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13

Ulrich kehrt zurück und wird durch den General von allem unterrichtet, was er versäumt hat

 

Achtundvierzig Stunden später stand Ulrich in seiner verlassenen Wohnung. Es war früh am Vormittag. Die Wohnung war sorgfältig aufgeräumt, abgestaubt und blank; und genau so, wie er seine Bücher und Schriften bei seiner hastigen Abreise auf den Tischen liegen gelassen hatte, lagen sie, von dienender Hand erhalten, noch dort, aufgeschlagen oder von unverständlich gewordenen Lesezeichen durchpfeilt, dieses und jenes Papier sogar noch mit einem Bleistift zwischen den Seiten, den er aus der Hand gelegt hatte. Aber alles war ausgekühlt und erstarrt wie der Inhalt eines Schmelztiegels, unter dem man das Feuer zu nähren vergessen hat. Schmerzhaft ernüchtert und verständnislos bückte Ulrich auf den Abdruck einer vergangenen Stunde, Matrize heftiger Erregungen und Gedanken, von denen sie ausgefüllt worden. Er fühlte einen unsäglichen Widerwillen, mit diesen Resten seiner selbst in Berührung zu kommen. »Das erstreckt sich jetzt« dachte er »durch die Türen über das ganze Haus bis zu dem Blödsinn der Hirschgeweihe unten in der Halle. Welch ein Leben habe ich im letzten Jahr geführt!« Er schloß, so wie er stand, die Augen, um nichts sehen zu müssen. »Wie gut, daß sie mir bald nachkommen wird, wir werden hier alles anders machen!« dachte er. Und dann lockte es ihn doch, sich die letzten Stunden zu vergegenwärtigen, die er hier zugebracht hatte; es kam ihm vor, er sei unendlich lang weggewesen, und er wollte vergleichen. Clarisse: das war nichts. Aber vorher und nachher: die sonderbare Aufregung, in der er nach Hause geeilt war, und dann jenes übernächtige Zerschmelzen der Welt! »So, wie Eisen, wenn es unter einer ganz großen Kraft weich wird« überlegte er. »Es beginnt zu fließen und bleibt doch Eisen. Ein Mann dringt mit Kraft in die Welt ein,« schwebte ihm vor »aber plötzlich schließt sie sich um ihn, und alles sieht anders aus. Keine Zusammenhänge mehr. Kein Weg, den er gekommen ist und weitergehen muß. Ein schimmerndes Umschlossensein an der Stelle, wo er noch soeben ein Ziel oder eigentlich die nüchterne Leere sah, die vor jedem Ziel liegt.« Ulrich hielt noch immer die Augen geschlossen. Langsam, als Schatten, kehrte das Gefühl wieder. Das geschah so, als kehrte es auf den Platz zurück, wo er damals und auch jetzt stand, dieses Gefühl, das mehr im Raum außen war als im Bewußtsein innen; eigentlich war es überhaupt weder ein Gefühl noch ein Gedanke, sondern ein unheimlicher Vorgang. Wenn man so überreizt und einsam war, wie er damals, konnte man wohl glauben, es kehre sich das Wesen der Welt von innen heraus um; und plötzlich wurde ihm klar – unbegreiflich war bloß, daß es erst jetzt geschah – und lag wie ein ruhiger offener Rückblick da, daß ihm schon damals sein Gefühl die Begegnung mit seiner Schwester angekündigt hatte, denn von dem Augenblick an war sein Geist von wunderlichen Kräften gelenkt worden bis –: doch da wandte sich Ulrich, ehe er »gestern« zu denken vermochte, hastig und so handgreiflich geweckt von seinen Erinnerungen ab, als wäre er an eine Kante gestoßen; da gab es etwas, woran er noch nicht denken wollte!

Er trat an den Schreibtisch und musterte die dort liegende Post durch, ohne seine Reisekleidung abzulegen. Er war enttäuscht, als sich kein Telegramm seiner Schwester darunter befand, obgleich er keines zu erwarten hatte. Ein Berg von Beileidskundgebungen lag da vermengt mit wissenschaftlichen Mitteilungen und Buchhändleranzeigen. Zwei Briefe von Bonadea fanden sich vor, die sich so dick anfühlten, daß er sie gar nicht erst öffnete. Auch eine dringende Bitte des Grafen Leinsdorf, ihn zu besuchen, und zwei flötende Briefchen Diotimas waren dabei, die ihn ebenfalls einlud, daß er sich gleich nach seiner Rückkunft bei ihr zeige; aufmerksamer gelesen, enthielt das eine, das spätere, außeramtliche Nebentöne, die sehr freundschaftlich, wehmütig und fast ein wenig zärtlich waren. Ulrich wandte sich den telephonischen Anrufen zu, die während seiner Abwesenheit vermerkt worden waren: General von Stumm, Sektionschef Tuzzi, zweimal das Haussekretariat des Grafen Leinsdorf, mehrmals eine Dame, die ihren Namen nicht genannt hatte und wahrscheinlich Bonadea war, Bankdirektor Leo Fischel und sonst geschäftliche Mitteilungen. Während Ulrich das las und noch am Schreibtisch stand, klingelte der Apparat, und als Ulrich den Hörer aufnahm, meldete sich »Kriegsministerium, Bildungs- und Unterrichtsabteilung, Korporal Hirsch«, sehr betroffen davon, unerwartet auf Ulrichs eigene Stimme zu prallen, und eifrig versichernd, daß der Herr General Befehl gegeben habe, jeden Morgen um zehn Uhr anzurufen, und sofort selbst am Telefon sein werde.

Fünf Minuten später beteuerte Stumm, daß er noch am gleichen Vormittag »hervorragend wichtigen Konferenzen« beiwohnen und Ulrich unbedingt vorher sprechen müsse; auf die Frage, was es denn sei und warum es denn nicht am Fernsprecher erledigt werden könne, seufzte er in die Muschel und kündigte »Mitteilungen, Sorgen, Fragen« an, ohne daß aus ihm etwas Bestimmtes herauszubekommen war. Zwanzig Minuten später hielt aber ein Fiaker des Kriegsministeriums vor dem Tor, und General Stumm betrat das Haus, von einer Ordonnanz gefolgt, die eine große lederne Aktentasche an der Schulter hängen hatte. Ulrich, der dieses Behältnis der geistigen Sorgen des Generals recht wohl noch von den Aufmarschplänen und Grundbuchblättern der großen Gedanken kannte, runzelte fragend die Stirn. Stumm von Bordwehr lächelte, schickte die Ordonnanz zum Wagen zurück, öffnete den Rock, um den kleinen Schlüssel des Sicherheitsschlosses hervorzuholen, den er an einem Kettchen um den Hals trug, sagte kein Wort und hob aus der Tasche, die sonst nichts enthielt, zwei Laibe Kommißbrot ans Licht.

»Unser neues Brot,« erklärte er nach einer Kunstpause »ich habe es dir zum Kosten mitgebracht!«

»Das ist aber nett von dir,« meinte Ulrich »daß du mir nach einer durchreisten Nacht Brot bringst, statt mich schlafen zu lassen.«

»Wenn du Schnaps im Haus hast, was man wohl annehmen darf« setzte der General dagegen »so sind Brot und Schnaps das beste Frühstück nach einer durchgebrachten Nacht. Du hast mir einmal erzählt, daß unser Kommißbrot das einzige ist, was dir an des Kaisers Dienst gefallen hat, und ich möchte wohl behaupten, daß die österreichische Armee im Broterzeugen allen anderen Armeen voraus ist, besonders seit die Intendanz dieses neue Muster »1914« herausgebracht hat! Darum hab ich es hier, das ist der eine Grund. Und dann, mußt du wissen, mach ich es jetzt auch grundsätzlich so. Ich muß natürlich nicht den ganzen Tag auf meinem Sessel sitzen und über jeden Schritt Rechenschaft ablegen, den ich aus dem Zimmer tu, das versteht sich von selbst; aber du weißt, daß der Generalstab nicht umsonst das Jesuitenkorps heißt, und geflüstert wird immer, wenn einer viel außer Haus ist, und Exzellenz von Frost, mein Chef, hat schließlich vielleicht doch noch keine ganz zutreffende Vorstellung vom Umfang des Geistes – des zivilen Geistes, meine ich – und darum nehme ich eben seit einiger Zeit immer die Tasche und eine Ordonnanz mit, wenn ich ein wenig ausgehn will, und damit sich die Ordonnanz nicht denkt, daß die Tasche leer ist, tu ich jedesmal zwei Laib Brot hinein.«

Ulrich mußte lachen, und der General lachte vergnügt mit. »Du scheinst weniger Freude an den großen Gedanken der Menschheit zu haben als früher?« fragte Ulrich.

»Alle haben jetzt weniger Freude daran« erklärte ihm Stumm, während er mit seinem Taschenmesser das Brot anschnitt. »Es ist jetzt die Parole der Tat ausgegeben worden.«

»Du wirst mir das erklären müssen.«

»Darum bin ich ja da. Du bist nicht der richtige Tatmensch!«

»Nein?«

»Nein.«

»Ich weiß nicht!?«

»Ich weiß es vielleicht auch nicht. Aber man sagt es.«

»Wer ist ›man‹?«

»Arnheim zum Beispiel.«

»Du stehst gut mit Arnheim?«

»Na natürlich! Wir stehen hervorragend miteinander. Wenn er kein gar so großer Geist wäre, könnten wir wirklich schon Du zueinander sagen!«

»Hast du auch mit den Öllagern zu tun?«

Der General trank von dem Korn, den Ulrich hatte auftragen lassen, und kaute Brot nach, um Zeit zu gewinnen. »Ausgezeichnet schmeckt das« brachte er mühsam hervor und kaute weiter.

»Natürlich hast du mit den Öllagern zu tun!« stellte Ulrich in plötzlicher Erleuchtung fest. »Das ist doch eine Frage, die eure Marinesektion angeht wegen der Schiffsfeuerung, und wenn Arnheim die Bohrfelder erwerben will, muß er euch das Zugeständnis machen, euch billig zu liefern. Andererseits ist Galizien Aufmarschgebiet und Glacis gegen Rußland, also müßt ihr vorkehren, daß die Ölförderung, die er dort in Schwung bringen will, im Kriegsfall besonders geschützt wird. Also wird euch wieder seine Panzer-Blechfabrik bei den Kanonen entgegenkommen, die ihr haben wollt: Daß ich das nicht vorhergesehen habe! Ihr seid doch geradezu für einander geboren!«

Der General hatte vorsichtshalber noch ein zweites Stück Brot gekaut; jetzt konnte er sich aber nicht mehr zurückhalten und sagte unter gewaltigen Anstrengungen, den vollen Inhalt seines Mundes hinunterzuwürgen: »Entgegenkommen kannst du leicht sagen; du hast keine Ahnung, was das für ein Geizhals ist! Ich bitte um Verzeihung,« verbesserte er seinen Ausdruck »mit welcher sittlichen Würde der so ein Geschäft behandelt! Ich habe keine Ahnung gehabt, daß zum Beispiel zehn Heller pro Tonne-Eisenbahnkilometer eine Gesinnungsfrage sind, wegen der man im Goethe oder in einer Philosophiegeschichte nachlesen muß!«

»Du führst diese Verhandlungen?«

Der General trank einen Korn nach. »Ich habe überhaupt nicht gesagt, daß Verhandlungen geführt werden! Gedankenaustausch kannst du es meinethalben nennen.«

»Und damit bist du beauftragt?«

»Niemand ist beauftragt! Man spricht einfach. Man kann doch hie und da auch von etwas anderem als der Parallelaktion sprechen. Und wenn jemand beauftragt wäre, so gewiß nicht ich. Das ist doch keine Angelegenheit für die Unterrichts- und Bildungsabteilung. So etwas geht die Präsidialkanzlei an und höchstens noch die Intendanz. Wenn ich überhaupt dabei bin, so wäre ich es nur als eine Art Fachbeirat für zivile Geistesfragen, sozusagen als Dolmetsch, weil der Arnheim so gebildet ist.«

»Und weil du durch mich und Diotima fortwährend mit ihm zusammenkommst! Lieber Stumm, wenn du willst, daß ich dir weiter den Elefanten machen soll, mußt du mir die Wahrheit sagen!«

Aber darauf hatte sich Stumm inzwischen vorbereitet. »Was fragst du denn, wenn du sie ohnehin weißt!« erwiderte er entrüstet. »Glaubst du, du darfst mich pflanzen, und ich weiß nicht, daß dich der Arnheim ins Vertrauen zieht?!«

»Ich weiß gar nichts!«

»Aber du hast doch gerade erzählt, daß du's weißt!«

»Das von den Ölfeldern weiß ich.«

»Und dann hast du gesagt, daß wir gemeinsame Interessen mit dem Arnheim an diesen Ölfeldern hätten. Gib mir dein Ehrenwort, daß du das weißt, und dann kann ich dir alles sagen.« Stumm von Bordwehr erfaßte Ulrichs zögernde Hand, blickte ihm ins Auge und sagte pfiffig: »Also, da du mir jetzt dein Ehrenwort gibst, daß du alles schon gewußt hast, geb ich dir das meine darauf, daß du alles weißt! Stimmt's? Mehr gibt's nicht. Der Arnheim möchte uns vorspannen, und wir ihn. Weißt du, ich hab ja manchmal die kompliziertesten Seelenkonflikte wegen Diotima!« rief er aus. »Aber du darfst nichts davon weitersagen, das ist ein militärisches Geheimnis!« Der General wurde vergnügt. »Weißt du überhaupt, was ein militärisches Geheimnis ist?« fuhr er fort. »Wie vor ein paar Jahren die Mobilisierung in Bosnien war, da haben sie mich im Kriegsministerium absägen wollen, ich war damals noch Oberst, und haben mich zum Kommandanten von einem Landsturmbataillon gemacht; eine Brigade hätte ich natürlich auch führen können, aber weil ich angeblich Kavallerist bin und weil sie mich eben absägen wollten, haben sie mich zu einem Bataillon geschickt. Und weil zum Kriegführen Geld gehört, hat man mir, als ich unten angekommen bin, auch eine Bataillonskasse gegeben. Hast du in deiner Militärzeit einmal so etwas gesehn? Er sieht halb wie ein Sarg und halb wie eine Futterkiste aus, ist aus dickem Holz gemacht und rundherum mit Eisenbändern beschlagen wie ein Burgtor. Daran sind drei Schlösser, und die Schlüssel dazu tragen drei Männer bei sich, jeder einen, damit keiner allein aufsperren kann: der Kommandant und die beiden Kassa-Mitsperrer. Also haben wir uns wie zu einem Gebet versammelt, als ich unten angekommen war, und haben einer nach dem andern ein Schloß geöffnet und die Banknotenpakete ehrfürchtig herausgehoben, und ich bin mir vorgekommen wie ein Erzpriester, dem zweie ministrieren, nur daß statt aus dem Evangelium aus ärarischen Protokollen die Ziffern vorgelesen worden sind. Wie wir aber damit fertig waren, haben wir die Kiste wieder zugemacht, die Eisenbänder darumgelegt, die Schlösser zugesperrt, alles in umgekehrter Reihenfolge wie zu Beginn, ich habe irgendetwas sagen müssen, woran ich mich nicht mehr erinnern kann, und dann war die Feier zu Ende –: Hab ich mir gedacht, und hättest du dir auch gedacht, und hab großen Respekt gehabt vor der unerschütterlichen Vorsicht der Militärverwaltung in Kriegszeiten! Aber ich hab damals ein Foxl gehabt, den Vorgänger von meinem jetzigen, das war ein sehr kluges Vieh, und es bestand auch keine Vorschrift, daß er nicht hätte dabeisein dürfen; nur daß er kein Loch hat sehen können, ohne gleich wie wild zu graben. Als ich gehn will, bemerk ich also, daß sich der Spot, so hat er geheißen, er war ein Engländer, an der Kiste zu schaffen macht, und war nicht wegzukriegen. Also man hat schon oft gehört, daß durch treue Hunde die geheimsten Verschwörungen aufgedeckt worden sind, und Krieg war beinahe auch, denk ich mir also, schaust du doch nach, was der Spot hat, – und was glaubst du, hat der Spot gehabt? Weißt du, für die Landsturmbataillone gibt die Intendanz ja nicht gerade die neuesten Sachen her, und so war auch unsere Bataillonskasse alt und ehrwürdig, aber das hätt' ich doch nie gedacht, daß sie hinten, während wir vorn zu dreien zusperren, nahe am Boden ein Loch hat, daß man den Arm durchstecken kann! Da war ein Astknorren im Holz, und der war in einem der früheren Kriege herausgefallen. Aber was willst du machen; der ganze bosnische Alarm war gerade vorbei, als der angeforderte Ersatz gekommen ist, und bis dahin haben wir in jeder Woche unsere Feierlichkeit abhalten dürfen, und bloß den Spot hab ich zuhaus lassen müssen, damit er keinem das Geheimnis verrät. Also siehst du, so schaut halt ein militärisches Geheimnis unter Umständen aus!«

»Na, ich denke, ganz so offen wie deine Truhe bist du noch immer nicht« gab Ulrich zur Antwort. »Werdet ihr nun das Geschäft wirklich machen oder nicht?«

»Ich weiß es nicht. Ich gebe dir mein großes Generalstabsehrenwort: es ist noch nicht so weit.«

»Und Leinsdorf?«

»Der hat natürlich keine Ahnung. Er ist auch nicht für Arnheim zu gewinnen. Ich habe gehört, daß er sich furchtbar über die Demonstration ärgern soll, die du ja noch mitgemacht hast; er ist jetzt ganz gegen die Deutschen.«

»Tuzzi?« fragte Ulrich, das Verhör fortsetzend.

»Der ist der letzte, der etwas erfahren darf! Der würde den Plan sofort verderben. Wir wollen natürlich alle den Frieden, aber wir Militärs haben eine andere Art, ihm zu dienen, als die Bürokraten!«

»Und Diotima?«

»Aber ich bitt' dich! Das ist doch ganz und gar eine Männerangelegenheit, an so etwas kann sie nicht einmal mit Handschuhen denken! Ich bring es nicht über mich, sie mit der Wahrheit zu belästigen. Ich versteh auch, daß ihr der Arnheim nichts davon erzählt. Weißt du, er redet doch sehr viel und schön, da kann es schon ein Genuß sein, einmal über etwas zu schweigen. So wie einen stillen Magenbitter stell ich mir das vor!«

»Weißt du, daß du ein Schuft geworden bist?! Auf dein Wohl!« Ulrich trank ihm zu.

»Nein, kein Schuft« verteidigte sich der General. »Ich bin Mitglied einer ministeriellen Konferenz. Bei einer Konferenz bringt jeder vor, was er haben möchte und für das Richtige hält, und zum Schluß ergibt sich etwas daraus, das keiner ganz gewollt hat: eben das Ergebnis. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, ich kann es nicht besser ausdrücken.«

»Natürlich versteh ich dich. Aber gegen Diotima benehmt ihr euch trotzdem gemein.«

»Das täte mir leid« sagte Stumm. »Aber weißt du, ein Henker ist ein unehrlicher Kerl, darüber ist nicht zu streiten; dagegen der Seilfabrikant, der bloß der Gefängnisverwaltung die Stricke liefert, kann Mitglied der Ethischen Gesellschaft sein. Das berücksichtigst du nicht genug.«

»Das hast du von Arnheim!«

»Kann sein. Ich weiß nicht. Man bekommt heutzutage einen so komplizierten Geist« beklagte sich der General ehrlich.

»Und was soll ich dabei tun?«

»Na, schau, ich hab mir gedacht, du bist doch ehemaliger Offizier –«

»Schon gut. Aber wie hängt das mit ›Tatmensch‹ zusammen?« fragte Ulrich beleidigt.

»Tatmensch?« wiederholte der General erstaunt.

»Du hast das alles doch damit eingeleitet, daß ich kein Tatmensch sei!?«

»Ach, so. Das hat damit natürlich gar nichts zu tun. Damit hab ich nur begonnen. Ich meine, der Arnheim hält dich nicht gerade für einen Tatmenschen; das hat er einmal gesagt. Du hast nichts zu tun, meint er, und das bringt dich auf Gedanken. Oder so ähnlich.«

»Das heißt, auf unnütze? Auf Gedanken, die sich nicht ›in Machtsphären tragen‹ lassen? Auf Gedanken um ihrer selbst willen? Mit einem Wort, aufrichtige und unabhängige! Was? Oder vielleicht auf die Gedanken eines ›weltfernen Ästheten‹?«

»Ja« versicherte Stumm von Bordwehr diplomatisch. »So ähnlich.«

»Wem ähnlich? Was, glaubst du, ist dem Geist gefährlicher: Träume oder Ölfelder? Du brauchst dir nicht den Mund mit Brot zu verstopfen, laß das sein! Mir ist es ganz egal, was Arnheim von mir denkt. Aber du hast anfangs gesagt: ›zum Beispiel Arnheim‹; wer ist also noch da, für den ich nicht genug Tatmensch bin?«

»Na, weißt du,« versicherte Stumm »das sind nicht wenige. Ich habe dir ja erzählt, daß jetzt die Parole der Tat ausgegeben ist.«

»Was heißt das?«

»Das weiß ich auch nicht genau. Der Leinsdorf hat gesagt, es muß jetzt etwas geschehn!: damit hat es angefangen.«

»Und Diotima?«

»Diotima sagt, das ist ein neuer Geist. Und das sagen jetzt viele am Konzil. Ich möchte wissen, ob du das auch kennst: es wird einem geradewegs schwindlig im Bauch, wenn eine schöne Frau ein so bedeutender Kopf ist!?«

»Das glaub ich gern,« gab Ulrich zu, der sich Stumm nicht entwischen ließ »aber ich möchte nun hören, was Diotima von dem neuen Geist sagt.«

»Halt die Leute sagen« gab Stumm zur Antwort. »Die Leute am Konzil sagen, die Zeit bekommt einen neuen Geist. Nicht gleich, aber in ein paar Jahren; falls nicht früher etwas Besonderes geschieht. Und dieser Geist soll nicht viel Gedanken enthalten. Auch Gefühle sind jetzt nicht an der Zeit. Gedanken und Gefühle, das ist mehr für Leute, die nichts zu tun haben. Mit einem Wort, es ist halt ein Geist der Tat, mehr weiß ich auch nicht. Aber zuweilen« fügte der General nachdenklich hinzu »habe ich mir schon gedacht, ob das nicht am Ende ganz einfach der militärische Geist ist?!«

»Eine Tat muß einen Sinn haben!« forderte Ulrich, und als tiefer Ernst, weit hinter diesem narrenhaft gescheckten Gespräch, erinnerte ihn sein Gewissen an die erste Unterhaltung, die er mit Agathe darüber auf der Schwedenschanze gehabt hatte.

Aber auch der General sagte: »Das habe ich doch gerade ausgesprochen. Wenn man nichts zu tun hat und nicht weiß, was man mit sich anfangen soll, ist man tatkräftig. Dann brüllt man herum, säuft, schlägt sich und schikaniert Roß und Mann. Aber andrerseits wirst du zugeben: wenn man durchaus weiß, was man will, wird man ein Schleicher. Schau dir so einen jungen Generalstäbler an, wenn er die Lippen schweigsam aufeinander preßt und ein Gesicht macht wie der Moltke: zehn Jahre später hat er unter den Knöpfen einen Feldherrnhügel, aber keinen so wohlwollenden wie ich, sondern einen Giftbauch. Wieviel Sinn eine Tat haben darf, ist also schwer zu bestimmen.« Er überlegte und fügte hinzu: »Wenn man es richtig anpackt, kann man beim Militär überhaupt viel lernen, das wird jetzt immer mehr meine Überzeugung; aber meinst du nicht, daß es halt sozusagen das einfachste wäre, wenn doch noch die große Idee gefunden würde?«

»Nein« widersprach Ulrich. »Das war Unsinn.«

»Nun ja, aber dann bleibt wirklich nur die Tat« seufzte Stumm. »Das erkläre ich ja schon beinahe selbst. Erinnerst du dich übrigens, wie ich einmal davor gewarnt habe, daß alle diese übermäßigen Gedanken ja doch nur in Totschlag übergehn? Das müßte man eben verhindern!« stellte er fest. »Da müßte eben doch einer die Führung übernehmen!« lockte er.

»Und welche Aufgabe hat deine Güte dabei mir zugedacht?« fragte nun Ulrich und gähnte unverhohlen.

»Ich geh schon« versicherte Stumm. »Aber nachdem wir uns so gut ausgesprochen haben, hättest du, wenn du ein treuer Kamerad sein wolltest, noch eine wichtige Aufgabe: Zwischen Diotima und Arnheim ist einiges nicht in Ordnung!«

»Was du sagst!« Der Hausherr belebte sich ein wenig.

»Du wirst schon selbst sehen, da brauche ich dir nichts zu erzählen! Zudem vertraut sie dir ja noch mehr als mir.«

»Dir vertraut sie? Seit wann?«

»Sie hat sich etwas an mich gewöhnt« sagte der General stolz.

»Da gratuliere ich.«

»Ja. Aber dann mußt du auch bald zum Leinsdorf gehn. Wegen seiner Abneigung gegen die Preußen.«

»Das tu ich nicht.«

»Aber schau, ich weiß ja, daß du den Arnheim nicht magst. Aber tun mußt du's trotzdem.«

»Nicht deshalb. Ich geh überhaupt nicht zum Leinsdorf.«

»Warum denn nicht? Er ist so ein feiner alter Herr. Arrogant, und ich kann ihn nicht ausstehn, aber zu dir ist er großartig.«

»Ich zieh mich von der ganzen Geschichte jetzt zurück.«

»Aber der Leinsdorf läßt dich ja nicht. Und Diotima auch nicht. Und ich schon gar nicht! Du wirst mich doch nicht allein lassen?!«

»Mir ist die ganze Geschichte zu dumm.«

»Da hast du ja, wie immer, hervorragend recht. Aber was ist denn nicht dumm?! Schau, ich bin ganz dumm; ohne dich. Also du gehst mir zu Liebe zum Leinsdorf?«

»Aber was ist mit Diotima und Arnheim?«

»Das sag ich dir nicht, sonst gehst du auch zu Diotima nicht!« Der General wurde plötzlich von einem Einfall erleuchtet: »Wenn du willst, kann dir ja der Leinsdorf einen Hilfssekretär aufnehmen, der dich in allem vertritt, was du nicht magst. Oder ich stell dir einen aus dem Kriegsministerium bei. Du ziehst dich soweit zurück, wie du nur willst, aber deine Hand bleibt über mir walten?!«

»Laß mich erst ausschlafen« bat Ulrich.

»Ich gehe nicht früher weg, als du nicht ja sagst.«

»Also, ich werde es überschlafen« gestand Ulrich zu. »Vergiß nicht das Brot der Militärwissenschaft wieder in deine Tasche zu tun!«


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