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5

Sie tun Unrecht

 

»Erinnerst du dich,« fragte ihn Agathe nach einer Weile »wie du einmal, als ich noch recht klein war, beim Spielen mit anderen Buben bis an die Hüften ins Wasser gefallen warst und es hast verbergen wollen, und bist bei Tisch gesessen mit deiner trockenen Oberhälfte, aber am Klappern der Zähne ist die untere Hälfte entdeckt worden?«

Wenn Ulrich als Knabe aus dem Institut auf Ferien nach Hause gekommen – was für längere Zeit eigentlich nur jenes eine Mal geschehen war –, und als der kleine eingeschrumpfte Leichnam für die beiden noch ein fast allmächtiger Mann war, hatte es sich nicht selten ereignet, daß Ulrich eine Verfehlung nicht einbekennen wollte und sich sträubte sie zu bereuen, obgleich er sie nicht zu leugnen vermochte. Auf diese Weise hatte er sich auch damals ein tüchtiges Fieber geholt und mußte schleunigst zu Bett gebracht werden: »Und hast nur Suppe zu essen bekommen!« sagte nun Agathe.

»Richtig!« bestätigte ihr Bruder lächelnd. Die Erinnerung daran, daß er gestraft worden sei, etwas, das ihn gar nichts mehr anging, kam ihm in diesem Augenblick nicht anders vor, als sähe er seine kleinen Kinderschuhe am Boden stehn, die ihn auch nichts mehr angingen.

»Du hättest schon wegen deines Fiebers nichts als Suppe essen dürfen,« wiederholte Agathe »und trotzdem ist es dir auch noch strafweise verordnet worden!«

»Richtig!« bestätigte Ulrich noch einmal. »Aber das ist natürlich nicht aus Gehässigkeit geschehen, sondern in Erfüllung einer sogenannten Pflicht.« Er wußte nicht, wohinaus seine Schwester wollte. Er selbst sah noch die Kinderschuhe. Sah sie nicht; sah sie bloß, als würde er sie sehn. Fühlte ebenso die Beleidigungen, denen er entwachsen war. Dachte: »In diesem ›Nichtmehrangehn‹ drückt es sich irgendwie aus, daß man in keiner Zeit des Lebens ganz in sich selbst darin ist!«

»Aber du hättest ja ohnehin nichts als Suppe essen dürfen!!« wiederholte Agathe noch einmal und fügte hinzu: »Ich glaube, daß ich mein ganzes Leben lang Angst davor gehabt habe, daß ich vielleicht der einzige Mensch sei, der das nicht zu verstehen vermag!«

Können die Erinnerungen zweier Menschen, die von einer ihnen beiden bekannten Vergangenheit reden, nicht nur einander ergänzen, sondern auch, ehe sie noch ausgesprochen sind, schon verschmelzen? In diesem Augenblick geschah etwas Ähnliches! Ein gemeinsamer Zustand überraschte, ja verwirrte die Geschwister wie Hände, die unter Mänteln an Stellen hervorkommen, wo man sie nie erwartete, und einander unvermutet anfassen. Jeder wußte plötzlich von der Vergangenheit mehr, als er zu wissen vermeint hatte, und Ulrich fühlte wieder das Fieberlicht, das einstmals vom Boden die Wände hinangekrochen war, ähnlich wie es in diesem Zimmer, wo sie jetzt standen, das Gleißen der Kerzen tat; dann war der Vater gekommen, hatte den Lichtkegel der Tischlampe durchwatet und sich an sein Bett gesetzt. »War dein Bewußtsein von der Tragweite der Tat wesentlich beeinträchtigt, so dürfte sie wohl in milderem Lichte erscheinen, aber dann hast du dir das vorher einzugestehen!« Vielleicht waren das Worte aus dem Testament oder den Briefen über den § 318, die sich seinem Gedächtnis unterschoben. Er besaß sonst weder Gedächtnis für Einzelheiten, noch für Wortlaut; es hatte darum etwas ganz Ungewöhnliches an sich, daß plötzlich ganze Satzgruppen in seiner Erinnerung vor ihm standen, und es verband sich mit seiner Schwester, die vor ihm stand, als sei es ihre Nähe, die diese Veränderung in ihm hervorrufe. »Hast du die Kraft besessen, unabhängig von jeder dich zwingenden Notwendigkeit dich aus dir selbst für eine Schlechtigkeit zu bestimmen, so mußt du auch einsehen, daß du schuldhaft gehandelt hast!« fuhr er fort und behauptete: »Er muß auch zu dir so gesprochen haben!«

»Vielleicht nicht ganz so« änderte es Agathe ab. »Mir hat er gewöhnlich ›in meiner inneren Anlage bedingte Entschuldigungen‹ zugebilligt. Er hat mir immer vorgehalten, daß ein Wollen ein mit dem Denken verknüpftes, kein instinktmäßiges Handeln sei.«

»Es ist der Wille,« zitierte Ulrich »der sich bei fortschreitender Verstandes- und Vernunftentwicklung das Begehren, beziehungsweise den Trieb, in Gestalt der Überlegung und des darauffolgenden Entschlusses unterwerfen muß!«

»Ist das wahr?« fragte seine Schwester.

»Warum fragst du?«

»Wahrscheinlich weil ich dumm bin.«

»Du bist nicht dumm!«

»Ich habe immer schwer gelernt und nie recht verstanden.«

»Das beweist wenig.«

»Dann bin ich eben wahrscheinlich schlecht, weil ich das, was ich verstehe, nicht in mich aufnehme.«

Sie standen an die Pfosten der Türe gelehnt, die ins Nebenzimmer führte und bei Professor Schwungs Abgang offen geblieben war, einander nahe gegenüber; Tages- und Kerzenlicht spielte auf ihren Gesichtern, und ihre Stimmen verschränkten sich in einander wie bei einem Responsorium. Ulrich betete weiter seine Sätze vor, und Agathes Lippen folgten gelassen. Die alte Qual der Ermahnungen, die darin bestand, daß in das zarte, verständnislose Gehirn der Kindheit eine harte und ihm fremde Ordnung gepreßt wurde, bereitete ihnen Vergnügen, und sie spielten damit.

Und mit einemmal rief, ohne durch das Vorangegangene unmittelbar dazu aufgefordert zu sein, Agathe aus: »Denk dir das nun einfach auf alles ausgedehnt, so ist es Gottlieb Hagauer!« Und sie begann ihren Mann wie ein Schulkind nachzuäffen: »Weißt du wirklich nicht, daß das Lamium album die weiße Taubnessel ist?« »Und wie sollten wir anders vorwärts kommen, wenn nicht den gleichen mühevollen Gang der Induktion, der das Menschengeschlecht in vieltausendjähriger, mühevoller Arbeit, voll von Irrtümern, schrittweise zum heutigen Stande der Erkenntnis gebracht hat, an der Hand eines treuen Führers zurücklegend?!« »Kannst du denn nicht einsehen, liebe Agathe, daß das Denken auch eine moralische Aufgabe ist? Sich konzentrieren bedeutet eine stete Überwindung der eigenen Bequemlichkeit.« »Und geistige Zucht bedeutet jene Disziplinierung des Geistes, vermöge welcher der Mensch immer mehr in den Stand gesetzt wird, längere Gedankenreihen unter beständigem Zweifel gegen die eigenen Einfälle vernunftgemäß, das heißt durch einwandfreie Syllogismen, durch Schlußketten und Kettenschlüsse, durch Induktionen oder Schlüsse aus dem Zeichen, durchzuarbeiten und das schließlich gewonnene Urteil so lange der Verifikation zu unterziehn, bis alle Gedanken aneinander angepaßt sind!« – Ulrich staunte über diese Gedächtnisleistung seiner Schwester. Es schien Agathe unbändiges Vergnügen zu bereiten, diese Schulmeistersätze, die sie sich, Gott weiß wo, vielleicht aus einem Buch, angeeignet haben mochte, von sich zu geben und tadellos aufzusagen. Sie behauptete, so spräche Hagauer.

Ulrich glaubte es nicht. »Wie könntest du dir solche langen, verwickelten Sätze denn bloß aus Gesprächen gemerkt haben!?«

»Sie haben sich mir eingeprägt« erwiderte Agathe. »Ich bin so.«

»Weißt du denn überhaupt,« fragte Ulrich erstaunt »was ein Schluß aus dem Zeichen oder eine Verifikation ist?«

»Keine Ahnung!« räumte Agathe lachend ein. »Vielleicht hat er es auch bloß irgendwo gelesen. Aber er spricht so. Und ich habe es nach seinem Mund auswendig gelernt wie eine Reihe sinnloser Worte. Ich glaube, aus Zorn, eben weil er so redet. Du bist anders als ich: in mir bleiben die Dinge liegen, weil ich nichts mit ihnen anzufangen weiß, – das ist mein gutes Gedächtnis. Ich habe, weil ich dumm bin, ein schrecklich gutes Gedächtnis!« Sie tat, als läge darin eine traurige Wahrheit, die sie abschütteln müsse, um in ihrem Übermut fortzufahren: »Das geht bei Hagauer ja selbst beim Tennis so vor sich: ›Wenn ich beim Erlernen des Tennisspiels zum erstenmal meinem Schläger absichtlich eine bestimmte Stellung gebe, um dem Ball, von dessen Flug ich bis dahin befriedigt war, nunmehr eine bestimmte Richtung zu verleihen, greife ich in den Verlauf der Erscheinung ein: ich experimentiere!‹«

»Spielt er gut Tennis?«

»Ich schlage ihn sechs zu null.«

Sie lachten.

»Weißt du,« sagte Ulrich »daß Hagauer mit alledem, was du ihn sagen läßt, der Sache nach ganz recht hat?! Es ist nur komisch.«

»Das kann schon sein, daß er recht hat,« erwiderte Agathe »ich verstehe es ja nicht. Aber einmal, weißt du, hat ein Bub aus seiner Schule eine Stelle aus Shakespeare wörtlich so übersetzt:

›Feige sterben oftmal vor ihrem Tod;
Die Tapfern kosten niemals vom Tode außer einmal.
Von all den Wundern, die ich noch habe gehört,
Es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten fürchten,
Sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende,
Wird kommen, wann er will kommen.‹
Und er verbesserte das, ich habe das Heft selbst gesehn:
›Der Feige stirbt schon vielmal, eh' er stirbt!
Die Tapfern kosten einmal nur den Tod.
Von allen Wundern, die ich je gehört,
Scheint mir das größte . . .‹

Und so weiter nach der Ratsche der Schlegel-Übersetzung!

Und noch so eine Stelle weiß ich! Im Pindar, glaube ich, heißt es: ›Das Gesetz der Natur, der König aller Sterblichen und Unsterblichen, herrscht, das Gewaltsamste billigend, mit allmächtiger Hand!‹ Und er gab dem die ›letzte Feile‹: ›Das Gesetz der Natur, das über alle Sterblichen und Unsterblichen herrscht, waltet mit allmächtiger Hand, auch das Gewaltsame billigend.‹«

»Und es war doch schön,« – fragte sie – »daß der Kleine in seiner Schule, mit dem er nicht zufrieden war, die Worte so wörtlich und schaurig übersetzt hat, wie er sie da liegen fand wie einen Haufen auseinandergefallener Steine?« Und sie wiederholte: »Feige sterben oftmal vor ihrem Tod – Die Tapferen niemals kosten vom Tode außer einmal – Von all den Wundern, die ich noch habe gehört – es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten fürchten – sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende – wird kommen, wann er will kommen . . .!!!«

Sie hatte die Hand um den Türpfosten geschlungen wie um den Stamm eines Baums und rief diese rohbehauenen Verse so wild und schön heraus, wie sie waren, ohne sich davon stören zu lassen, daß ein eingeschrumpfter Unglücklicher unter dem Blick ihrer, den Stolz der Jugend wiederspiegelnden Augen lag.

Ulrich starrte mit gerunzelter Stirn seine Schwester an. »Ein Mensch, der ein altes Gedicht nicht glättet, sondern in seiner Verwitterung halb zerstörten Sinnes beläßt, ist der gleiche wie jener, der einer alten Statue, der die Nase fehlt, niemals eine aus neuem Marmor aufsetzen wird« dachte er. »Das könnte man Stilgefühl nennen, aber das ist es nicht. Und auch der Mensch ist es nicht, dessen Einbildung so lebhaft ist, daß ihn das Fehlende nicht stört. Sondern es ist eher der Mensch, der auf Vollständigkeit überhaupt keinen Wert legt und darum auch von seinen Empfindungen nicht verlangen wird, daß sie ›ganz‹ seien. Sie wird geküßt haben,« schloß er daraus mit einer plötzlichen Wendung »ohne gleich am ganzen Leib einzustürzen!« Es schien ihm in diesem Augenblick, daß er von seiner Schwester nichts zu kennen brauchte als diese leidenschaftlichen Verse, um zu wissen, daß sie nie »ganz in etwas darin«, daß auch sie ein Mensch des »leidenschaftlichen Stückwerks« sei so wie er. Er vergaß darüber sogar die andere, nach Maß und Beherrschung verlangende Hälfte seines Wesens. Er hätte seiner Schwester jetzt mit Sicherheit sagen können, daß keine ihrer Handlungen zu ihrer nächsten Umgebung passe, sondern alle von einer höchst fragwürdigen weitesten Umgebung abhängig seien, ja geradezu von einer, die nirgends anfängt und nirgends begrenzt ist, und die widerspruchsvollen Eindrücke des ersten Abends würden damit eine günstige Erklärung gefunden haben. Aber die Zurückhaltung, an die er sich gewöhnt hatte, war doch noch stärker, und er wartete neugierig, ja sogar nicht ohne Zweifel ab, wie Agathe von dem hohen Ast herunterkommen werde, auf den sie sich begeben hatte. Noch stand sie ja, den Arm am Türpfosten hochgehoben, da, und ein kleiner Augenblick zuviel mochte schon den ganzen Vorgang verderben. Er verabscheute die Frauen, die sich so betragen, als ob sie von einem Maler oder Regisseur in die Welt gesetzt worden wären, oder die nach einer Erregung wie der Agathes in ein kunstvolles Piano ausklingen. »Vielleicht könnte sie sich« überlegte er »von ihrem Gipfel der Begeisterung plötzlich mit dem etwas blöden, nachtwandlerischen Ausdruck herabgleiten lassen, wie ihn ein aufgewachtes Medium hat; es wird ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, und auch das wird etwas peinlich sein!« Aber Agathe schien das selbst zu wissen oder hatte in dem Blick ihres Bruders die auf sie lauernde Gefahr erraten: sie sprang lustig aus ihrer Höhe hinab auf beide Füße und streckte Ulrich die Zunge heraus!

Dann aber wurde sie ernst und schweigsam, sagte kein Wort mehr und ging die Orden holen. So machten sich die Geschwister also daran, dem letzten Willen ihres Vaters entgegen zu handeln.

Agathe führte es aus. An Ulrich zeigte sich eine Scheu, den hilflos daliegenden Alten zu berühren, aber Agathe hatte eine Art, Unrecht zu tun, die den Gedanken an Unrecht nicht aufkommen ließ. Die Bewegungen ihres Blicks und ihrer Hände ähnelten dabei denen einer Frau, die einen Kranken versorgt, und zuweilen hatten sie auch das urwüchsige Rührende junger Tiere, die in ihrem Spiel einhalten, um sich zu vergewissern, ob ihnen der Herr zusehe. Dieser nahm die abgelösten Orden in Empfang und reichte die Ersatzstücke. Er fühlte sich an den Dieb erinnert, dem das Herz aus der Brust springt. Und wenn er dabei den Eindruck hatte, daß die Sterne und Kreuze in der Hand seiner Schwester lebhafter leuchteten als in der seinen, ja geradeswegs zu Zauberdingen würden, so konnte das in dem schwarzgrünen, von vielen Reflexen großer Blattpflanzen erfüllten Zimmer wirklich so sein, es mochte aber auch davon herrühren, daß er den zögernd führenden Willen seiner Schwester spürte, der den seinen jugendlich ergriff; und da keine Absicht darin zu erkennen war, entstand in diesen Augenblicken einer mit nichts vermischten Berührung wieder ein beinahe ausdehnungsloses und darum ganz unbeschaffen starkes Gefühl von ihrer beider Dasein.

Da unterbrach sich Agathe und war fertig. Nur irgend etwas war noch nicht geschehen, und nach einer kleinen Weile des Nachdenkens sagte sie lächelnd: »Wollen wir nicht jeder etwas Schönes auf einen Zettel schreiben und ihm das in die Tasche stecken?« Diesmal wußte Ulrich gleich, was sie meinte, denn solcher gemeinsamen Erinnerungen gab es nicht viele, und es fiel ihm ein, wie sie in einem bestimmten Alter eine große Vorliebe für traurige Verse und Geschichten besessen hatten, in denen jemand starb und von allen vergessen wurde. Es war vielleicht die Verlassenheit ihrer Kindheit, die das bewirkte, und oft dachten sie sich auch gemeinsam eine Geschichte aus; Agathe aber neigte schon damals dazu, solche Geschichten auch auszuführen, während Ulrich bloß in den männlicheren Unternehmungen führte, die verwegen und herzlos waren. Darum ging der Beschluß, den sie einmal faßten, daß sich jeder einen Fingernagel abschneiden solle, um ihn im Garten zu begraben, von Agathe aus, und sie tat auch noch von ihrem blonden Haar ein kleines Bündel zu den Nägeln. Ulrich erklärte stolz, daß in hundert Jahren vielleicht jemand daraufstoßen und sich verwundert fragen werde, wer das wohl gewesen sein möge, und er war dabei von der Absicht beeinflußt, auf die Nachwelt zu kommen; der kleinen Agathe dagegen kam es mehr auf das Vergraben als solches an, sie hatte das Gefühl, einen Teil von sich zu verstecken und dauernd der Aufsicht einer Welt zu entziehen, von deren pädagogischen Forderungen sie sich eingeschüchtert fühlte, ohne viel von ihnen zu halten. Und weil damals gerade das kleine Wohnhaus für die Dienstleute am Rand des Gartens erbaut wurde, verabredeten sie, etwas Ungewöhnliches zu tun. Sie wollten wundervolle Verse auf zwei Zettel schreiben und hinzusetzen, wer sie seien, und das sollte in das Haus eingemauert werden: aber als sie die Verse zu schreiben begannen, die so besonders schön sein sollten, fielen ihnen keine ein, einen Tag um den andern, und die Mauern wuchsen schon aus der Baugrube hinaus. Da schrieb Agathe schließlich, als die Stunde drängte, einen Satz aus dem Rechenbuch hin, und Ulrich schrieb: »Ich bin –«, und dann folgte sein Name. Trotzdem bekamen sie furchtbares Herzklopfen, als sie sich im Garten an die zwei Maurer heranschlichen, die dort bauten, und Agathe warf einfach ihren Zettel in die Grube, worin sie standen, und lief davon. Aber Ulrich, der sich als der Größere und als Mann natürlich noch mehr davor fürchtete, daß ihn die Maurer anhalten und erstaunt fragen könnten, was er wolle, vermochte vor Erregung überhaupt weder Arm noch Bein zu rühren, so daß Agathe, mutiger geworden, weil ihr nichts geschehen war, schließlich zurückkehrte und auch seinen Zettel an sich nahm. Sie ging jetzt als arglose Spaziergängerin damit vor, besichtigte am äußersten Ende einer soeben gelegten Reihe einen Ziegel, lüpfte ihn und hatte Ulrichs Namen schon in die Mauer geschoben, ehe sie einer wegweisen konnte, während ihr Ulrich selbst zögernd folgte und im Augenblick der Tat fühlte, wie sich die Beklemmung, die ihn schrecklich einzwängte, in ein Rad mit scharfen Messern verwandelte, die sich so rasch in seiner Brust drehten, daß im nächsten Augenblick eine spritzende Sonne daraus wurde, wie man sie beim Feuerwerk abbrennt. – Daran hatte Agathe also angeknüpft, und Ulrich gab die längste Weile keine Antwort und lächelte nur abwehrend, denn ein solches Spiel mit dem Toten zu wiederholen, kam ihm doch unerlaubt vor.

Da hatte sich Agathe aber schon gebückt und ein seidenes, breites Strumpfband, das sie zur Entlastung des Gürtels trug, vom Bein gestreift, hob die Prunkdecke und schob es dem Vater in die Tasche.

Ulrich? Er traute zuerst seinen Augen nicht bei dieser wieder ins Leben zurückgekehrten Erinnerung. Dann wäre er beinahe hinzu gesprungen und hätte es verhindert; einfach weil es so ganz gegen alle Ordnung war. Dann aber fing er in den Augen seiner Schwester einen Blitz von reiner Taufrische des frühen Morgens auf, in die noch keine Trübe des Tagwerks gefallen ist, und das hielt ihn zurück. »Was treibst du da?!« sagte er, leise abmahnend. Er wußte nicht, ob sie den Toten versöhnen wolle, weil ihm Unrecht geschehen sei, oder ob sie ihm etwas Gutes mitgeben wolle, weil er selbst so viel Unrecht getan habe: er hätte fragen können, aber die barbarische Vorstellung, dem frostigen Toten ein Strumpfband mitzugeben, das von dem Bein seiner Tochter warm war, schloß ihm von innen die Kehle und richtete in seinem Gehirn allerhand Unordnung an.


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