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Ein Brief von Clarisse trifft ein

 

Ulrich hatte keinem seiner Bekannten seine Adresse hinterlassen, aber Clarisse wußte sie von Walter, dem sie so vertraut war wie seine eigene Kinderzeit.

Sie schrieb:

»Mein Lieb ling – mein Feig ling – mein Ling!

Weißt du, was ein Ling ist? Ich kann es nicht herausbekommen. Walter ist vielleicht ein Schwäch ling. (Die Silbe »ling« war überall dick unterstrichen.)

Glaubst du, daß ich betrunken zu dir gekommen bin?! Ich kann mich nicht betrinken! (Männer betrinken sich eher als ich. Eine Merkwürdigkeit.)

Aber ich weiß nicht, was ich zu dir gesprochen habe; ich kann mich nicht erinnern. Ich fürchte, daß du dir einbildest, ich habe Dinge gesagt, die ich nicht gesagt habe. Ich habe sie nicht gesagt.

Aber das soll ein Brief werden – gleich! Vorher: du kennst, wie sich die Träume öffnen. Du weißt, wenn du träumst, manchmal: da warst du schon, mit dem Menschen hast du schon einmal gesprochen oder – – Es ist, als ob du dein Gedächtnis wiederfändest.

Ich habe im Wachen, daß ich gewacht habe!

(Ich habe Schlaffreunde.)

Weißt du überhaupt noch, wer Moosbrugger ist? Ich muß dir etwas erzählen:

Auf einmal war sein Name wieder da.

Die drei musikalischen Silben.

Aber Musik ist Schwindel. Ich meine, wenn sie allein ist. Musik allein ist Ästhetentum oder so etwas; Lebensschwäche. Wenn sich Musik aber mit dem Gesicht verbindet, dann schwanken die Mauern, und aus dem Grab der Gegenwart steht das Leben der Kommenden auf. Ich habe die drei musikalischen Silben nicht bloß gehört, ich habe sie auch gesehen. Sie sind in der Erinnerung aufgetaucht. Auf einmal weißt du: da, wo sie auftauchen, ist noch etwas anderes! Ich habe ja einmal deinem Grafen einen Brief über Moosbrugger geschrieben: wie man so etwas vergessen kann! Ich hör-sehe nun eine Welt, in der die Dinge stehen und die Menschen gehen, so wie du sie immer kennst, aber tönend-sichtbar. Das kann ich nicht deutlich beschreiben, denn es sind davon erst drei Silben aufgetaucht. Verstehst du das? Es ist vielleicht noch zu früh, davon zu reden.

Ich habe zu Walter gesagt: ›Ich will Moosbrugger kennenlernen!‹

Walter hat gefragt: ›Wer ist denn Moosbrugger?‹

Ich habe geantwortet: ›Ulos Freund, der Mörder.‹

Wir haben Zeitung gelesen; es war morgens, und Walter sollte schon ins Büro gehn. Erinnerst du dich, daß wir einmal alle drei Zeitung gelesen haben? (Du hast ein schwaches Gedächtnis, du wirst dich nicht erinnern!) Ich hatte also den Teil der Zeitung, den mir Walter gegeben hatte, auseinandergefaltet – ein Arm links, ein Arm rechts: plötzlich fühle ich hartes Holz, bin ans Kreuz genagelt. Ich frage Walter: ›Ist nicht erst gestern etwas von einem Eisenbahnunglück bei Budweis in der Zeitung gestanden?‹

›Ja‹ antwortete er. ›Warum fragst du? Ein kleines Unglück, ein Toter oder zwei.‹

Nach einer Weile sagte ich: ›Weil in Amerika auch ein Unglück geschehen ist. Wo liegt Pennsylvanien?‹

Er weiß es nicht. ›In Amerika‹ sagt er.

Ich sage: ›Nie lassen die Führer ihre Lokomotiven mit Absicht zusammenstoßen!‹ Er sieht mich an. Es war zu erkennen, daß er mich nicht versteht. ›Natürlich nicht‹ meint er.

Ich frage, wann Siegmund zu uns kommt. Er weiß es nicht sicher.

Und nun siehst du: Natürlich lassen die Maschinenführer nicht ihre Züge aus böser Absicht zusammenstoßen; aber warum tun sie es sonst? Ich werde es dir sagen: In dem ungeheuren Netz von Schienen, Weichen und Signalen, das sich um den ganzen Erdball zieht, verlieren wir alle die Kraft des Gewissens. Denn wenn wir die Stärke hätten, uns noch einmal zu prüfen und noch einmal unsere Aufgabe zu beachten, so würden wir immer das Nötige tun und das Unglück vermeiden. Das Unglück ist unser Stehenbleiben beim vorletzten Schritt!

Natürlich darf man nicht erwarten, daß das Walter gleich klar werde. Ich glaube, daß ich diese ungeheure Kraft des Gewissens erreichen kann, und ich habe die Augen schließen müssen, damit Walter nicht den Blitz darin bemerkt.

Aus allen diesen Gründen halte ich es für meine Pflicht, Moosbrugger kennen zu lernen.

Du weißt, mein Bruder Siegmund ist Arzt. Er wird mir helfen.

Ich habe auf ihn gewartet.

Am Sonntag ist er zu uns gekommen.

Wenn er jemand vorgestellt wird, sagt er: ›Aber ich bin weder –, noch musikalisch.‹ So ist sein Witz. Denn weil er Siegmund heißt, will er weder für einen Juden noch für musikalisch gehalten werden. Er ist im Wagner-Rausch gezeugt worden. Es ist unmöglich, ihn zu einer vernünftigen Antwort zu bewegen. Solange ich auf ihn einredete, hat er nur Unsinn gebrummt. Er hat mit einem Stein nach einem Vogel geworfen und mit dem Stock durch den Schnee gestochert. Auch wollte er einen Weg ausschaufeln; er kommt oft zu uns arbeiten, wie er sagt, weil er nicht gerne zu Hause ist bei seiner Frau und den Kindern. Es ist zu verwundern, daß du ihn nie getroffen hast. ›Ihr habt die Fleurs du mal und einen Gemüsegarten!‹ sagt er. Ich habe ihn an den Ohren gezogen und in die Rippen gepufft, ohne daß es geholfen hat.

Dann sind wir ins Haus zu Walter, der natürlich am Klavier gesessen ist, und Siegmund hat den Rock unter den Arm geklemmt und die Hände hoch hinauf voll Schmutz gehabt.

›Siegmund,‹ habe ich zu ihm vor Walter gesagt ›wann verstehst du ein Musikstück?!‹

Er hat gegrinst und zur Antwort gegeben: ›Gar niemals.‹

›Wenn du es selbst innerlich machst‹ habe ich gesagt. ›Wann verstehst du einen Menschen? Du mußt ihn mitmachen.‹ Mit-machen! Das ist ein großes Geheimnis, Ulrich! Du mußt sein wie er: aber nicht du in ihn hinein, sondern er in dich hinaus! Wir erlösen hinaus: Das ist die starke Form! Wir lassen uns auf die Handlungen der Menschen ein, aber wir füllen sie aus und steigen darüber hinaus.

Entschuldige, daß ich so viel davon schreibe. Aber die Züge stoßen zusammen, weil das Gewissen nicht den letzten Schritt tut. Die Welten tauchen nicht auf, wenn man sie nicht zieht. Ein andermal mehr davon. Der geniale Mensch hat die Pflicht anzugreifen! Er hat die unheimliche Kraft dazu! Aber Siegmund, der Feigling, hat nach der Uhr gesehn und ans Abendbrot erinnert, weil er nach Hause müsse. Weißt du, Siegmund hält sich immer in der Mitte zwischen der Blasiertheit eines erfahrenen Arztes, der nicht sehr günstig von dem Können seines Berufs denkt, und der Blasiertheit des zeitgemäßen Menschen, der jenseits der geistigen Überlieferung bereits wieder zur Hygiene der Einfachheit und der Gartenarbeit gekommen ist. Aber Walter hat ausgerufen: ›Um Gottes willen nur, warum redet ihr solche Sachen?! Was wollt ihr denn eigentlich von diesem Moosbrugger!‹ Und das hat geholfen.

Denn nun sagte Siegmund: ›Entweder ist er geisteskrank oder ein Verbrecher, das ist ja richtig. Aber wenn sich Clarisse nun einmal einbildet, daß sie ihn bessern kann? Ich bin Arzt und muß dem Spitalsgeistlichen auch erlauben, daß er sich das einbildet! Erlösen sagt sie? Nun, warum soll sie ihn dann nicht wenigstens sehn?!‹

Er hat sich die Hosen abgebürstet, Schuhe poliert und die Hände gewaschen: beim Abendbrot haben wir dann alles verabredet.

Wir sind auch schon bei Dr. Friedenthal gewesen; das ist der Assistent, den er kennt. Siegmund hat gerade heraus gesagt, daß er die Verantwortung übernehme, mich unter irgendeinem falschen Titel einzuführen, ich sei Schriftstellerin und möchte den Mann sehen.

Aber das war ein Fehler, denn so offen gefragt, konnte der andere nur nein sagen. ›Wenn Sie die Selma Lagerlöf wären, ich würde entzückt von Ihrem Besuch sein, was ich natürlich auch so bin, aber hier werden leider nur wissenschaftliche Interessen anerkannt!‹

Es war ganz hübsch, für eine Schriftstellerin zu gelten. Ich habe ihn fest angeschaut und gesagt: ›Ich bin in diesem Fall mehr als die Lagerlöf, weil ich es nicht zu Studienzwecken will!‹

Er hat mich angesehn und dann gesagt: ›Das einzige wäre, wenn Sie mit einer Empfehlung Ihrer Gesandtschaft an den Chef der Klinik herkämen.‹ – Er hat mich für eine ausländische Schriftstellerin gehalten und nicht verstanden, daß ich Siegmunds Schwester bin.

Wir haben uns schließlich so geeinigt, daß ich nicht den kranken, sondern den gefangenen Moosbrugger sehen werde. Siegmund beschafft mir die Empfehlung eines Wohlfahrtsvereins und eine Erlaubnis des Landesgerichts. Nachher hat Siegmund mir erzählt, daß Dr. Friedenthal Psychiatrie für eine halb künstlerische Wissenschaft hält, und hat ihn einen Dämonenzirkus-Direktor genannt. Aber mir würde das gefallen.

Das Schönste war, daß die Klinik in einem alten Kloster untergebracht ist. Wir haben am Gang warten müssen, und der Hörsaal ist in einer Kapelle. Er hat große Kirchenfenster, und ich habe über den Hof hineinsehen können. Die Kranken haben weiße Kleider an und sitzen beim Professor am Katheder. Und der Professor neigt sich ganz freundschaftlich über ihren Sessel. Ich habe mir gedacht: jetzt wird man vielleicht Moosbrugger bringen. Ich hatte das Gefühl, daß ich dann durch das hohe Glasfenster in den Saal fliegen will. Du wirst sagen, ich kann nicht fliegen: also durch das Fenster gesprungen? Aber gesprungen wäre ich ganz gewiß nicht, denn das fühlte ich nicht.

Ich hoffe, du kommst bald zurück. Nie kann man die Dinge ausdrücken. Am allerwenigsten brieflich.«

Darunter stand mächtig unterstrichen: »Clarisse«.


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