist nur, daß wir sie schmerzlich entbehren! Denn damit hängt wohl das Verlangen nach Geschwisterlichkeit zusammen, das eine Zutat zur gewöhnlichen Liebe ist, in der imaginären Richtung auf eine Liebe ohne alle Vermengung mit Fremdheit und Nichtliebe.« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Du weißt doch, wie beliebt alles im Bett ist, was mit Brüderlein und Schwesterlein zusammenhängt: Leute, die ihre wirklichen Geschwister ermorden könnten, albern sich dort als Geschwisterlein an, die unter einer Decke stecken.«

Sein Gesicht zitterte im Halbdunkel in Selbstverspottung. Aber Agathes Glaube hielt sich an dieses Gesicht und nicht an die Verwirrung der Worte. Sie hatte ähnlich zuckende Gesichter gesehn, die im nächsten Augenblick herabstürzten: dieses kam nicht näher; es schien mit einer unendlich großen Geschwindigkeit auf einem unendlich weiten Weg zu sein. Sie antwortete aufs kürzeste: »Geschwister ist eben nicht genug!«

»Wir haben ja auch schon ›Zwillingsgeschwister‹ gesagt« entgegnete Ulrich, der sich nun geräuschlos erhob, weil er zu bemerken glaubte, daß die große Müdigkeit sich am Ende doch ihrer bemächtigt habe.

»Man müßte ein Siamesisches Zwillingspaar sein« sagte Agathe noch.

»Also Siamesische Zwillinge!« wiederholte ihr Bruder. Er war bemüht, ihre Hand aus der seinen zu lösen und sie vorsichtig auf die Decke zu legen, und seine Worte klangen schwerlos: ohne Gewicht und in ihrer Leichtigkeit sich noch ausbreitend, nachdem er schon das Zimmer verlassen hatte.

Agathe lächelte und sank allmählich in eine einsame Traurigkeit, deren Dunkel bald in das des Schlafs überging, ohne daß sie es in ihrer Übernächtigkeit merkte. Ulrich schlich sich aber in sein Arbeitszimmer und lernte dort, ohne daß er arbeiten konnte, zwei Stunden lang, bis auch er müde wurde, den Zustand kennen, von Rücksicht eingeengt zu sein. Er staunte darüber, wieviel er in dieser Zeit gern getan hätte, das Lärm machte und unterdrückt werden mußte. Das war ihm neu. Und beinahe reizte es ihn ein wenig, obwohl er sich mit großer Teilnahme auszumalen suchte, wie es wäre, mit einem andern Menschen wirklich zusammengewachsen zu sein. Er war wenig davon unterrichtet, wie solche zwei Nervensysteme arbeiten, die wie zwei Blätter an einem Stiel sitzen und nicht nur durch ihr Blut, sondern mehr noch durch die Wirkung der völligen Abhängigkeit miteinander verbunden sind. Er nahm an, daß jede Erregung der einen Seele von der andern mitgefühlt werde, während sich der hervorrufende Vorgang an einem Körper vollziehe, der in der Hauptsache nicht der eigene sei. »Eine Umarmung zum Beispiel: du wirst im andern umarmt« dachte er. »Du bist vielleicht nicht einmal einverstanden, aber dein anderes Ich wirft eine übermächtige Welle des Einverständnisses in dich! Was geht dich an, wer deine Schwester küßt? Aber ihre Erregung, die mußt du mit ihr lieben! Oder du bist es, der liebt, und nun mußt du sie irgendwie daran beteiligen, du kannst doch nicht bloß sinnlose physiologische Vorgänge in sie werfen...!?« Ulrich fühlte einen starken Reiz und ein großes Unbehagen von diesen Gedanken; es kam ihm schwer vor, hier die Grenze zwischen neuen Ansichten und Verzerrung der gewöhnlichen richtig zu ziehen.


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