Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21

Wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen

 

Während dieser Zeit und von dem Augenblick an, wo sie allein zurückgeblieben war, lebte Agathe in einer völligen Entspannung aller Beziehungen und hold schwermütigen Willensferne; ein Zustand, der wie eine große Höhe war, wo nur der weite, blaue Himmel zu sehen ist. Sie ging täglich zu ihrem Vergnügen ein wenig durch die Stadt; sie las, wenn sie zu Hause war; sie oblag ihren Geschäften: sie empfand diese sanfte, nichtssagende Tätigkeit zu leben mit dankbarem Genuß. Nichts bedrängte ihren Zustand, kein Festhalten an der Vergangenheit, keine Anstrengung für die Zukunft; wenn ihr Blick auf ein Ding in ihrer Umgebung fiel, so war das so, als lockte sie ein junges Lamm an: entweder kam es sanft heran, sich ihr zu nähern, oder es kümmerte sich eben nicht um sie, – aber nie begriff sie es mit Absicht, mit jener Bewegung des inneren Zugreifens, die allem kalten Verständnis etwas Gewalttätiges und doch Vergebliches gibt, da sie das Glück verscheucht, das in den Dingen ist. Auf diese Weise schien Agathe alles, was sie umgab, viel verständlicher zu sein als sonst, aber vornehmlich beschäftigten sie noch immer die Gespräche mit ihrem Bruder. Wie es der Eigenart ihres ungewöhnlich treuen Gedächtnisses entsprach, das durch keinerlei Vorsätze und Vorurteile seinen Stoff deformierte, tauchten um sie nun wieder die lebendigen Worte, die kleinen Überraschungen des Tonfalls und der Gebärde dieser Gespräche auf, ohne viel Zusammenhang und eher so, wie sie gewesen waren, noch ehe Agathe sie recht aufgefaßt und gewußt hatte, was sie wollten. Trotzdem war alles in höchstem Maße sinnvoll; ihre Erinnerung, in der schon so oft Reue geherrscht hatte, war diesmal voll ruhiger Anhänglichkeit, und in einer schmeichelnden Weise verblieb die vergangene Zeit eng an die Wärme des Körpers geschmiegt, statt sich wie sonst in Frost und Schwärze zu verlieren, die das vergeblich Gelebte empfangen.

Und so, eingehüllt in ein unsichtbares Licht, sprach Agathe auch mit den Rechtsanwälten, Notaren und Geschäftsleuten, zu denen sie ihr Weg führte. Sie stieß nirgends auf Ablehnung; man kam der reizvollen jungen Frau, die durch ihren Vatersnamen empfohlen war, in allem entgegen, was sie wünschte. Sie selbst handelte dabei im Grunde mit ebenso großer Sicherheit wie Geistesabwesenheit: was sie beschlossen hatte, stand fest, aber gleichsam außer ihr selbst, und ihre im Leben erworbene Erfahrenheit – also ebenfalls etwas, das sich von der Person unterscheiden läßt – arbeitete an diesem Beschluß weiter wie ein gewitzter Lohnknecht, der gleichmütig die Vorteile benutzt, die sich seinem Auftrag darbieten; daß sie mit allem, was sie tat, im Begriff war, einen Betrug vorzubereiten, diese Bedeutung ihres Handelns, die sich dem Unbeteiligten stark aufdrängt, setzte sich in ihrer eigenen Auffassung während dieser Zeit überhaupt nicht durch. Die Einheit ihres Gewissens schloß das aus. Der Glanz ihres Gewissens überstrahlte diesen dunklen Punkt, der gleichwohl, wie der Kern in der Flamme, mitten darin lag. Agathe wußte selbst nicht, wie sie es ausdrücken solle: durch ihren Vorsatz befand sie sich in einem Zustand, der von diesem häßlichen Vorsatz himmelweit entfernt war.

Schon am Morgen, nachdem ihr Bruder abgereist war, hatte sich Agathe sorgfältig betrachtet: es hatte mit dem Gesicht durch einen Zufall angefangen, denn ihr Blick war darauf gefallen und nicht mehr aus dem Spiegel zurückgekommen. Sie wurde so festgehalten, wie man manchmal gar nicht gehen möchte, aber doch immer neue hundert Schritte weiter geht bis zu einem zuletzt erst sichtbar gewordenen Ding, wo man dann endgültig umzukehren vorhat und es wieder unterläßt. In dieser Weise wurde sie ohne Eitelkeit von der Landschaft ihres Ich festgehalten, die ihr unter einem Hauch von Glas vor Augen lag. Sie kam zum Haar, das noch immer wie heller Samt war; sie öffnete ihrem Spiegelbild den Kragen und streifte ihm das Kleid von den Schultern; sie zog es schließlich ganz aus und musterte es bis zu den rosigen Decken der Nägel, wo an Händen und Füßen der Körper endigt und kaum noch sich selbst gehört. Noch war alles wie der blinkende Tag, der sich seinem Zenith nähert: aufsteigend, rein, genau und von jenem Werden durchflossen, das Vor-Mittag ist und sich an einem Menschen oder jungen Tier in der gleichen unbeschreiblichen Weise ausdrückt wie an einem Ball, der seinen höchsten Punkt noch nicht erreicht hat, aber nur wenig darunter ist. »Vielleicht durchschreitet er ihn gerade in diesem Augenblick« dachte Agathe. Dieser Gedanke erschreckte sie. Immerhin konnte es aber auch noch einige Zeit dauern: sie war erst siebenundzwanzig Jahre alt. Ihr Körper, unbeeinflußt von Sportlehrern und Masseuren wie von Gebären und Muttergeschäft, war von nichts geformt worden als von seinem eigenen Wachstum. Hätte man ihn nackt in eine jener großen und einsamen Landschaften versetzen können, welche die dem Himmel zugekehrte Seite hoher Bergzüge bilden, so wäre er von dem weiten und unfruchtbaren Wogenschlag solcher Höhe wie eine heidnische Göttin getragen worden. In einer Natur dieser Art gießt der Mittag keine Schwaden von Licht und Hitze herab, er scheint bloß noch eine Weile über seinen Höhepunkt anzusteigen und geht unmerklich in die sinkend schwebende Schönheit des Nachmittags über. Aus dem Spiegel kam das etwas unheimliche Gefühl der unbestimmbaren Stunde zurück.

In diesem Augenblick hatte Agathe daran gedacht, daß auch Ulrich sein Leben vorbeigehn lasse, als währte es ewig. »Vielleicht ist es ein Fehler, daß wir uns nicht erst als Greise kennen gelernt haben« sagte sie zu sich selbst und hatte die schwermütige Vorstellung zweier Nebelbänke, die am Abend zur Erde sinken. »Sie sind nicht so schön wie der strahlende Mittag,« dachte sie »aber was kümmert es diese zwei formlosen Grauen, wie die Menschen sie empfinden! Ihre Stunde ist gekommen und sie ist so weich wie die glühendste Stunde!« Sie hatte nun dem Spiegel fast schon den Rücken gekehrt, fühlte sich aber von einem in ihrer Stimmung liegenden Hang zur Übertreibung unversehens herausgefordert, sich wieder umzuwenden, und mußte über die Erinnerung an zwei dicke Marienbader Kurgäste lachen, die sie vor Jahren auf einer grünen Bank beobachtet hatte, wo sie einander mit den zärtlichsten und zartesten Empfindungen liebkosten. »Auch ihr Herz schlägt schlank inmitten des Fetts, und in den inneren Anblick versunken, wissen sie nichts von dem Spaß, den der äußere darbietet« hielt sich Agathe vor und machte ein verzücktes Gesicht, während sie es versuchte, ihren Körper dick zu stauchen und in fette Falten zu drücken. Als dieser Anfall von Übermut vorbei war, sah es ganz so aus, als wären ihr einige winzige Tränen des Zorns in die Augen getreten, und sich kühl zusammennehmend, kehrte sie zu einer genauen Betrachtung ihrer Erscheinung zurück. Obwohl sie für schlank galt, beobachtete sie an ihren Gliedern angeregt eine Möglichkeit, daß sie zu schwer werden könnten. Vielleicht war auch der Brustkorb zu breit. Aus der sehr weißen Haut, die im Gesicht vom Blond des Haars verdunkelt wurde wie von Kerzen, die bei Tag brennen, hob sich die Nase etwas zu weit, und auf einer Seite war ihre beinahe klassische Linie an der Spitze eingedrückt. Überhaupt mochte sich überall in der flammenhaften Grundform eine zweite verstecken, die breiter und schwermütiger war, wie ein Lindenblatt, das zwischen Lorbeerzweige geraten ist. Agathe wurde auf sich neugierig, als sähe sie sich zum erstenmal richtig an. So konnten sie leicht die Männer gesehen haben, mit denen sie sich eingelassen hatte, und selbst hatte sie gar nichts davon gewußt. Dieses Gefühl war nicht ganz geheuer. Aber auf irgendeine Weise der Phantasie hörte sie, ehe sie ihre Erinnerungen darüber zur Rechenschaft ziehen konnte, hinter allem, was sie erlebt hatte, den langen, inbrünstig hingezogenen Liebesschrei der Esel, der sie immer eigentümlich erregt hatte: er klingt grenzenlos töricht und häßlich, aber gerade darum gibt es vielleicht kein zweites Heldentum der Liebe, das so trostlos süß wäre wie das seine. Sie zuckte die Achseln über ihr Leben und wandte sich mit dem festen Willen wieder an ihr Bild, darin eine Stelle zu entdecken, wo ihre Erscheinung schon dem Alter nachgäbe. Da waren die kleinen Plätze bei Augen und Ohren, die sich zuerst verändern und anfangs so aussehen, als hätte etwas auf ihnen geschlafen, oder das Rund unter der Innenseite der Brüste, das so leicht seine Klarheit verliert: es würde sie in diesem Augenblick befriedigt und ihr Friede versprochen haben, daran eine Veränderung zu bemerken, aber noch war nirgends eine solche wahrzunehmen, und die Schönheit des Körpers schwebte fast unheimlich in der Tiefe des Spiegels.

In diesem Augenblick kam es Agathe wirklich sonderbar vor, daß sie Frau Hagauer sei, und der Unterschied zwischen den damit gegebenen deutlichen und dichten Beziehungen und der einwärts davon sich zu ihr erstreckenden Ungewißheit war so stark, daß sie selbst ohne Körper dazustehen und ihr Körper zu der Frau Hagauer im Spiegel zu gehören schien, die nun sehen mochte, wie sie mit ihm fertig werde, da er sich an Verhältnisse gebunden hatte, die unter seiner Würde waren. Auch darin lag etwas von dem schwebenden Genuß des Lebens, der manchmal wie ein Schreck ist, und das erste, wozu sich Agathe, nachdem sie sich flüchtig wieder angekleidet hatte, entschloß, führte sie in ihr Schlafzimmer, eine Kapsel zu suchen, die sich dort unter ihrem Gepäck befinden mußte. Diese kleine luftdichte Kapsel, die sie beinahe ebenso lange besaß, wie sie mit Hagauer verheiratet war, und von der sie sich niemals trennte, enthielt eine winzige Menge einer mißfarbigen Substanz, von der man ihr versprochen hatte, daß sie ein schweres Gift sei. Agathe erinnerte sich an gewisse Opfer, die sie hatte bringen müssen, um sich in den Besitz dieses verbotenen Stoffes zu setzen, von dem sie nichts wußte, als was man ihr von seiner Wirkung erzählt hatte, und einen jener wie eine Zauberformel klingenden chemischen Namen, die sich ein Uneingeweihter merken muß, ohne sie zu verstehen. Aber offenbar gehören alle Mittel, die, wie der Besitz von Gift und Waffen oder das Aufsuchen bestehbarer Gefahren, das Ende etwas in die Nähe rücken, zur Romantik der Lebenslust; und es mag sein, daß das Leben der meisten Menschen so bedrückt, so schwankend, mit soviel Dunkel in der Helle und im ganzen so verkehrt verläuft, daß erst durch eine entfernte Möglichkeit, es zu beenden, die ihm innewohnende Freude befreit wird. Agathe fühlte sich beruhigt, als ihre Augen auf das kleine metallene Ding trafen, das ihr in der Ungewißheit, die vor ihr lag, als ein Glücksbringer und Talisman erschien.

Das bedeutete also nichts weniger, als daß Agathe schon in dieser Zeit die Absicht gehabt hätte, sich zu töten. Im Gegenteil, sie fürchtete den Tod genau so, wie es jeder junge Mensch tut, wenn ihm beispielsweise abends vor dem Einschlafen nach einem gesund verbrachten Tag im Bett einfällt: es ist unvermeidlich, daß ich einmal an einem ebenso schönen Tag wie heute tot sein werde. Auch macht es durchaus nicht Lust zu sterben, wenn man einem andern dabei zusehen muß, und das Ableben ihres Vaters hatte sie mit Eindrücken gequält, deren Grauen von neuem hervorkam, seit sie nach der Abreise ihres Bruders allein in dem Haus zurückgeblieben war. Aber: »Ich bin ein wenig tot« – dieses Gefühl hatte Agathe oft, und gerade in Augenblicken wie diesem, wo sie sich soeben erst der Wohlbildung und Gesundheit ihres jungen Leibs bewußt gewesen war, dieser gespannten Schönheit, die in ihrem geheimnisvollen Zusammenhalt so grundlos ist wie der Zerfall der Elemente im Tode, geriet sie leicht aus dem Zustand ihrer glücklichen Sicherheit in einen des Bangens, Staunens und Verstummens, wie man ihn empfindet, wenn man aus einem lebhaft erfüllten Raum plötzlich unter den Schimmer der Sterne tritt. Ungeachtet der Vorsätze, die sich in ihr regten, und trotz der Genugtuung darüber, daß es ihr gelungen sei, sich aus einem verfehlten Leben zu retten, fühlte sie sich jetzt ein wenig von sich abgelöst und bloß in undeutlichen Grenzen mit sich verbunden. Kühl dachte sie an den Tod als einen Zustand, wo man aller Mühen und Einbildungen enthoben ist, und stellte sich ihn als ein inniges Eingeschläfertwerden vor: man liegt in Gottes Hand, und diese Hand ist wie eine Wiege oder wie eine Hängematte, die an zwei große Bäume gebunden ist, die der Wind ein klein wenig schaukelt. Sie stellte sich den Tod als eine große Beruhigung und Müdigkeit vor, befreit von allem Wollen und aller Anstrengung, von jeder Aufmerksamkeit und Überlegung, ähnlich der angenehmen Kraftlosigkeit, die man an den Fingern empfindet, wenn sie der Schlaf von irgendeinem letzten Ding der Welt, das sie noch festhalten, vorsichtig loslöst. Ohne Zweifel hatte sie sich aber damit eine recht bequeme und nachlässige Vorstellung vom Sterben gemacht, wie es eben bloß dem Bedürfnis von jemand entsprach, der den Anstrengungen des Lebens nicht günstig gesinnt ist, und am Ende erheiterte sie sich selbst an der Beobachtung, wie sehr das an die Ottomane erinnere, die sie in den strengen väterlichen Salon hatte stellen lassen, um lesend darauf zu liegen, als einzige von ihr aus eigener Kraft im Haus vorgenommene Veränderung.

Trotzdem war der Gedanke, das Leben aufzugeben, bei Agathe alles andere als bloß ein Spiel. Es erschien ihr tief glaubwürdig, daß auf eine so enttäuschende Bewegtheit ein Zustand folgen müsse, dessen beseligende Ruhe in ihrer Vorstellung unwillkürlich eine Art von körperlichem Gehalt annahm. Sie empfand es so, weil sie kein Bedürfnis nach der spannenden Illusion hatte, daß die Welt zu verbessern sei, und sich jederzeit bereit fühlte, ihren Anteil an ihr ganz aufzulassen, sofern es nur in einer angenehmen Weise geschehen könnte; überdies hatte sie aber auch noch in jener ungewöhnlichen Erkrankung, von der sie an der Grenze zwischen Kinder- und Mädchenzeit befallen worden war, eine besondere Begegnung mit dem Tode gehabt. Damals waren – in einem kaum zu überwachenden Abnehmen ihrer Kraft, das sich in jede kleinste Zeitspanne einzuschieben schien, und im ganzen doch unaufhaltsam schnell – von Tag zu Tag mehr Teile ihres Körpers von ihr abgelöst und vernichtet worden; aber in gleichem Schritt mit diesem Verfall und dieser Abwendung vom Leben ward auch ein unvergeßliches neues einem Ziel Zustreben in ihr geweckt, das alle Unruhe und Angst aus der Krankheit verbannte und ein eigenartig gehaltvoller Zustand war, worin sie sogar eine gewisse Herrschaft über die immer unsicherer werdenden Erwachsenen ausüben konnte, die sie umgaben. Es ist nicht unmöglich, daß dieser Vorteil, den sie unter so eindrucksvollen Verhältnissen kennenlernte, später den Kern ihrer seelischen Bereitschaft bildete, sich dem Leben, dessen Erregungen aus irgendeinem Grund nicht ihren Erwartungen entsprachen, auf eine ähnliche Weise zu entziehen; es ist aber wahrscheinlicher, daß es sich umgekehrt verhielt und daß jene Krankheit, durch die sie sich den Forderungen der Schule und des Vaterhauses entzog, die erste Äußerung ihres transparenten, gleichsam für einen ihr unbekannten Gefühlsstrahl durchlässigen Verhältnisses zur Welt gebildet hatte. Denn Agathe fühlte sich einer ursprünglichen einfachen Sinnesart nach warm, lebhaft, ja sogar froh angelegt und leicht zufriedenzustellen, wie sie sich denn auch in die verschiedensten Lebenslagen verträglich geschickt hatte; auch war niemals jener Einsturz zu Gleichgültigkeit in ihr erfolgt, der Frauen widerfährt, die ihre Enttäuschung nicht mehr tragen können: aber mitten im Lachen oder dem Aufruhr einer sinnlichen Abenteurerei, die sich deshalb doch fortsetzten, wohnte die Entwertung, die jede Fiber ihres Leibes müde und sehnsüchtig nach etwas anderem machte, das eben am ehesten als Nichts zu bezeichnen war.

Dieses Nichts hatte einen bestimmten, wenn auch unbestimmbaren, Inhalt. Lange Zeit hatte sie sich bei vielen Gelegenheiten den Satz des Novalis vorgesagt: »Was kann ich also für meine Seele tun, die wie ein unaufgelöstes Rätsel in mir wohnt? Die dem sichtbaren Menschen die größte Willkür läßt, weil sie ihn auf keine Weise beherrschen kann?« Aber das flackernde Licht dieses Satzes erlosch, nachdem es sie rasch wie ein Blitzstrahl erhellt hatte, jedesmal wieder im Dunkel, denn sie glaubte nicht an eine Seele, weil ihr das überheblich und auch für ihre Person viel zu bestimmt vorkam. Sie konnte bloß ebensowenig an das Irdische glauben. Will man das recht verstehen, so braucht man sich nur zu vergegenwärtigen, daß diese Abkehr von der irdischen Ordnung ohne Glauben an eine überirdische etwas zuinnerst Natürliches ist, denn in jedem Kopf macht sich neben dem logischen Denken mit seinem strengen und einfachen Ordnungssinn, der das Spiegelbild der äußeren Verhältnisse ist, ein affektives geltend, dessen Logik, soweit man überhaupt von einer solchen reden darf, den Eigenheiten der Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen entspricht, so daß sich die Gesetze dieser beiden ungefähr so zueinander verhalten, wie die eines Holzplatzes, wo Klötze rechteckig behauen und versandbereit aufgestapelt werden, zu den dunkel verschlungenen Gesetzen des Waldes mit ihrem Treiben und Rauschen. Und da die Gegenstände unseres Denkens keineswegs ganz unabhängig von seinen Zuständen sind, vermengen sich nicht nur in jedem Menschen diese beiden Denkweisen, sondern sie können ihm bis zu einem gewissen Grad auch zwei Welten gegenüberstellen, zumindest unmittelbar vor und nach jenem »ersten geheimnisvollen und unbeschreiblichen Augenblick«, von dem ein berühmter religiöser Denker behauptet hat, daß er in jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkäme, ehe sich Gefühl und Anschauung voneinander trennten und die Plätze einnähmen, an denen man sie zu finden gewohnt sei: als ein Ding im Raum und ein Sinnen, das nun in den Betrachter eingeschlossen ist.

Wie immer also das Verhältnis zwischen Dingen und Gefühl im ausgereiften Weltbild des zivilisierten Menschen auch beschaffen sein möge, kennt doch jeder die überschwenglichen Augenblicke, in denen eine Zweiteilung noch nicht auftritt, als hätten sich dann Wasser und Land noch nicht geschieden und es lägen die Wellen des Gefühls im gleichen Horizont mit den Erhöhungen und Tälern, von denen die Gestalt der Dinge gebildet wird. Es braucht nicht einmal angenommen zu werden, daß Agathe solche Augenblicke ungewöhnlich oft und stark erlebte, sie nahm sie bloß lebhafter, oder, wenn man will, auch abergläubischer wahr, denn sie war stets bereit, der Welt zu glauben und auch wieder nicht zu glauben, so wie sie es seit ihrer Schulzeit gehalten und auch später nicht verlernt hatte, als sie es mit der Logik der Männer näher zu tun bekam. In diesem Sinn, der von Willkür und Laune weit entfernt ist, hätte Agathe, wäre sie selbstgewisser gewesen, den Anspruch erheben dürfen, sich die unlogischeste aller Frauen zu nennen. Aber sie war nie auf den Einfall gekommen, in den abgewandten Gefühlen, die sie erfuhr, mehr als eine persönliche Ungewöhnlichkeit zu erblicken. Erst durch die Begegnung mit ihrem Bruder entstand in ihr eine Wandlung. In den leeren, ganz in den Schatten der Einsamkeit gehöhlten Zimmern, die noch vor kurzem von Gespräch und einer Gemeinsamkeit erfüllt waren, die bis an die innerste Seele drangen, verlor sich unwillkürlich die Unterscheidung zwischen körperlicher Trennung und geistiger Gegenwart, und Agathe fühlte sich, während die Tage ohne Merkzeichen dahinglitten, so eindringlich, wie sie es noch nie erlebt hatte, den eigentümlichen Reiz der Allgegenwart und Allmacht empfinden, der mit dem Übertritt der gefühlten Welt in die der Wahrnehmungen verbunden ist. Ihre Aufmerksamkeit schien nun nicht bei den Sinnen, sondern gleich tief innen im Gemüt geöffnet zu sein, dem nichts einleuchten wollte, als was ebenso leuchtete wie es selbst, und sie meinte, unerachtet der Unwissenheit, deren sie sich sonst anklagte, in der Erinnerung an die von ihrem Bruder gehörten Worte alles, worauf es ankäme, zu verstehen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Und wie auf diese Weise ihr Geist von sich selbst so erfüllt war, daß auch der lebhafteste Einfall etwas von dem lautlosen Schweben einer Erinnerung an sich hatte, weitete sich alles, was ihr begegnete, zu einer grenzenlosen Gegenwart; auch wenn sie etwas tat, schmolz zwischen ihr, die es ausführte, und dem, was geschah, eigentlich nur eine Trennung hin, und ihre Bewegung schien der Weg zu sein, den die Dinge selbst herankamen, wenn sie den Arm nach ihnen ausstreckte. Diese sanfte Macht, ihr Wissen und die sprechende Gegenwart der Welt waren aber, wenn sie sich lächelnd fragte, was sie denn tue, kaum von Abwesenheit, Ohnmacht und tiefer Geistesstummheit zu unterscheiden. Mit einer geringen Übertreibung ihres Empfindens hätte Agathe von sich sagen können, daß sie nun nicht mehr wisse, wo sie sei. Sie war nach allen Seiten in etwas Stillstehendem darin, wo sie sich hochgehoben und verschwunden zugleich fühlte. Sie hätte sagen können: Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht, in wen. Ein klarer Wille, den sie sonst immer an sich vermißt hatte, erfüllte sie, aber sie wußte nicht, was sie in seiner Klarheit beginnen solle, denn alles, was es Gutes und Böses in ihrem Leben gegeben hatte, war ohne Bedeutung.

So dachte Agathe nicht nur, während sie die Kapsel mit dem Gift betrachtete, sondern alle Tage daran, daß sie sterben möchte oder daß das Glück des Todes ähnlich dem Glück sein müsse, in dem sie diese Tage verbringe, während sie darauf wartete, daß sie ihrem Bruder nachreisen werde, und inzwischen gerade das tat, wovon er sie abzulassen beschworen hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was geschehen werde, sobald sie bei ihrem Bruder in der Hauptstadt wäre. Fast vorwurfsvoll erinnerte sie sich, daß er manchmal unbekümmert seine Erwartung hatte durchblicken lassen, sie werde dort Erfolge haben und bald einen neuen Gatten oder wenigstens einen Liebhaber finden; denn gerade so würde es nicht kommen, das wußte sie! Liebe, Kinder, schöne Tage, fröhliche Geselligkeit, Reisen und ein bißchen Kunst –: das gute Leben ist ja so einfach, sie verstand seine Gefälligkeit und war nicht unempfindlich gegen sie. Aber, so gerne sie bereit war, sich selbst unnütz zu finden, trug Agathe doch die ganze Verachtung des zum Aufruhr geborenen Menschen gegen diese schlichte Einfachheit in sich. Sie erkannte sie als Betrug. Das angeblich voll ausgelebte Leben ist in Wahrheit »ungereimt«, es fehlt ihm am Ende, und wahrhaftig am wirklichen Ende, beim Tod, immer etwas. Es ist – sie suchte nach einem Ausdruck dafür – wie gehäufte Dinge, die kein höheres Verlangen geordnet hat: unerfüllt in seiner Fülle, das Gegenteil von Einfachheit, bloß eine Verworrenheit, die man mit der Freude der Gewohnheit hinnimmt! Und unvermutet abspringend dachte sie: »Es ist wie ein Haufen fremder Kinder, den man mit anerzogener Freundlichkeit betrachtet, voll wachsender Angst, weil es einem nicht gelingt, das eigene darunter zu erblicken!«

Es beruhigte sie, daß sie sich vorgesetzt hatte, ihr Leben zu beenden, wenn es auch nach seiner letzten Wendung, die ihr noch bevorstand, nicht anders geworden sein sollte. Wie die Gärung im Wein strömte die Erwartung in ihr, daß Tod und Schrecken nicht das letzte Wort der Wahrheit sein werden. Sie empfand kein Bedürfnis, darüber nachzudenken. Sie hatte sogar Angst vor diesem Bedürfnis, dem Ulrich so gerne nachgab, und es war eine angriffslustige Angst. Denn sie fühlte wohl, daß alles, was sie mit solcher Stärke ergriff, nicht ganz frei von einer beständigen Andeutung war, daß es nur Schein sei. Aber ebenso gewiß war im Schein flüssige, gelöste Wirklichkeit enthalten: vielleicht noch nicht Erde gewordene Wirklichkeit, dachte sie: und in einem jener wunderbaren Augenblicke, wo sich der Ort, wo sie stand, ins Ungewisse aufzulösen schien, vermochte sie zu glauben, daß hinter ihr, in dem Raum, wohin man niemals sehen könne, vielleicht Gott stünde. Sie erschrak vor diesem Zuviel! Eine schauerliche Weite und Leere durchdrang sie plötzlich, eine uferlose Helle verfinsterte ihren Geist und versetzte ihr Herz in Angst. Ihre Jugend – leicht bereit zu solcher Besorgnis, wie es Unerfahrenheit mit sich bringt – flüsterte ihr ein, daß sie in Gefahr stehe, Anfänge eines sich bildenden Wahnsinns groß werden zu lassen: Sie strebte zurück. Heftig hielt sie sich vor, daß sie doch gar nicht an Gott glaube. Und wirklich tat sie es nicht, seit man sie gelehrt hatte, es zu tun, was eine Unterabteilung des Mißtrauens war, das sie gegen alles empfand, was man sie gelehrt hatte. Sie war nichts weniger als religiös in jenem festen Sinn, der zu einer überirdischen oder auch nur moralischen Überzeugung hinreicht. Aber erschöpft und zitternd mußte sie sich nach einer Weile abermals eingestehn, daß sie »Gott« gerade so deutlich gefühlt habe wie einen Mann, der hinter ihr stünde und ihr einen Mantel um die Schulter legte.

Nachdem sie genügend darüber nachgedacht hatte und wieder kühn geworden war, kam sie dahinter, daß die Bedeutung des von ihr erlebten Vorgangs gar nicht in jener »Sonnenverfinsterung« gelegen habe, von der ihre körperlichen Empfindungen befallen worden waren, sondern hauptsächlich eine moralische gewesen sei. Eine plötzliche Veränderung ihres innersten Zustands und, abhängend davon, aller ihrer Beziehungen zur Welt hatte ihr für einen Augenblick jene »Einheit des Gewissens mit den Sinnen« verliehen, die sie bisher nur in so geringen Andeutungen gekannt hatte, daß es gerade hinreichte, dem gewöhnlichen Leben etwas Trostloses und Trübselig-Leidenschaftliches zu hinterlassen, ob Agathe nun versuchen mochte, gut zu handeln oder schlecht. Es kam ihr vor, daß diese Veränderung ein unvergleichliches Erfließen gewesen wäre, das ebensowohl von ihrer Umgebung ausgegangen war wie von ihr zu dieser hin, ein Einssein der höchsten Bedeutung mit der geringsten Bewegung des Geistes, der sich kaum von den Dingen abhob. Die Dinge waren von den Empfindungen durchdrungen worden und die Empfindungen von den Dingen in einer so überzeugenden Weise, daß Agathe fühlte, von allem, worauf sie das Wort Überzeugung bisher angewandt hätte, wäre sie nicht einmal berührt worden. Und das war unter Umständen geschehn, die es nach gewöhnlicher Auffassung ausschlossen, sich überzeugt zu geben.

So lag die Bedeutung dessen, was sie in ihrer Einsamkeit erlebte, nicht etwa in der Rolle, die ihm psychologisch, als irgendeinem Hinweis auf eine reizbare oder leicht zerstörbare Persönlichkeit zugekommen wäre, denn sie lag überhaupt nicht in der Person, sondern im Allgemeinen oder im Zusammenhang der Person mit ihm, den Agathe nicht mit Unrecht als einen moralischen ansprach, in dem Sinn, daß es der jungen von sich enttäuschten Frau vorkam, wenn sie immer so leben dürfte, wie in den Minuten der Ausnahme und auch nicht zu schwach wäre, darin zu verharren, so könnte sie die Welt lieben und sich gütig in sie fügen; und anders bringe sie es nicht zustande! Nun erfüllte sie ein leidenschaftliches Zurückstreben, aber solche Augenblicke der größten Steigerung lassen sich nicht mit Gewalt wieder herbeiführen; und mit der Deutlichkeit, die ein blasser Tag, nachdem die Sonne untergegangen ist, annimmt, wurde sie erst mit der Vergeblichkeit ihrer stürmischen Bemühungen gewahr, daß das einzige, dessen sie gewärtig sein durfte und worauf sie in der Tat auch mit einer Ungeduld wartete, die sich unter ihrer Einsamkeit bloß verborgen hatte, jene sonderbare Aussicht wäre, die ihr Bruder einmal mit einer halb im Scherz ausgesprochenen und erklärten Bezeichnung das Tausendjährige Reich genannt hatte. Er hätte wohl ebensogut auch ein anderes Wort dafür gewählt haben können, denn was es Agathe bedeutete, war nur der überzeugende und zuversichtliche Klang nach etwas, das im Kommen ist. Sie hätte das nicht zu behaupten gewagt. Sie wußte ja auch jetzt noch nicht sicher, ob es wahrhaft möglich sei. Sie wußte überhaupt nicht, was es sei. Sie hatte im Augenblick wieder alle Worte vergessen, mit denen ihr Bruder bewies, daß sich hinter dem, was ihren Geist bloß mit leuchtenden Nebeln erfüllte, die Möglichkeit ins Ungemessene weiter erstrecke. Aber solange sie sich in seiner Gesellschaft befunden hatte, war ihr nicht anders zumute gewesen, als bildete sich aus seinen Worten ein Land, und nicht in ihrem Kopf bildete es sich, sondern wahrhaftig unter ihren Füßen. Gerade daß er oft nur ironisch davon sprach, wie überhaupt sein Wechseln zwischen Kühle und Gefühl, das sie früher so oft verwirrt hatte, erfreute Agathe jetzt in ihrer Verlassenheit, durch eine Art Bürgschaft, wirklich gemeint zu sein, die alle unfreundlichen Seelenzustände vor den verzückten voraushaben. »Ich habe wahrscheinlich nur deshalb an den Tod gedacht, weil ich mich davor fürchte, daß er es nicht ernst genug meint« gestand sie sich ein.

Sie wurde vom letzten Tag, den sie in Abwesenheit zu verbringen hatte, überrascht; es war mit einemmal im Hause alles geordnet und ausgeräumt, und nur noch die Schlüssel blieben dem alten Ehepaar zu übergeben, das, testamentarisch versorgt, im Gesindebau zurückblieb, bis das Grundstück einen neuen Besitzer fände. Agathe hatte sich geweigert ins Hotel zu ziehn und wollte bis zu ihrer Abreise, die zwischen Mitternacht und Morgen bevorstand, auf ihrem Platz bleiben. Das Haus war verpackt und vermummt. Eine Notbeleuchtung brannte. Zusammengeschobene Kisten bildeten Tisch und Stuhl. Am Rand einer Schlucht, auf einer Kistenterrasse, hatte sie zum Abendbrot decken lassen. Der alte Diener ihres Vaters balancierte Geschirr durch Licht und Schatten; er und seine Frau hatten es sich nicht nehmen lassen, aus ihrer eigenen Küche zu helfen, damit die gnädige junge Frau, wie sie es ausdrückten, wenn sie das letztemal in ihrem Elternhause speise, nicht schlecht bedient sei. Und plötzlich dachte Agathe völlig außerhalb des Geistes, worin sie diese Tage verbracht hatte: »Ob sie am Ende etwas bemerkt haben?!« Es konnte ja sein, daß sie nicht alle Papiere mit den Vorübungen für die Abänderung des Testaments vernichtet hätte. Sie fühlte kalten Schreck, schrecklich geträumtes Gewicht, das sich an alle Glieder hängt, den geizigen Schreck der Wirklichkeit, der dem Geist nichts gibt, sondern nur von ihm nimmt. In diesem Augenblick gewahrte sie mit leidenschaftlicher Stärke das in ihr neu erwachte Verlangen zu leben. Gewalttätig lehnte es sich gegen die Möglichkeit auf, daß sie daran verhindert werden könnte. Entschlossen suchte sie, als der alte Diener wiederkehrte, sein Gesicht zu erforschen. Aber der Greis ging mit seinem vorsichtigen Lächeln arglos hin und her und empfand irgendetwas Stummes und Feierliches. Sie konnte so wenig in ihn hineinsehen wie in eine Mauer und wußte nicht, ob hinter diesem blinden Glanz noch etwas in ihm wäre. Auch sie empfand nun etwas Stummes, Feierliches und Trauriges. Er war immer der Konfident ihres Vaters gewesen, unweigerlich bereit, ihm jedes Geheimnis seiner Kinder auszuliefern, das er erführe: aber Agathe war in diesem Hause geboren, und alles, was seither geschehen war, ging heute zu Ende, und es rührte Agathe, daß sie und er nun feierlich und allein waren. Sie faßte den Beschluß, ihm ein besonderes kleines Geldgeschenk zu machen, und nahm sich in plötzlicher Schwäche vor, daß sie sagen werde, es geschähe im Auftrag von Professor Hagauer, und überlegte das nicht aus List, sondern aus dem Zustand einer Bußhandlung und in der Absicht, nichts zu unterlassen, obwohl ihr klar war, daß er ebenso unzweckmäßig wie abergläubisch sei. Sie holte auch, ehe der Alte wiederkehrte, noch ihre beiden verschiedenen Kapseln hervor, und die mit dem Bild ihres unvergessenen Geliebten schob sie, nachdem sie den jungen Mann zum letzten Mal stirnrunzelnd betrachtet hatte, unter den Deckel einer schlecht vernagelten Kiste, die auf unbestimmte Zeit zu lagern kommen sollte und anscheinend Küchengeschirr oder Beleuchtungskörper enthielt, denn sie hörte Metall über Metall, wie die Äste eines Baums hinabfallen; die Kapsel mit dem Gift tat sie aber nun an die Stelle, wo sie früher das Bild getragen hatte.

»Wie unmodern ich bin!« dachte sie dabei lächelnd – »gewiß gibt es Wichtigeres als Liebeserlebnisse!« Aber sie glaubte es nicht.

Man hätte in diesem Augenblick ebensowenig sagen können, daß sie es ablehne, zu ihrem Bruder in unerlaubte Beziehungen zu treten, wie daß sie es wünsche. Das mochte von der Zukunft abhängen; aber in ihrem gegenwärtigen Zustand entsprach nichts der Entschiedenheit einer solchen Frage.

Das Licht schminkte die Bretter, zwischen denen sie saß, grellweiß und tiefschwarz. Und eine ähnliche tragische Maske, die seiner doch wohl nur schlichten Bedeutung etwas Unheimliches gab, trug der Gedanke, daß sie nun den letzten Abend in dem Haus verbringe, wo sie von einer Frau geboren worden war, an die sie sich niemals hatte erinnern können und von der auch Ulrich geboren worden war. Ein uralter Eindruck beschlich sie, es stünden Clowns mit todernsten Gesichtern und sonderbaren Instrumenten um sie. Sie begannen zu spielen. Agathe erkannte darin einen Wachtraum der Kindheit wieder. Sie konnte diese Musik nicht hören, aber alle Clowns sahen sie an. Sie sagte sich, daß in diesem Augenblick ihr Tod für niemand und nichts ein Verlust wäre, und für sie selbst mochte er auch nur den äußeren Abschluß eines inneren Absterbens bedeuten. So dachte sie, während die Clowns ihre Töne bis zur Decke steigerten, und saß scheinbar auf einem mit Sägemehl bestreuten Zirkusboden, und die Tränen tropften ihr auf die Finger. Es war ein Gefühl tiefer Sinnlosigkeit, das sie früher als Mädchen oft empfunden hatte, und sie dachte: »Ich bin wohl noch bis heute kindisch geblieben?« was sie aber nicht hinderte, gleichzeitig wie an etwas, das durch ihre Tränen maßlos groß aussah, daran zu denken, daß gleich in der ersten Stunde ihres Wiedersehens sie und ihr Bruder einander in solchen Clownskitteln gegenübergetreten seien. »Was bedeutet es, daß es gerade mein Bruder ist, an den sich das anschloß, was ich in mir habe?« fragte sie sich. Und plötzlich weinte sie wirklich. Sie hätte keinen anderen Grund dafür angeben können, daß es geschah, als daß es eben aus Herzenslust geschah, und schüttelte heftig den Kopf, so als ob etwas in ihm wäre, das sie weder auseinander-, noch zusammenzubringen vermöchte.

Dabei dachte sie in einer natürlichen Einfalt, Ulrich werde zu allen Fragen schon die Antwort finden, solange bis der Alte wieder eingetreten war und die Gerührte gerührt betrachtete. »Die junge gnädige Frau...!« sagte er gleichfalls kopfschüttelnd. Agathe sah ihn verwirrt an, aber als sie das Mißverständnis dieses Bedauerns begriff, das ihrer kindlichen Trauer galt, erwachte wieder der Übermut ihrer Jugend in ihr. »Wirf alles, was du hast, ins Feuer bis zu den Schuhen. Wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich nackt ins Feuer!« sagte sie zu ihm. Es war ein alter Spruch, den ihr Ulrich entzückt vorgelesen hatte, und der Alte lächelte zu dem ernsten und sanften Schwung dieser Worte, die sie ihm mit Augen vorsagte, die unter Tränen glühten, ein Stummellächeln des Verstehens und blickte, der weisenden Hand seiner Herrin, die sein Verständnis durch eine Irreführung erleichtern wollte, folgend, auf die hochgetürmten Kisten, die fast zu einem Scheiterhaufen aufgerichtet waren. Zum Leichentuch hatte der Greis verständig genickt, bereitwillig zu folgen, wenn ihn der Weg der Worte auch etwas ungeebnet dünkte; aber von dem Worte nackt an erstarrte er, als Agathe ihren Spruch noch einmal wiederholte, zu der höflichen Dienermaske, deren Ausdruck versichert, daß man weder sehen, noch hören, noch urteilen wolle.

Solange er bei seinem alten Herrn gedient hatte, war dieses Wort kein einziges Mal vor ihm ausgesprochen worden, höchstens hatte man entkleidet gesagt; aber die jungen Leute waren jetzt anders, und er würde sie wohl gar nicht mehr zur Zufriedenheit bedienen können. Mit der Ruhe des Feierabends fühlte er, daß seine Laufbahn zu Ende war. Agathes letzter Gedanke vor dem Aufbruch war aber: »Würde Ulrich wirklich alles ins Feuer werfen?«


 << zurück weiter >>