Adolf Mützelburg
Der Herr der Welt
Adolf Mützelburg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Mr. Stanley

Wohnt hier ein junges Mädchen, eine Französin, die mit einem Manne namens Wolfram nach New Orleans gekommen ist? fragte der Herr.

Sie wohnt hier, ja, antwortete die Wirtin mit einiger Zurückhaltung. Was wünschen Sie?

Sagen Sie ihr, ein Herr wünsche sie zu sprechen, mit dem sie einst in Kalifornien eine Unterredung gehabt.

Nach einer Minute kehrte sie zurück und sagte:

Treten Sie ein, hier wohnt Fräulein Amelie.

Lord Hope – denn er war es – trat in ein helles, kleines Zimmer, das fast der notdürftigsten Gegenstände entbehrte. In der Mitte stand eine hohe weibliche Gestalt.

Mademoiselle, sagte er, ich habe es gewagt, Sie aufzusuchen.

Ich danke Ihnen, Mylord, antwortete Amelie. Wenige Menschen würden uns in dieser Lage aufgesucht haben. Um so freundlicher ist Ihre Großmut. Setzen Sie sich, Mylord.

Mademoiselle, sagte Lord Hope, Ihre Schicksale sind nicht die glücklichsten gewesen, wie man mir gesagt hat. Sie kämpfen mit Entbehrungen, vielleicht mit der Not.

Wenn der Mangel an allem Not ist, dann allerdings ja! antwortete Amelie mit einer Ruhe, die nur in der vollständigen Entsagung und Verzweiflung ihre Ursache haben konnte.

Aber ich hoffe, daß Ihnen Eines nicht fehlt, die Liebe Wolframs? sagte der Lord.

Nein, sie fehlt mir nicht, sagte Amelie. Aber diese Liebe ist kein Trost mehr für mich, denn ich sehe, wie über alle Begriffe unglücklich Wolfram ist, und daß er vielleicht glücklich sein würde, wenn er nicht auch für mich zu sorgen, an mich zu denken hätte.

Sie betrachten die Verhältnisse viel zu schwarz! sagte der Lord begütigend. Ein kleiner Zufall kann alles, kann Ihre ganze Lage ändern. Vielleicht kann ich selbst etwas für Sie tun. Scheint Ihnen nicht schon meine Gegenwart ein günstiges Zeichen?

Nein, Mylord, wirklich nicht. Weshalb? fragte Amelie.

Es liegt aber doch in meiner Hand, Wolfram zu unterstützen! sagte der Lord.

Ich glaube kaum, daß er eine solche Unterstützung annehmen würde, erwiderte Amelie.

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, sagte der Lord. Wir werden sehen. Ihr Schicksal muß sich in diesen Tagen entscheiden. Ich sehe ein, daß es nicht so bleiben kann. Ich werde mit Wolfram sprechen. Leben Sie wohl! Wenn wir uns das nächstemal wiedersehen – und ich hoffe, es wird bald sein – so werden Sie freudiger und hoffnungsvoller denken. Adieu!

Der Lord ging. Sein Gesicht war beinahe finster, als er in die St. Charlesstraße trat und auf das Haus von Nathan Brothers zuging. Er trat nicht in das Kontor, sondern in die große Haustür, und stieg sogleich zu den Privatzimmern Mr. Nathans hinauf. Dort gab er seine Karte ab und wurde eingelassen.

Seien Sie mir willkommen, Mylord, tausendmal willkommen! rief Mr. Nathan, auf den Lord zueilend. Es ist hohe Zeit. Ich habe Sie mit Sehnsucht erwartet, seit Ihr Brief mich benachrichtigte, daß Sie angekommen seien. Indessen, Sie sehen sehr ernst aus!

Der Lord hatte ihm schweigend die Hand gedrückt und sich dann gesetzt.

Ja, Mr. Nathan, sagte er, ich habe Grund dazu. Ich komme von Amelie.

Von Amelie! Ich dachte es, und Sie haben sie in Verzweiflung gefunden! rief Nathan.

In Verzweiflung – nein, antwortete der Lord. In einer großen Abspannung, in einer solchen Gleichgültigkeit, daß mir selbst beinahe um die Zukunft bange wird.

Ah, ich dachte es, ich dachte es! rief Nathan. Ja, Sie sind zu weit gegangen, Mylord. Aber ich weise alle Verantwortlichkeit von mir zurück. Ich bin nicht schuld daran.

Ich weiß es, Mr. Nathan, und ich danke Ihnen, sagte der Lord. Aber es wird alles noch gut werden. Lassen Sie die Hoffnung in die Herzen der beiden jungen Leute zurückkehren, und sie werden wieder anfangen zu leben und zu fühlen, wie sonst.

Aber eilen Sie, ihnen diese Hoffnung einzuflößen! rief Mr. Nathan. Wirklich, mir liegt es schwer auf dem Herzen, diesen Wolfram bei jenem Bau zu sehen. Ich fürchte immer, es geschieht ein Unglück.

Die Gefahr ist nun vorüber, sagte der Lord. Aber ich sehe ein, wir sind auf dem äußersten Punkte mit ihnen. Ich möchte Wolfram sogleich sprechen. Können Sie ihn holen lassen? Die Sache muß zur Entscheidung kommen.

Gott sei Dank! rief Nathan. Ich will ihn sogleich holen. Hier, Mylord, lesen Sie unterdessen diese Briefe, die für Sie angekommen sind.

Er eilte fort und der Lord nahm gedankenvoll das wohlversiegelte Paket, das der Bankier ihm überreichte und das die Adresse der Gebrüder Nathan trug. Es waren drei Briefe: einer vom Abbé Laguidais, zwei vom Herzog ***. Sie beschäftigten sich beide mit Mutmaßungen über den Tod Morels, über dessen Verbleib sie alle möglichen Untersuchungen angestellt hatten. Der Name Rablasys wurde darin erwähnt, und der Herzog war auf der richtigen Spur, jedoch ohne die ganze Wahrheit zu ahnen.

Der Abbé aber meldete:

»Endlich haben wir Morel entdeckt. Er wird unter dem Namen Rablasy in einem Irrenhause gefangen gehalten und ist – wahnsinnig. Das ist eine Tatsache, Graf, und ich beschwöre Sie deshalb, zu uns zu kommen und dazu beizutragen, die Verhältnisse, die eine so traurige Gestalt angenommen haben, zu ordnen. Eilen Sie!«

Morel wahnsinnig! sagte der Lord mit tiefer und schwerer Stimme und stützte den Kopf auf die Hand. Das ist trauriger, als ich erwartet hatte. Gott stehe mir bei!

Er blieb in seiner nachdenklichen Stellung, bis er die Tür gehen hörte. Dann stand er auf, zwang sein Gesicht zur Ruhe und Fassung und blickte den jetzt Eintretenden entgegen.

Es waren Mr. Nathan und Wolfram. Der letztere erschien in seinem Arbeitsanzuge, mit Schmutz bedeckt. Er erkannte den Lord sogleich und grüßte ihn flüchtig und gleichgültig. Dann aber schien eine alte Erinnerung in ihm zu erwachen und sein Blick wurde finster.

Mr. Wolfram, sagte der Lord, ruhig auf ihn zutretend, wir haben uns bereits gesehen.

Jawohl, und es ist nicht gut, diese Erinnerung zurückzurufen, sagte Wolfram rauh.

Sie haben recht, erwiderte der Lord. Indessen Sie werden bei ruhiger Überlegung eingesehen haben, daß Sie zu weit gingen und daß ich in meinem Rechte war. Ich meinesteils biete Ihnen von ganzem Herzen die Hand zur Versöhnung. Es wäre mir lieb, wenn ich etwas für Sie tun könnte. Sie sind ein Mann, der berufen ist, eine andere Stellung einzunehmen als die jetzige. Außerdem habe ich vielleicht Verpflichtungen gegen Sie zu erfüllen. Ihr Name ist Büchting, nicht wahr?

Wolfram sah den Lord überrascht an, schwieg aber.

Nun, Ihr Name ist Büchting, ich glaube es zu wissen, fuhr der Lord fort. Ich habe Ihren Vater gekannt, ich habe ihn sterben sehen und Ihnen ein Vermächtnis von ihm einzuhändigen.

Ich müßte vorher die Gewißheit haben, daß Sie es wirklich im Namen meines Vaters tun, sagte Wolfram, und selbst dann wäre es mir lieber, wenn sein Vermächtnis mir durch eine andere Person mitgeteilt würde.

Sie sprechen wie ein Mensch, der von Leidenschaften bewegt ist, sagte der Lord ruhig und ernst. Aber ich werde mich dadurch nicht beirren lassen. Daß ich Ihren Vater gesprochen habe, liegt wohl auf der Hand. Woher sollte ich sonst Ihren Namen kennen? Daß Sie und Wolfram Büchting ein und dieselbe Person seien, erfuhr ich durch den Mormonen Bertois, der mir einen Ring zeigte, den Sie ihm gegeben.

Wohlan, sagte Wolfram, und was ist das Vermächtnis meines Vaters?

Ich traf ihn in der Wüste, als er im Sterben lag, antwortete Lord Hope. Er erzählte mir kurz die Schicksale seines Lebens und bat mich, das, was ich bei ihm finden würde – wenn es mir möglich sei – seinen Kindern zu übersenden. Den Aufenthalt Ihrer Schwester habe ich nicht erfahren können. Auch mit Ihnen bin ich, wie Sie wissen, nur durch einen Zufall bekanntgeworden. Ich fand zehntausend Dollars bei ihm. Diese Summe kann ich Ihnen übergeben. Sorgen Sie dafür, daß Ihre Schwester den Anteil erhält, der ihr davon gebührt.

Der Lord zog sein Portefeuille aus der Tasche und legte die Banknoten auf den Tisch.

Mylord, sagte Wolfram, finster vor sich hinblickend, die letzten Nachrichten, die wir von unserem Vater erhielten, waren der Art, daß ich ein großes Vermögen bei ihm nicht erwarten darf. Wahrscheinlich ist es Ihre Absicht, Mylord, mich aus Gründen, die ich nicht kenne, zu unterstützen. Zwischen uns kann aber keine Freundschaft sein, und am wenigsten will ich Ihnen Dankbarkeit schulden.

Und dennoch müssen Sie mir bereits dankbar sein, sagte der Lord. Ich und jener Mr. Stanley, der Sie hierher nach New Orleans wies, sind dieselbe Person.

Wie? rief Wolfram zusammenfahrend. Sie sind Mr. Stanley? Das ist nicht wahr!

Ich verstehe es sehr gut, andere Gestalten anzunehmen, sagte der Lord. Mr. Nathan kann es bestätigen.

Ja, sagte der Bankier, Lord Hope ist jener Mr. Stanley.

Dann, Mylord, dann verwünsche ich Sie! rief Wolfram zornig. Dann verwünsche ich Sie, wie ich jenen Mr. Stanley verwünscht habe, denn er ist schuld an allem unseren Unglück. Dieser Stanley war es, der mir Mittel gab, durch die Wüste zu reisen, und ich danke ihm nicht dafür. Denn wären wir dort verhungert, so hätten wir hier nicht Qualen zu leiden gehabt, die tausendmal mehr sind als Hungertod. Dieser Stanley war es, der mich hierher wies. Soll ich ihm dafür dankbar sein? Wie bin ich hier aufgenommen worden! Welche Leiden waren mein Los! Herr, wenn Sie jener Stanley sind, so werfe ich Ihnen die letzten Dollars, die ich von Ihnen habe, vor die Füße und werde Tag und Nacht arbeiten, um Ihnen das Geld zurückzugeben. Von Ihnen kann ich keinen Cent mehr annehmen. Auf Ihrem Gelde, auf Ihrem Rate lastet der Fluch!

Damit wandte er sich um, setzte seinen Hut auf und schritt nach der Tür.

Mensch! rief der Lord, ihm nacheilend, hören Sie! Sie gehen in Ihr Unglück! Ich will Ihnen alles sagen!

Und dabei ergriff er den Arm des jungen Mannes und wollte ihn zurückhalten.

Ich habe genug gehört! rief Wolfram. Lassen Sie mich los, oder –

Er schüttelte den Lord ab, faßte den Drücker und warf die Tür hinter sich zu.

Der Lord blieb auf derselben Stelle stehen und sah ihm nach. Seine Lippen waren fest geschlossen. Aber sein Gesicht verriet nichts von seinen Gedanken.

Wir müssen weitergehen, sagte er dann zu dem Bankier. Wir dürfen dabei nicht stehenbleiben. Er muß alles erfahren. In diesem Menschen liegt eine Kraft der Selbständigkeit, die bewundernswert ist und das Größte leisten kann. Gehen wir ihm nach. Es wird mir gelingen, mich ihm verständlich zu machen. Er wird mich begreifen. Und tut er es nicht, nun, so muß ihm und Amelie auf andere Weise geholfen werden.

So kommen Sie, kommen Sie sogleich! rief Nathan. Mir ist entsetzlich bang zumute. Ich fürchte alles von diesem Manne. Bis jetzt hat ihn die Liebe zu Amelie aufrechterhalten. Aber die Verzweiflung – die Verzweiflung –

Er hatte schon den Hut auf dem Kopfe und der Lord stieg mit ihm nieder auf die Straße. Es war schon spät, und die Menschen drängten sich so lebhaft durcheinander, daß es den beiden schwer wurde, rasch vorwärts zu kommen. Sie erreichten jedoch bald den Hafendamm und gingen nach der Seite, auf der sich die Arbeiter befanden.

Dort sahen sie, wie alles ihnen vorauseilte, Matrosen, Handwerker, Neger, Kommis. Alle rannten nach derselben Richtung, sich gegenseitig zurufend.

Was ist geschehen? riefen andere, sich den Eilenden anschließend. Es fiel ein Schuß.

Ja, ein Arbeiter ist von einem Aufseher erschossen worden, lautete die hastige Antwort.

Mr. Nathan war blaß geworden. Er wagte nicht, mit dem Lord zu sprechen. Beide eilten noch rascher vorwärts, so daß sie die anderen weit hinter sich zurückließen. Vor sich sahen sie bereits eine dichte Menschenschaar, die sich auf dem Damme versammelt hatte und wahrscheinlich den Körper des Getöteten sehen wollte.

Es war schwer, diesen Knäuel zu durchbrechen. Aber der Lord gab Mr. Nathan den Arm und beide drangen mit vereinten Kräften vor. Sie hörten ein wirres Gerede rings um sich her. Niemand schien noch recht den Hergang zu kennen. Der Lord fragte auch nicht. Bald hatte er die Menge zurückgedrängt und stand dicht am Hafen.

Vor ihnen lag auf einem Karren der Körper eines Mannes, dessen Kleider auf der Brust mit Blut bedeckt waren. Er bewegte sich nicht mehr.

Er ist es! Es ist Wolfram! riefen beide zu gleicher Zeit.

Um Wolfram herum standen einige Aufseher und Hafenbeamte. Der eine Aufseher hatte noch eine Pistole in der Hand. Wahrscheinlich hatte er den Schuß abgefeuert.

Ah, da ist Mr. Nathan! sagte er. Nun ja, Mr. Nathan hat mich oft genug vor diesem Burschen gewarnt und mir gesagt, genau auf ihn acht zu geben.

Jawohl, jawohl! sagte der Bankier mit zitternder Stimme. Aber wie ist es gekommen?

Nun, ganz einfach, eigentlich durch ein Mißverständnis, antwortete der Aufseher kaltblütig. Aber dieser Wolfram hat doch immer die Schuld. Ich war nach der Stadt gegangen, und als ich zurückkam, hörte ich, daß ein Herr dagewesen sei und Wolfram weggeholt habe. Das ärgerte mich, denn ich hatte dem Burschen noch vorher eingeschärft, fleißig zu arbeiten. Ich fragte ihn also, wer ihm die Erlaubnis gegeben. Er antwortete trotzig: niemand. Darauf vergaß ich mich und gab ihm einen leichten Schlag mit meinem Stock. Er nahm seinen Spaten und wollte mir über den Kopf hauen. Ich sah es seinem grimmigen Gesicht an, daß der Schlag ernsthaft sein sollte. Er konnte mich töten. Ich zog meine Pistole aus der Brusttasche und schoß ihn nieder.

Ich selbst war es, der ihn holte. Ich vergaß, ihn zu entschuldigen, sagte der Bankier.

Tut mir leid, Mr. Nathan, erwiderte der Aufseher. Aber es ist nun einmal geschehen.

Währenddessen war der Lord an Wolfram herangetreten, hatte seine Jacke und das Hemd auseinandergeschlagen und die Wunde untersucht.

Bringt Wasser und Leinwand! rief er mit gebieterischer Stimme. Vielleicht ist er noch zu retten. Mr. Nathan, sorgen Sie dafür, daß dieser Mann uns überlassen wird, und treffen Sie Vorkehrungen, daß Amelie dieser Vorfall verschwiegen werde, bis wir Gewißheit haben, ob er tot ist. Wasser und Leinwand, sage ich euch, ihr Leute!

Wasser hatte man bereits gebracht. Unbekümmert um das, was um ihn vorging, wusch der Lord die Wunde und beobachtete mit starrem Blick das Gesicht Wolframs.

Noch ist Leben in ihm! rief der Lord. Nathan, besorgen Sie eine Sänfte oder Bahre. Eilen Sie! Bei Gott! wenn dieser Mann stirbt, so – so bin ich ein Mörder!

Mr. Nathan war schon fortgeeilt, aber die Menge umgab immer noch den Körper des jungen Mannes, von dem man nicht wußte, ob er tot oder nur ohnmächtig sei. Die Hafenbeamten, denen wohl wenig daran gelegen war, diese Sache weiter zu verfolgen, zogen sich zurück und entfernten sich allmählich. Auch von den Zuschauern verlor sich die Hälfte, da es weiter nichts mehr zu sehen und zu hören gab.

Während dieser Zeit war der Lord unermüdlich und rastlos mit dem Verwundeten beschäftigt. Da ihm niemand Leinenzeug brachte, so hatte er sein Taschentuch zerschnitten und damit versucht, einen ersten Verband aufzulegen.

Jetzt erschienen auch die Leute mit der Bahre, die Mr. Nathan gesendet hatte. Sie bezeichneten dem Lord das Haus, nach welchem Wolfram gebracht werden sollte. Der Lord war selbst dabei tätig, den Verwundeten auf die Bahre zu legen, und folgte den Trägern, die langsam nach dem Hause schritten, das in der Nähe des Hafens lag.

Erst als Wolfram dort auf eine Matratze gelegt war, schickte der Lord nach den berühmtesten Wundärzten der Stadt, und ihre Ankunft abwartend, saß er neben Wolfram, dessen Augen immer noch geschlossen waren und der auch nicht das kleinste Zeichen des Lebens von sich gab. Die Tür öffnete sich leise und Mr. Nathan trat auf den Zehen ein.

Haben Sie Vorkehrungen getroffen, daß Amelie benachrichtigt wird, ohne die Wahrheit zu erfahren? fragte der Lord flüsternd. Sie darf es auf keinen Fall wissen.

Ich habe ihr sagen lassen, daß wir Wolfram für einige Tage in Anspruch nehmen würden, antwortete Nathan. Die Wirtin hat mir versprochen, niemand zu ihr zu lassen. Und was halten Sie selbst von dem Zustand dieses unglücklichen Menschen?

Ich weiß es nicht, antwortete der Lord mit gesenktem Blick. Seine Lage ist gefährlich, höchst gefährlich. Aber er wird nicht sterben, nein! Gott kann mich nicht so strafen! Haben Sie die Güte, das Billett, das ich schreiben werde, nach meinem Dampfboot zu schicken, Mr. Nathan. Ich will meine Frau wissen lassen, daß ich die Nacht hierbleiben werde. In der Nacht muß es sich entscheiden. Aber er wird nicht sterben, nein, nein!

Der Bankier eilte, den Wunsch seines Freundes zu erfüllen. Während seiner Abwesenheit kamen die Wundärzte, einer nach dem andern. Die Prüfung und die Konsultation begann.

Aber die gelehrten Herren konnten nicht einig werden. Einzelne behaupteten, Wolfram sei schon tot oder liege im Sterben. Andere meinten, es sei wunderbar, daß er nicht augenblicklich gestorben sei. Nur einer hielt es für möglich, daß der Verwundete gerettet werden könne. Die große Ader sei jedenfalls verletzt, aber man habe Beispiele, daß sie sich wieder geschlossen und daß auf diese Weise Verwundete durch sorgfältige Behandlung gerettet worden.

Der Lord hörte die Ärzte scheinbar ruhig an, bat aber nur den letzten, bei ihm zu bleiben.

Sir, sagte er, wenn Sie diesen jungen Mann retten, so erhalten Sie von mir zehntausend Dollars.

Ich werde mein möglichstes tun und nicht allein um des Geldes willen, antwortete der Arzt.

Nun ließ er seine Instrumente holen, entkleidete den Körper des jungen Mannes vollständig und untersuchte denselben, hauptsächlich aber die Wunde, auf das genaueste. Bei diesen Untersuchungen, die zum Teil mit der Sonde geschahen, zuckte Wolfram zuweilen zusammen und stöhnte. Der Arzt hielt das für ein gutes Zeichen. Er hatte sich auch überzeugt, daß eine innere Verblutung nicht stattfinde. Dennoch wollte er dem Lord keine Garantie für das Leben des Verwundeten geben.

Nun, Sir, sagte der Lord, Sie wissen, was ich Ihnen geboten. Ich verlasse mich darauf, daß Sie keine Minute von der Seite dieses Mannes weichen. Geben Sie während der Zeit Ihre anderen Patienten auf. Denn nur unter der Bedingung, daß Sie bei ihm bleiben, vertraue ich den Verwundeten Ihren Händen an. Stirbt er, so weiß ich, daß Sie nicht die Schuld tragen. Wird er gerettet, so sollen Sie Ihr Glück gemacht haben, ich gebe Ihnen mein Wort darauf.

Am andern Morgen erklärte der Arzt, daß er Hoffnung habe, den Patienten am Leben zu erhalten. Gleich darauf erschien auch Mr. Nathan. Der Lord stand nun auf und begab sich mit dem Bankier in ein Nebenzimmer.

Ich komme von Amelie, sagte dieser. Das Gerücht ist glücklicherweise nicht bis zu ihr gedrungen und sie ist über das Ausbleiben Wolframs, den sie bei uns glaubt, vollständig ruhig.

Nun, wohlan, lassen Sie Amelie glauben, daß wir Wolfram beschäftigen, bis die Frage über Leben und Tod entschieden ist, sagte der Lord. Ich muß Ihnen abermals diese schwierige und unangenehme Angelegenheit überlassen, Mr. Nathan, ich kann nicht anders. Heute nachmittag um vier Uhr muß ich abreisen. Ereignisse, die mich fast ebenso nahe berühren wie das Schicksal dieses jungen Mannes, rufen mich nach Europa. Stirbt Wolfram, so darf es Amelie nie erfahren. Eher noch mag sie glauben, er habe sie verlassen, um anderswo eine bessere Existenz zu finden, und auf seine Rückkehr hoffen. Wenn Wolfram aber nicht stirbt, – und Gott wird mir diese Qual nicht senden! – so bieten Sie alles auf, ihn sicher genesen zu lassen.

Ich werde tun, was ich kann, Mylord! sagte Mr. Nathan und drückte dem Lord die Hand.

Mit Mr. Nathan zusammen ging der Lord zur festgesetzten Zeit nach dem Hafendamm. Am Fuße der einen Treppe lag eine Gondel, für ihn bestimmt.

Er nahm von dem Bankier herzlichen und warmen Abschied. Dann trat er auf die oberste Stufe der Treppe und wollte hinabsteigen.

In demselben Augenblick aber sah er einen Menschen vor sich, und ein scheußliches Gesicht, über und über bedeckt mit einem Ausschlage, starrte ihm entgegen.

Haben Sie Mitleid, haben Sie Mitleid, Herr, jammerte eine rauhe, hohle Stimme.

Gewöhnt an die verschiedenartigsten Dinge des Lebens, an dem Anblick der Herrlichkeit, des Lasters und der Häßlichkeit, bebte der Lord dennoch unwillkürlich vor diesem Aussätzigen zurück, dessen Gesicht nichts Menschliches, selbst nichts Tierisches hatte.

Was willst du? rief er schaudernd. Geh mir aus dem Wege, Mensch!

Ach, Herr! Hören Sie mich einen Augenblick an, ich bitte Sie um der Wunden Christi willen! rief der Aussätzige. Seit Monaten lebe ich hier in New Orleans, und niemand will sich meiner annehmen, weil ich ein Fremder, ein Franzose bin. Ich weiß, daß ich sterben werde, aber ich möchte in meiner Heimat sterben, und niemand will mich auf sein Schiff nehmen, selbst nicht für Geld. Herr, sagen Sie mir, ob Sie nach Frankreich fahren, und wenn es der Fall ist, so geben Sie mir einen Winkel, tief unten, damit ich noch einmal Frankreich sehen und dann sterben kann. Ach, Herr, Sie mögen so gut und so edel sein, wie nur je ein Mensch, Sie werden doch irgend etwas getan haben, wofür Sie den Himmel um Verzeihung bitten. Er wird sie Ihnen gewähren, wenn Sie sich meiner annehmen.

Das ist wahr! flüsterte der Lord vor sich hin, und dieser Gedanke schien ihn zu ergreifen. Gut, Mensch, ich will deine Bitte erfüllen. Steige in die Gondel, ich will dich heilen und nach Frankreich schaffen.

Dank, Dank! wimmerte der Aussätzige, sich zu den Füßen des Lords krümmend.

Keine Worte! rief dieser und stieg in die Gondel. Der Aussätzige folgte ihm.

Nach fünf Minuten legte das Boot bei dem Dampfer an. Der Lord gab seinem Intendanten den Auftrag, den Mann nach dem Krankenzimmer zu führen. Er selbst ging sogleich nach der Kajüte und blieb dort.

Unmittelbar darauf dampfte der Schornstein und das Dampfboot verließ den Hafen von New Orleans. –

Das Dampfboot lag im Hafen von Cadix. Der Lord war auf kurze Zeit an das Land gegangen. Die Sonne brannte auf das Verdeck, und auf dem Schiffe war alles so ruhig und still wie immer.

Der Kranke, Graf Roskowitsch, lag auf dem Verdeck, in der Nähe des Schornsteins. Dort war ihm ein Platz angewiesen worden, auf dem er an schönen Tagen in der Sonne liegen konnte.

Vergebens hatte der Lord ihm Mittel gegeben, denen bis jetzt jede ähnliche Krankheit gewichen war. Sie hatten nichts geholfen, aus dem einfachen Grunde, weil der Kranke sie nicht gebrauchte. Der Lord, der unmöglich eine solche Betrügerei ahnen konnte, hatte ihm die Arzneien geschickt, und Roskowitsch hatte sie regelmäßig durch das kleine Fenster der Krankenstube in die See gegossen.

Die Überfahrt war schnell gewesen. Tag und Nacht hatte die kleine, aber vortrefflich gebaute Maschine mit vollem Dampf gearbeitet und dem Winde, der eine Zeitlang konträr war, getrotzt. In Cadix mußten neue Kohlen eingenommen werden.

Roskowitsch hatte nicht viel auf dem Schiffe bemerken können. Zu Anfang hatte man ihm nicht erlaubt, seine Krankenstube zu verlassen, da das Wetter zu schlecht war, und jetzt, da man ihm an einigen schönen Tagen gestattete, in der Sonne zu liegen, hatte er niemand weiter bemerkt als den Heizer, den Steuermann, zwei Matrosen und den Intendanten Bertuccio. Den Lord selbst sah er äußerst selten. Die Kajüte, in der er sich aufhielt, war immer verschlossen, die Fenster mit Gardinen dicht verhängt.

Jetzt lag er da, sein scheußliches Gesicht der Sonne zugekehrt, mit geschlossenen Augen. Plötzlich hörte er ein Schreien, und zwar klar und deutlich. Er fuhr auf, besann sich dann aber, drehte sich langsam und sah nach dem Hinterdeck, wo die Kajüte sich befand.

Dort sah er auf dem schmalen Raum vor der Kajüte eine verhüllte Frauengestalt auf und ab gehen, die ein Kind auf ihren Armen trug, das soeben jenes schwache Geschrei ausgestoßen hatte und nun von ihr wieder zur Ruhe geschaukelt wurde. Die verschleierte Frau trug eine eigentümliche fremdartige Kleidung, die Ähnlichkeit mit derjenigen der orientalischen Frauen hatte. Der Kranke bemerkte jetzt auch, daß von dem einen Kajütenfenster die Gardine ein wenig sich verschoben hatte. Er sah ein Gesicht von wundersamer Schönheit, ein Frauengesicht, das glücklich und freudig strahlend zu der anderen Frau hinüberschaute, die das liebliche Kind auf ihren Armen trug.

Der Heizer kam jetzt aus dem Maschinenraum herauf, um mit den beiden Matrosen zu sprechen, die auf der anderen Seite des Schiffes beschäftigt waren, die Kohlen in Empfang zu nehmen. Als er langsam zurückgeschlendert kam. wandte sich Roskowitsch ihm zu.

Ihr habt also auch Frauen an Bord? sagte er. Das wußte ich noch gar nicht.

Der Heizer stand still, sah ihn aber nicht an. Das Gesicht des Aussätzigen mochte ihm Abscheu einflößen.

Ja freilich, das ist die Kammerfrau von Mylady, sagte er, mit dem Kinde Mylords.

Der Heizer ging. Die verschwollenen, blutunterlaufenen Augen des Kranken wandten sich wieder nach der Frau mit dem Kinde. Es war also die Kammerfrau. Dann mußte die andere Dame, die aus dem Kajütenfenster schaute, die Gattin Mylords sein. Ah, wie schön war sie! Der Kranke hatte nie eine schönere Frau gesehen.

Er hat ein Kind! murmelte er dann unhörbar vor sich hin. Gewiß liebt er sein Kind!

Roskowitsch suchte wieder das Krankenzimmer auf, das ihm zur Wohnung angewiesen worden. Es war am Vorderteil des Fahrzeuges angemacht und wenn nicht der schönste, doch der luftigste und bequemste Raum.

Bald darauf bemerkte er, daß der Dampfer sich wieder in Bewegung setzte. Die Räder und die Maschine begannen zu arbeiten, Cadix verschwand den Blicken des Kranken und das Boot schaukelte wieder auf der hohen See.

Er hat ein Kind! murmelte er abermals vor sich hin. Er hat ein schönes Weib! Ich möchte wissen, welches das Ziel seiner Reise ist. Etwa Marseille? Das wäre mir freilich nicht lieb.

Hier wurden seine Gedanken durch dumpfe und unverständliche Töne unterbrochen, die aus dem Raume neben seinem Zimmer zu ihm herüberdrangen. Roskowitsch hatte diese Töne schon öfter gehört und sie hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Sie waren stets so dumpf gewesen, daß er sie nicht hatte verstehen können. Zuweilen hatte sich eine hellere Stimme mit ihnen vermischt, die er für die des Lords gehalten. Aber er hatte auch diese nie verstehen können. Ebensowenig war es ihm trotz aller Neugierde und Aufmerksamkeit möglich gewesen, zu erfahren, wer sich neben ihm befinde. Fragen hatte er nicht wollen. Die Leute auf dem Schiffe waren ihm nicht gewogen.

Schon die Langeweile trieb den Kranken an, sich eine genauere Auskunft zu verschaffen. Heut zum erstenmal aber war ihm noch eine Vermutung in den Sinn gekommen, die seine Neugierde besonders anstachelte. Er untersuchte die Wand, die ihn von dem Nebenzimmer trennte, sehr genau. Sie war sehr gut gearbeitet und bestand aus doppelten Brettern. Daher auch die Dämpfung des Tones, die es ihm bis jetzt nicht möglich gemacht hatte, etwas von dem zu verstehen, was dort gesprochen wurde. Eine Ritze, eine Öffnung befand sich nicht in dieser Wand.

Dennoch entdeckte das Auge des Kranken etwas, was einer Tür ähnlich sah. Sie war jedoch so fein eingelegt, daß er sich erst nach längerer Prüfung von der Richtigkeit seiner Vermutung überzeugte. Weder Schloß noch Drücker befanden sich an dieser Tür, nur eine kleine Öffnung, in die wahrscheinlich ein kunstvoll gearbeiteter Schlüssel hineinpaßte. Es mußte schwer sein, dieses geheime Schloß, das ohne Zweifel in der Tür selbst verborgen war, ohne künstliche Instrumente zu öffnen. Aber Roskowitsch verzweifelte nicht daran. Er verriegelte die Tür nach dem Verdeck von innen, verhängte das kleine Fenster, schob das Bett fort, das vor der Tür stand, und machte sich an die Arbeit.

Wer ihn dabei gesehen, würde ohne Zweifel sogleich vermutet haben, daß ihm diese Art von Beschäftigung nicht ganz unbekannt sei. Roskowitsch benutzte die verschiedenartigsten Gerätschaften, die sich in seinem Zimmer befanden und die ursprünglich für ganz andere Dinge bestimmt waren, um seinen Zweck zu erreichen. Endlich, da ihm das alles nichts half, schnitt er mit einem feinen Messer ein quadratförmiges Stückchen Holz aus der Tür, dort, wo er das geheime Schloß vermutete. Nun sah er in der Tat ein kleines Schloß, das jetzt leicht mit einem gebogenen Nagel zu öffnen war.

Dennoch zögerte Roskowitsch, die Tür zu öffnen. Es konnte Verdacht erregen, wenn er in das Nebenzimmer trat. Er beschloß also, einen anderen Versuch zu machen. Er klopfte an die Bretterwand.

Niemand antwortete. Niemand fragte aus dem Nebenraume. Entweder war er also leer, oder es befand sich eine Person dort, die sich um dieses Klopfen nicht kümmerte, die an nichts teilnahm. Jetzt öffnete Roskowitsch leise die Tür und trat ein.

Sein Blick fiel auf eine Gestalt, die ganz zusammengekauert, mit verschränkten Armen, auf dem Teppich des Fußbodens saß und die Augen so starr und unheimlich auf den Eintretenden richtete, daß dieser unwillkürlich zurückfuhr. Und er hatte Grund dazu!

Denn wenn sein eigenes Gesicht so sehr durch die Krankheit entstellt war, daß es niemand ohne Ekel betrachten konnte, so war das Gesicht dieses Menschen, den er jetzt vor sich sah, kaum weniger abstoßend, nicht durch die Entstellung einer Krankheit, sondern durch seine Blässe, durch seine Fahlheit, durch den unheimlichen Glanz der tiefliegenden gräßlich starren Augen und durch das struppige Haar, das in weißgrauen Spitzen den Kopf, die Wangen und das Kinn umgab. Und wie erschütternd war der Ausdruck dieses ganzen Gesichtes, in dem keine Spur menschlichen Fühlens und Denkens mehr zu finden war, dieses Gesichtes, das zwar die menschliche Form trug, dem aber der Funke des Geistes gewichen war.

Aber nur einen Augenblick fuhr Roskowitsch zurück. Dann trat er näher, mit den sichtlichen Zeichen neugieriger Teilnahme und verwunderten Staunens.

Er ist es wirklich! sagte er halblaut vor sich hin. Es ist der alte Villefort! Aber zum Teufel, wie sieht er aus! Ja, ja, Alter, das hast du dem auch zu danken!

Der Wahnsinnige schien die Gegenwart eines Fremden gar nicht zu beachten. Er hatte die Hände unter den Knien gekreuzt, fast wie jemand, der in den spanischen Bock gespannt ist, und sah immer nur nach derselben Richtung. Roskowitsch konnte deshalb dicht an ihn herantreten, sich sogar neben ihn setzen.

He, Alter, woran denkst du denn jetzt? fragte er.

Wider Erwarten schien der alte Villefort diese Frage gehört zu haben.

Es war ein schönes Kind, ein schöner Knabe, nicht wahr? sagte er mit einer Stimme, die aus dem Grabe zu kommen schien – so hohl und dumpf war sie.

Kind? Knabe? Von welchem sprichst du denn? fragte der Aussätzige.

Von wem? Von Eduard? Von meinem Sohn.

Ah, er hatte einen Sohn dieses Namens! murmelte Roskowitsch vor sich hin. Ja, ja, ich besinne mich. Den vergiftete seine zweite Frau mit sich zugleich. Wo ist denn der Knabe? Du hast ihn ja nicht bei dir, Alter? fügte er dann laut hinzu.

Eduard? Eduard ist im Garten und spielt, antwortete Villefort, mit jenem geheimnisvollen Flüsterton, der den Wahnsinnigen oft eigentümlich ist. Ich will ihn nicht stören. Erst werde ich meine Akten durchlesen. Ich habe einen wichtigen Prozeß – den Prozeß gegen den Mörder Benedetto. Ein Prozeß, der mir Ehre bringen wird.

Das spukt ihm immer noch im Gehirn! sagte Roskowitsch vor sich hin. Also du glaubst, Alter, Eduard sei im Garten? Du irrst dich, Eduard ist tot.

Tot! Eduard tot! sagte Villefort und schüttelte ruhig den Kopf. Nein, Heloise ist tot, meine Frau – auch Valentine, meine gute Tochter, aber Eduard ist nicht tot.

Du hast ein schwaches Gedächtnis! sagte Roskowitsch. Erinnere dich doch, Alter, deine Frau hat den Knaben vergiftet und sich selbst auch.

Vergiftet! wiederholte Villefort, und diesmal hatte seine Stimme einen bebenden Klang. Wer bist du? Wer spricht von Vergiften? Ich bin der Anwalt des Staates, ich darf das nicht hören. Ich muß eine Anklage erheben.

Tue es, meinetwegen! sagte Roskowitsch lustig. Du amüsierst mich, Alter. Sage mal, erinnerst du dich noch des Grafen Monte Christo aus Paris? Du kanntest ihn damals.

Monte Christo! Hm, den Namen sollte ich kennen! murmelte Villefort. War der nicht bei uns zum Besuch? Spielte er nicht mit Eduard? Ja, Eduard mochte ihn gut leiden.

Du bist ein Narr! rief Roskowitsch. Monte Christo war der Mörder deines Sohnes.

Aber diese Worte machten keinen Eindruck auf den Wahnsinnigen, dessen Gedanken in einen bestimmten Kreis fixer Ideen gebannt zu sein schienen. Er schüttelte ruhig den Kopf und sah mit demselben starren Blicke vor sich hin.

Erinnerst du dich noch der letzten Sitzung, die du gehalten hast? fragte Roskowitsch dann. Weißt du noch, wie der Prinz Cavalcanti, der Benedetto, dir sagte, daß er dein Sohn sei?

Mein Sohn? Ich habe nur einen Sohn, Eduard! antworte Villefort. Benedetto, das ist ja der Mensch, gegen den ich den Prozeß führen soll. Er wird guillotiniert werden.

Der alte Narr! Er hat die letzten Tage seiner Vernunft vergessen! sagte Roskowitsch ärgerlich. Ich dachte, ich würde einen Bundesgenossen in ihm finden, trotz seines Wahnsinnes, und er könnte mir die Mühe abnehmen, diesen Monte Christo zu erwürgen. Aber er scheint nicht einmal zu wissen, bei wem er ist. Denkst du noch an die Baronin Danglars, Alter?

Danglars? Sei still, sprich nicht so laut davon! flüsterte Villefort. Es braucht niemand zu wissen, daß sie damals meine Geliebte war in Auteuil, und daß ich das Kind eingegraben habe.

Nun, ich werde es nicht weiter sagen! rief Roskowitsch, den das kindische Wesen des Alten zu belustigen schien. Du hast das Kind eingegraben, aber es ist wieder zum Vorschein gekommen. Jener Benedetto war ja dein Sohn, das Kind der Baronin Danglars.

Nein, nein! flüsterte Villefort kopfschüttelnd. Ich habe nur einen Sohn, Eduard, und der spielt im Garten. Und eine Tochter, Valentine. Aber die ist tot!

Der Narr, das ist seine fixe Idee! rief Roskowitsch. Nun, ich sehe wohl, damit ist bei ihm nichts anzufangen. Aber weshalb sagtest du das nicht in der Sitzung? Alle Leute glaubten doch, daß jener Benedetto dein Sohn sei. Weshalb gingst du fort! Und als du nach Hause kamst, fandest du deine Frau und Eduard tot.

Diesmal antwortete der Alte nicht. Roskowitsch beobachtete ihn genau. Sollte Villefort sich erinnern? Seine Augen waren immer noch starr auf denselben Punkt gerichtet.

Eduard spielt im Garten! sagte er dann ruhig. Wenn ich meine Akten gelesen habe, werde ich zu ihm gehen.

Dummkopf! murmelte Roskowitsch. Es ist nichts mit ihm anzufangen.

Damit ging er wieder nach der Tür der Krankenstube.


 << zurück weiter >>