Adolf Mützelburg
Der Herr der Welt
Adolf Mützelburg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Auf der Salzsee-Insel

Wo steckt er denn nur? Auf der Insel soll er doch sein! Wir müssen endlich hinter seine Schliche kommen!

Verdammt, das müssen wir! Ich kann ihn gar nicht mehr leiden, seit er so einsiedlerisch geworden ist. Es sieht beinahe aus, als wolle er sich nicht mehr um uns kümmern! Aber wart' nur, Bursche, wir fassen dich schon!

Ein verteufelter Weg, bei Moses und den Propheten! Kaum ein Fleck, wo man mit Sicherheit seinen Fuß hinsetzen kann. Meine alten Füße vertragen solchen Weg nicht mehr. Gib mir deinen Arm, Bruder Hillow! So.

Die beiden kletterten weiter. Es waren die Mormonen Doktor Wipky und Hillow, der stämmige Kentuckier.

Ah, sagte Wipky jetzt, der keuchte und stöhnte. Hier ist eine Stelle, auf der man ausruhen kann. Und man hat eine ganz hübsche Aussicht von hier, wahrhaftig. Der Junge ist gar nicht so dumm. Aber er könnte etwas Besseres tun, als schöne Aussichten suchen.

Ihr Diener, meine Herren! sagte jetzt eine Stimme hinter den beiden. Also macht ihr mir wirklich einmal das Vergnügen?

Teufel, da ist er selbst! rief Wipky. Guten Tag, Wolfram, wie geht es dir, mein Junge?

Gut! antwortete dieser kurz und reichte den beiden Mormonen die Hand. Wie geht's in der Stadt? Noch alles in Ordnung?

Du tätest besser, dich selbst davon zu überzeugen, sagte Hillow. Es ist unrecht, hier auf diesen Felsen zu hocken.

Nun, sage uns, was treibst du hier auf dieser Insel? Macht es dir Spaß, den Robinson zu spielen? fragte der Doktor.

Vielleicht, antwortete Wolfram, es gefällt mir, allein zu sein, das ist alles!

Hm, das ist sehr egoistisch gedacht! meinte Wipky. Du entziehst den Brüdern deine Dienste, nicht wahr, Hillow?

Ich weiß nicht, was egoistisch ist, erwiderte der robuste Kentuckier. Aber du könntest uns drüben wohl von Nutzen sein.

Hoffentlich bin ich noch Herr meines Willens und kann sein, wo es mir gefällt. Sagt kurz, habt ihr den Auftrag, mich zurückzuführen?

Den Auftrag? Nein, antwortete der Doktor. Wir kommen aus eigenem Antriebe, weil wir deine besten Freunde sind. Du mußt befürchten, ausgeschlossen zu werden. Und was soll aus deiner Braut werden?

Was aus ihr werden soll? Meine Frau, nichts Besseres und nichts Schlimmeres!

Sie muß sich eines Besseren besinnen, wenn sie dich solange nicht sieht, sagte Wipky. Sie hat dich ohnehin in der letzten Zeit nicht mehr so zärtlich angesehen wie früher, und wenn ein anderer kommt, der zärtlicher ist –

Zum Teufel, sei ruhig mit deinem Geschwätz! rief Wolfram wütend. Bist du deshalb hierhergekommen, um mich zu ärgern? Bei Gott, wenn das der Fall ist, so kannst du einen Sprung in das Salzwasser machen.

Die Einsamkeit scheint keine Lehrerin der Höflichkeit zu sein, sagte Wipky gelassen und kalt. Wenn du mir aber auch drohst, so will ich doch weiter davon sprechen. Ich sage dir die volle Wahrheit. Wir haben keinen Überfluß an Frauen, und es ist die Rede davon gewesen, wenn du die Mormonenbraut nicht in Anspruch nimmst, sie einem anderen anzutrauen.

Das fehlte! rief Wolfram bitter lachend. Leider nehme ich Amelie allerdings in Anspruch, und ich möchte es keinem raten, sie mir abspenstig zu machen, übrigens wird das auch keinem gelingen, nicht einmal dir, gelehrter Doktor!

Unter uns, im Vertrauen gesagt, deine Geliebte wird einem anderen zugesprochen, wenn du nicht bald zurückkommst und etwas Vernünftiges tust. Wir brauchen Frauen, und die Französin ist hübsch.

Laß mich zufrieden! rief Wolfram, zuerst wütend, dann höhnisch lachend.

Der Doktor stieg nun mit Hillow den Felsen hinab. Auch der Kentuckier schien von dem Besuche nicht sehr erbaut zu sein. Er ging mürrisch neben Wipky und äußerte seinen Unmut darüber, daß ein so junger und rüstiger Mann seine Zeit mit Grillenfängerei vertändele, während man in Neu-Jerusalem alle Hände notwendig gebrauche.

Unterdessen war Wolfram auf einen Felsenvorsprung getreten, um den beiden nachzuschauen. Wieder kreuzte er die Arme, und mit jeder Minute wurde seine Stirn finsterer und seine Brauen zogen sich dichter zusammen. Er war düster schön, wie ein gefallener Engel.

Es ist Zeit! sagte Wolfram. Ich will hinüber nach der Stadt. Vielleicht zum letztenmal!

Er stieg langsam die Felsen hinab. Unten in einer Bucht lag ein kleines Boot mit einem Ruder. Der junge Mann setzte es in eine Öffnung des Spiegels hinten ein – auf die Weise, wie es die Matrosen in den Häfen tun – und indem er das Ruder in eine schnelle und halb drehende Bewegung versetzte, lenkte er das Boot nach dem östlichen Ufer des Sees. Dann ging Wolfram langsam und die Stellen, an denen er gesehen werden konnte, vermeidend, durch die Niederlassung. Nicht einmal einen Blick warf er auf die erleuchteten Fenster und die Gruppen, die vor oder in den Häusern saßen. Endlich stand er fünfzig Schritt vor einem großen Blockhause still. Es diente zur Wohnung für diejenigen Frauen, die entweder alt oder krank oder zu häßlich waren, um von einem der Mormonen zur Gattin gewählt zu werden. In diesem Hause, obgleich sie zu keiner Art der eben erwähnten Frauen gehörte, befand sich auch Amelie von Morcerf.

Sie saß in einem Zimmer, das so einfach war, daß selbst die geschmackvolle und feine Hand der jungen Französin ihm nur wenig Reiz zu verleihen vermocht hatte. Sie saß im Scheine der spärlich brennenden Kerze und hatte den Kopf auf die Hand gestützt.

Schon am anderen Tage nach ihrem Besuche auf dem Berge der Wünsche hatte ihr ein Mann, den sie früher nicht bei den Mormonen gesehen, einen Brief des Lords oder Grafen zugestellt.

»Denken Sie nicht, Mademoiselle« – so schrieb der Graf – »daß ich Ihnen absichtlich Schmerzen und Kummer bereiten will. Ich fühle vollkommen mit Ihnen, ich erkenne Ihre Lage. Aber ich wiederhole Ihnen, was ich Ihnen schon gesagt. Ihr Aufenthalt bei den Mormonen soll dazu beitragen, einen bestimmten Zweck zu erreichen, der, wie ich hoffe und glaube, auch Ihnen zugute kommen wird. Gegen jede Gefahr schützt Sie mein Versprechen und der Mann, der Ihnen diesen Brief überbracht. Sie haben nicht einmal nötig, sich ihm zu vertrauen. Er kennt meine Befehle und wird über Sie wachen, ohne daß Sie ihn noch besonders aufmerksam zu machen brauchen. Verhalten Sie sich gegen Wolfram ganz, wie es Ihnen Ihr Herz vorschreibt. Ich glaube, daß die Zeit Ihrer Erlösung von den Mormonen nicht fern ist.«

Amelie hatte den Mann, der ihr den Brief überbracht, seitdem oft wiedergesehen. Er war ihr aber nie genaht, hatte nie wieder ein Wort mit ihr gesprochen. Er war ein Mann in den dreißiger Jahren, ein Handwerker, wie es schien, und sein offenes, kluges Gesicht, seine freundlichen Augen flößten Vertrauen ein. Man wußte in der Kolonie, daß er vom Lord Hope gekommen. Wie es hieß, hatte ihm der Lord die Erlaubnis gegeben, sich den Mormonen anzuschließen. Er war sehr fleißig, sehr tätig und sehr geschickt, und hatte sich in der Kolonie schon Achtung erworben. Sein Name war Bertois, und es hieß, daß er ein geborener Franzose sei.

Wolfram stand unterdessen vor dem Hause und sah düster und gedankenvoll hinauf. Er wußte, daß das Zimmer, in dem noch Licht brannte, seiner Geliebten gehöre.

Trotz der Freiheit, die den Mormonen durch ihre Sitten im Umgange mit den Frauen gestattet war, erlaubte es das Gesetz doch nicht, daß ein Mann ohne Begleitung einer Frau dieses Haus betrat. Wolfram aber wollte Amelie allein sprechen. Er klopfte an und bat eine alte Frau, die die Stelle der Dienerin vertrat, Amelie herabzurufen.

Nach einigen Minuten erschien eine schlanke Gestalt in einem hellen Mantel auf der Schwelle der Tür.

Ich bin es, Amelie, sagte Wolfram mit einer Ruhe, die in diesem Augenblick erkünstelt war. Ich habe mir die Freiheit genommen, Sie zu stören. Darf ich Sie um eine Unterredung bitten? Geben Sie mir Ihren Arm.

Sie hatten sich früher Du genannt. Amelie zögerte einen Augenblick. Dann legte sie ihren Arm in den seinen.

Wolfram führte sie schweigend durch die Niederlassung, in der jetzt allmählich das fröhliche Geräusch erstarb. In einiger Entfernung von der Kolonie befand sich ein kleines Wäldchen von Sträuchern und niedrigen Bäumen. Die Mormonen hatten es stolz Park von Neu-Jerusalem getauft und einige Bänke angebracht. Dorthin ging Wolfram mit Amelie. Der wachsende Mond erhob sich hinter den Bergen im Südosten, und sein mattes Licht floß zitternd nieder auf die ruhige, stille Erde. Rings regte sich kein Lüftchen. Die Natur schlief ihren träumerischen Schlaf.

Der junge Mann ließ den Arm seiner Begleiterin sinken und setzte sich auf eine von den Bänken. Zögernd setzte sich Amelie neben ihn. Vielleicht zitterte sie vor Frost oder vor Aufregung, denn sie zog ihren Mantel jetzt fester zusammen.

Amelie, sagte Wolfram endlich, wir wollen es uns gestehen. Wir haben uns gegenseitig getäuscht.

Getäuscht? sagte die Französin mit ihrer schönen und klangvollen Stimme, die aber jetzt zitterte. Getäuscht? Wenn einer von uns getäuscht worden ist, so bin nur ich es gewesen.

Doch wohl nicht ganz, sagte Wolfram, der, wie es schien, sich Mühe gab, möglichst ruhig und gelassen zu sprechen. Auch ich habe mich in Ihnen getäuscht, Amelie. Damals, als ich Sie in Paris kennen lernte, glaubte ich, daß Sie dazu geschaffen seien, ein abenteuerliches Leben zu führen, sich in alle Lagen zu finden, und deshalb forderte ich Sie auf, Ihr Schicksal mit dem meinigen zu vereinigen. Ich glaubte damals nicht, daß Sie alte Vorurteile und überspannte Ideen auf die Spitze treiben würden. Ich habe Ihnen vorgeschlagen, meine Gattin zu werden – freilich nur nach dem Ritus der Mormonen. Aber wer unter den Wölfen ist, muß mit ihnen heulen. Ich kann nicht verlangen, daß die Mormonen meinetwegen eine Ausnahme machen. – Ich könnte sie ja verlassen! – Aber Ihre Lage wird sich dann verändern. Sie kennen die Sitten der Mormonen. Sie haben keinen Überfluß an Frauen, und man wird Sie dazu zwingen, einen Mann zu wählen.

Zwingen? rief Amelie. Oh, ich möchte den sehen, der mich dazu zwingen will. Ich fürchte mich vor niemand. Was ich tun werde, werde ich aus freien Stücken, nach meinem eigenen Willen tun. Grämen Sie sich darüber nicht!

Ich gräme mich nicht, sagte Wolfram finster und etwas gereizt. Aber würden Sie aus freien Stücken einen Mormonen heiraten?

Sie setzen eine verneinende Antwort voraus, weil ich es Ihnen abgeschlagen! sagte Amelie beinahe spöttisch. Aber dennoch ist die Möglichkeit vorhanden. Zu Ihnen stand ich in einem anderen Verhältnis, Wolfram, in einem ganz anderen. Ihnen hatte ich meine Zukunft anvertraut, und Sie hatten versprochen, mir die Ihrige zu widmen. Von diesen Mormonen hier habe ich das nicht zu erwarten, kann es auch nicht verlangen. Ich werde meinen Entschluß danach einrichten.

Ohne diese Möglichkeit, die Sie andeuteten, würde ich Ihnen allerdings einen anderen Vorschlag gemacht haben.

Gut, sprechen Sie. Ich werde Sie anhören. Ich sprach jene Möglichkeit nur aus, ohne sie für eine Gewißheit auszugeben.

Ich würde Sie gefragt haben, ob Sie mit mir zusammen die Mormonen verlassen wollten, sagte Wolfram. Ich weiß freilich noch nicht, ob ich es tun werde. Es wird auch schwer sein, diese Flucht auszuführen. Denn die Mormonen glauben, daß ich ihnen zur Dankbarkeit verpflichtet bin, und werden es versuchen, mich zurückzuhalten. Auch dürfte es keine leichte Aufgabe sein, von hier aus andere bewohnte Gegenden zu erreichen. Indessen, das ist Nebensache. Würden Sie mich begleiten?

Nur unter einer einzigen Bedingung: daß Sie mir, sobald wir einen bewohnten Ort erreicht haben, die Mittel und die Möglichkeit verschaffen, nach Frankreich zurückzukehren. Das ist Ihre Pflicht. Und, bei Gott, ich verlange nicht zu viel!

Und Sie wollen ohne mich nach Frankreich zurückkehren? fragte Wolfram finster.

Ich werde Sie nicht hindern, mich zu begleiten, antwortete Amelie kalt.

Nun, dann wird es wohl das beste sein, wenn Sie hier zurückbleiben! sagte Wolfram bitter. Ich sehe es ein, es ist das klügste, was Sie tun können. Meine Unterredung ist zu Ende. Ich kam, um jenes Verlangen an Sie zu stellen, und Sie weisen es zurück.

Ich weise es zurück, ja, wenn Sie nicht zugleich auf jene Bedingung eingehen, antwortete Amelie. Wolfram zögerte noch eine Minute lang. Dann stand er hastig auf.

Lassen Sie uns zurückkehren, Amelie, sagte er. Und wenn es das letztemal ist, daß wir uns gesehen haben, so leben Sie wohl!

Leben Sie wohl, Wolfram, antwortete Amelie, und sie mußte ihre ganze Kraft anstrengen, um ihre Ruhe zu bewahren. Mögen Sie an einem anderen Orte die Ruhe finden, die Sie mit mir zusammen nicht finden konnten, und mag Ihr Gewissen durch die Wohltaten, die Sie anderen vielleicht noch erweisen, Sie darüber trösten, daß Sie mich – doch schweigen wir davon!

Wolfram ging.

Drei Tage darauf saß Wolfram auf einem Felsstück vor der ihm als Wohnstätte dienenden Höhle, das die ganze Insel weit überragte und einen freien Blick über den ganzen See gestattete.

Jedem hätte die Veränderung auffallen müssen, die inzwischen in seinen Zügen vor sich gegangen war. Seine Augen waren hohler, seine Wangen magerer geworden. Seine Züge hatten den Ausdruck des Stolzes und der Verachtung nicht verloren. Aber sie waren um vieles düsterer geworden als früher. Eine Art von krankhafter Gereiztheit lag in jeder seiner Mienen.

Am Tage nach dem Besuche der beiden Mormonen auf der Insel und der Unterredung mit Amelie war ein Bote von Neu-Jerusalem herübergekommen und hatte den jungen Mann auf offizielle Weise und im Namen des Propheten und obersten Führers Brigham Young aufgefordert, seiner Trägheit zu entsagen und zu den Brüdern zurückzukehren. Wolfram hatte ihnen kaum geantwortet und nur im allgemeinen geäußert, daß er tun und lassen würde, was ihm gut dünke.

Wolfram überblickte von seiner Warte aus den ganzen See, und sein Auge war nach der Richtung von Neu-Jerusalem hingewandt. Er bemerkte deshalb auch bald eine kleine Barke, die ihre Richtung nach der Insel nahm. Als sie sich näherte, erkannte Wolframs scharfes Auge zwei Männer in derselben. Er glaubte, es seien abermals Wipky und Hillow. Als die Barke aber näher kam, erkannte er nur Wipky darin. Der andere Mann schien ein Ruderer zu sein, den der Doktor angenommen.

Es dauerte geraume Zeit, ehe der Doktor die Felsen erklommen. Er kam allein. Wolfram stand weder auf, um ihm entgegenzugehen, noch würdigte er ihn eines Blickes.

He, Freund, rief Wipky, du willst also ewig auf der Insel bleiben?

Wenigstens solange es mir hier gefällt!

Du weißt aber, wem die Insel gehört?

Die Insel? Nun, wem denn?

Den Mormonen, glaube ich, sagte Wipky.

Nun gut, und was will das sagen?

Daß die Insel zum Mormonengebiet gehört und daß also –

Daß also – Zum Henker, spanne mich nicht auf die Folter.

Daß du sie wirst verlassen müssen, wenn du fortfährst, die Brüder durch deine Teilnahmlosigkeit und deine Trägheit zu reizen! erwiderte der Doktor sanft und ruhig.

Wolfram stieß ein kurzes und verächtliches Lächeln aus. Dann sah er den Doktor spöttisch an.

Bist du gekommen, um mir meine Verstoßung anzuzeigen? fragte er dann.

Auf mein Wort, nein! erwiderte Wipky.

Aber die Gemüter sind gegen dich erbittert. Man hat vielleicht zu viel von dir gehofft und ist nun ärgerlich darüber, daß du die Hoffnungen nicht erfüllst. Du fehlst allerorten, denn unsere anderen Baumeister sind nicht viel wert. Aber gerade deshalb wird man strenge gegen dich sein.

Und das ist alles? fragte Wolfram. Das habe ich mir längst alles selbst gesagt.

Nicht alles, meinte Wipky. Morgen ist Sonntag und nach dem Gottesdienst Versammlung.

Zum Henker, ja doch, und was weiter?

Und es werden einige Antrauungen stattfinden.

Die mir höchst gleichgültig sind!

So? vielleicht auch nicht! sagte Wipky. Ich hörte, daß die Französin einem von den Brüdern angetraut werden soll.

Die Französin? sagte Wolfram und suchte ruhig zu scheinen. Wem soll sie denn angetraut werden?

Darüber weiß ich nichts, antwortete Wipky. Zu Anfang haben wir natürlich alle gedacht, daß sie deine Frau werden würde. Aber seit du uns und sie auf diese Weise vernachlässigst, sind begreiflicherweise andere Bewerber aufgetreten.

Ich verzichte auf sie; antwortete Wolfram. Du weißt es ja seit langer Zeit.

Und es würde dir gleichgültig sein, wenn ein anderer sich um sie bewürbe?

Ganz gleichgültig. Aber nenne mir spaßeshalber die, die in Neu-Jerusalem auf Freiersfüßen gehen!

Nun, zuerst ich! sagte Wipky.

Du? fuhr Wolfram auf, und sein Gesicht nahm einen ganz eigentümlichen Ausdruck an, einen Ausdruck, vor dem selbst Wipky erschrak.

Du scheinst erstaunt, sagte er etwas bitter. Aber ich habe keine Frau, man hat mir schon so oft Vorwürfe darüber gemacht, und ehe ich eine Alte oder Häßliche heirate, weshalb soll ich nicht an die junge und schöne Französin denken? Ich wiederhole dir, es wäre mir nicht eingefallen, wenn du noch Absichten auf sie hättest. Da du aber zurücktrittst, so sehe ich nicht ein –

Er unterbrach sich und schwieg. Wolfram hatte sich von ihm abgewendet und sah auf den See hinaus.

Du hast recht, vollkommen recht, ich begreife es! sagte er dann mit eisig kalter Stimme.

Der Doktor war ohne Zweifel uneinig mit sich selbst darüber, was er von Wolfram denken solle. Sein Äußeres schien eine tiefe Bewegung zu verkünden. Aber seine Worte waren kalt, ruhig, klar und unzweideutig.

Die Zeremonie wird morgen stattfinden, sagte er dann. Wirst du zugegen sein?

Ich weiß es noch nicht, antwortete Wolfram. Ich werde mich besinnen.

Du bist aber auch vorgeladen in deiner eigenen Angelegenheit, erinnerte Wipky.

Ich weiß es, und meine Antwort bleibt dieselbe, erwiderte Wolfram.

Wipky ging, nicht ohne die Lippen zusammenzupressen und eine Verwünschung über den hochmütigen Burschen zwischen den Zähnen zu murmeln.

Die ersten Strahlen der Sonne fielen am folgenden Morgen auf die Spitzen der Felsen, als Wolfram sich anschickte, die Insel zu verlassen. Tiefer Morgen war so klar, rein, duftig, ruhig und schön, wie ihn nur die frommste Phantasie für einen Sonntagmorgen wünschen kann. Der Spiegel des Sees war eben und glatt, wie der blaue und wolkenlose Himmel über ihm. Kein Luftzug kräuselte die Wellen, und als Wolfram langsam sein Boot nach Neu-Jerusalem hinüberruderte, konnte er die glitzernde Furche, die sein Boot zog, bis zurück zu der Insel erkennen.

Er wußte, wo sich das Haus befand, in dem Hillow, der Kentuckier, mit seiner Familie wohnte. Es lag so ziemlich an dem Saume der Niederlassung, und Wolfram konnte es erreichen, ohne von vielen bemerkt zu werden.

Er richtete also seine Schritte dorthin, und nach einigen Minuten trat er in die Wohnung des Mormonen.

In der Stube war alles sauber und reinlich, und Wolframs zerlumpter Anzug bildete einen unangenehmen Kontrast zu der schlichten und reinlichen Eleganz dieses Zimmers. Selbst die Kinder schienen es zu fühlen, denn sie wichen zurück, als Wolfram eintrat, Hillow trat ihm freundlich entgegen.

Ei, Bruder Wolfram! sagte er und reichte ihm die Hand, Wirklich einmal bei uns, und am Sonntag?

Ja, erwiderte der junge Mann. Und weißt du, weshalb ich komme?

Ich kalkuliere, ich soll ein gut Wort für dich einlegen bei dem Propheten und bei den Ältesten.

Nein, das eben nicht, sagte Wolfram. Fürs erste wollte ich dich nur bitten, mir einen Anzug zu leihen.

Haha, das ist alles? rief der Mormone herzlich lachend. Nun, es ist wahr, nimm es mir nicht übel, du siehst verteufelt abgerissen aus. Geh in das Nebenzimmer. Da steht mein Kleiderschrank; suche dir aus, was du willst.

Wolfram trat in das anstoßende Zimmer und kam nach zwanzig Minuten sehr verändert heraus. Allerdings war Hillow ein wenig breitschulteriger als Wolfram, dafür aber war der junge Mann auch größer, und im allgemeinen stand ihm die braune Jacke des Kentuckiers sehr gut. Außerdem hatte sich Wolfram rasiert, bis auf den dunklen Schnurrbart.

Alle Wetter, ich kalkuliere, du siehst jetzt aus wie ein echter Gentleman! rief Hillow verwundert und erfreut. Hätte nicht geglaubt, daß meine Jacke so gut aussähe. Nun komm zur Kirche!

Ich danke dir, erwiderte Wolfram. Ich werde allein gehen. Und wenn du mir einen Gefallen tun willst, so sage den Brüdern nicht vorher, daß du mich gesehen hast.

Wie du willst, sagte der Kentuckier. Mache nur nicht wieder neue Dummheiten!

Mit diesem Rat entließ er den jungen Mann, der jetzt aus dem Hause schritt und noch eine Zeitlang am Ufer des Jordan entlangging.

Bald darauf hörte er fröhliche Musik von dem Mittelpunkte der Stadt her. Einen Fremden würde diese Musik, die übrigens durchaus nicht schlecht war, überrascht haben. Wolfram aber wußte, daß es bei den Mormonen Sitte war, die Gläubigen, die sich zum Gottesdienst versammelten, mit Musik zu empfangen.

Während die Musik noch ertönte, ging Wolfram nach dem Orte der Versammlung. Die Kirche oder vielmehr der Tempel war noch nicht vollendet. Er sollte einst im größten Maßstabe und mit größter Pracht erbaut werden. Für jetzt erhob sich auf dem Raume, der für den zukünftigen Tempel bestimmt war, nichts als ein großer Schuppen, auf dem die Fahnen Nordamerikas und einige andere Fahnen, die von den Mormonen willkürlich aufgepflanzt waren, flatterten. Dieser Schuppen diente indessen nur dazu, der Versammlung bei Regenwetter Schutz zu gewähren. An einem so schönen Sonntage, wie dem heutigen, pflegte die Versammlung der Gläubigen auf langen Bänken Platz zu nehmen, die halbkreisförmig geordnet waren und in deren Mitte sich eine Art von Altar und Kanzel für die Seher und die Priester befanden.

Wolfram, der sich unbemerkt genähert hatte, ließ sein Auge über die Versammlung schweifen. Er glaubte Amelie neben einigen alten Frauen zu erkennen. Dann setzte er sich neben einige Greise, die auf der letzten Bank saßen und ihn nicht kannten. Er beugte sich nieder, stützte den Kopf auf beide Hände und erwartete so den Verlauf des Gottesdienstes und der anschließenden Versammlung.

Der Prophet Brigham Young, der zugleich die Stelle eines ersten Beamten vertrat, erhob sich und sprach den Segenswunsch über die Versammlung und ihr Beginnen.

Gläubige Brüder und Schwestern! Wir haben dieses Land, das Land der Verheißung, Deseret genannt, das heißt: »die Honigbiene«. Wir haben einen Bienenstock zum Symbol unseres Glaubens, des wahren Glaubens, gewählt. Weshalb? Die Antwort ist klar. Wir haben damit andeuten wollen, daß wir ein tätiges Volk seien, daß Arbeit, Tätigkeit und Eifer allein des wahren Gläubigen würdig sind. Die Kirche der wahren Gläubigen, die Kirche der Zukunft muß durch rastlose Bemühungen errichtet werden. Niemand darf die Hände in den Schoß legen und feiern.

Gläubige Brüder und Schwestern! Solange ich nach Gottes Gnade und durch die Wahl der Ältesten mein heiliges Amt bekleide, habe ich noch nie Gelegenheit gehabt, euch diesen unseren Grundsatz wegen eines bestimmten Falles in das Gedächtnis zurückzurufen, und ich danke Gott dafür. Heute aber muß ich es tun wegen zweier Personen, die ich nicht mit dem Namen von Gläubigen belegen kann, da sie ihn nicht verdienen. Die erste dieser Personen ist Wolfram.

Ihr werdet euch erinnern, wie er nach Nauvoo zu uns kam, wie wir ihn mit Freuden empfingen und wie wir alle glaubten, daß er der Gemeinschaft der Gläubigen durch seinen Eifer und seine Talente nützlich sein werde. Er war ein Architekt und ein tüchtiger Mann, wie wir ihn brauchten. Anfangs entsprach er allen unseren Erwartungen. Aber seit wir in Neu-Jerusalem sind, mußte ich mit Bedauern bemerken, daß er sich mehr und mehr von uns und seinen Verpflichtungen zurückzog. Er hörte auf, tätig zu sein, er vernachlässigte die ihm übertragenen Arbeiten und trug dazu bei, daß sie ins Stocken gerieten. Ich habe ihn freundschaftlich ermahnen und auffordern lassen, zu uns zurückzukehren. Aber er zog es vor, auf einer einsamen Insel zu leben. Ich habe ihn endlich bestimmt auffordern lassen, heute hier zu erscheinen und sich vorher bei mir zu melden, damit ich noch einmal eine gütliche Rücksprache mit ihm nehmen könne. Er hat dies nicht getan, und ich nehme also an, daß er nicht hier ist, daß er auch diese Aufforderung verachtet und mir offen Trotz geboten hat.

Es tut mir darum leid, daß es soweit gekommen, fuhr der Prophet fort. Ich bin gewiß der erste, der Wolframs Talente anerkennt. Aber um so unverzeihlicher ist es von ihm, sie zu mißbrauchen und den Gläubigen ein böses Beispiel zu geben. Andererseits ist es meine Pflicht, meine strenge Pflicht, darüber zu wachen, daß die mir anvertraute Gemeinde rein bleibe und daß sich kein räudiges Schaf unter sie mische. Deshalb muß ich in diesem ersten Falle – möge er für immer der einzige bleiben! – die Strenge unserer Gesetze in ihrer ganzen Kraft und in ihrem ganzen Umfange in Anwendung bringen. Wolfram, wo bist du?

Er rief diese letzten Worte mit erhobener Stimme. Alles war still. Wolfram rührte sich nicht. Nur Hillow erhob sich abermals und blickte unruhig umher.

Er ist nicht hier! sagte der Prophet. So erkläre ich denn auf Grund unserer Gesetze und nach dem Beschlusse der Ältesten besagten Wolfram für ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Gläubigen. Sein Fuß darf nie wieder diese Stätte betreten, er ist aller Rechte und aller Gnadenmittel der wahren Kirche verlustig, er ist ausgestoßen aus dem Gebiete der Gläubigen und geächtet.

Was die andere Person anbetrifft, von der ich vorhin sprach, fuhr der Prophet jetzt fort, so ist es die Begleiterin Wolframs, die Französin Amelie, euch bekannt unter dem Namen die Mormonenbraut. Sie hat schon von jeher eine Stellung zu den wahren Gläubigen angenommen, die eher feindlich als freundschaftlich war. Sie hat erklärt, Wolfram nicht nach den Gebräuchen unserer Kirche heiraten zu wollen, sie hat sich von uns zurückgezogen. Nun aber gilt das Gebot des Fleißes und der Tätigkeit bei uns nicht nur für die Männer, sondern auch für die Frauen. Wie der Mann mit dem Beil, mit der Hacke, mit dem Spaten, so muß die Frau im Hause wirtschaften und arbeiten und ein nützliches Glied unserer Gemeinschaft sein. Dieser Zweck kann aber nur dann erreicht werden, wenn sie wirklich eine Frau, wenn sie verheiratet, wenn sie einem wahren Gläubigen angetraut ist. Die Französin ist jung, sie hat seit langer Zeit unseren Schutz genossen, unser Brot gegessen. Sie muß endlich aufhören, eine Müßiggängerin zu sein. Sie muß die Zwecke des Weibes erfüllen.

Der erste und einzige Zweck eines Weibes aber ist der, eine Hausfrau und eine Wirtschafterin zu sein. Deshalb fordere ich diejenigen von den unverheirateten Männern, die hier versammelt sind, auf, zu erklären, ob einer von ihnen geneigt ist, die Französin Amelie von Morcerf als sein Weib anzunehmen und sich dieselbe antrauen zu lassen!

Das Erstaunen war ziemlich lebhaft und allgemein, als Wipky sich erhob. Zwar ließ sich vermuten, da er eine angesehene und einflußreiche Person war, daß er überhaupt etwas sagen wolle.

Du hast eine Aufforderung erlassen, Bruder, wandte er sich an den Propheten, und du findest in mir einen Gläubigen, der sie gehört hat. Es war mein Wille, unverheiratet zu bleiben. Aber ich habe in der letzten Zeit gefühlt, daß meine angegriffene Gesundheit sich gebessert und meine Kraft, statt sich zu vermindern, sich vermehrt hat. Ich glaube noch lange Zeit mit einer Frau glücklich leben zu können. Meine Wahl war schon früher auf Amelie von Morcerf gefallen, und jetzt, nachdem Wolfram ihr nicht mehr zur Seite steht, ist es erstens ein Bedürfnis für sie, jemand zu ihrem besonderen Schutze zu haben, und zweitens eine Pflicht für mich, die Begleiterin meines einstigen Freundes – denn ich nenne ihn noch so – zu beschützen. Deshalb erkläre ich mich bereit, die Französin Amelie von Morcerf als meine Gattin anzunehmen.

Hast du etwas dagegen einzuwenden, Schwester Amelie? fragte der Prophet.

Die Französin erhob sich. Ihr Gesicht war nie blasser, ihr Auge nie umflorter gewesen, als es sich jetzt nach einem flüchtigen Blick über die Versammlung auf den Propheten richtete.

Ich habe einige Worte zu sagen, sagte sie dann mit ihrer schönen Stimme und ihrem französischen Akzent. Ich weiß, daß es den gläubigen Schwestern freisteht, unter mehreren Bewerbern zu wählen, und da ich, wenn auch wider meinen Willen, zu den Gläubigen gerechnet werde, so mache ich von diesem Rechte Gebrauch. Es handelt sich darum, ob noch andere von den Gläubigen auftreten, die nach meiner Hand verlangen. Frage sie!

Die Französin ist in ihrem Rechte, sagte der Prophet, wählend Wipky sein Auge rasch über die Versammlung schweifen ließ, als wolle er die Absicht eines jeden Einzelnen erforschen. Gläubige Brüder, sind noch andere unter euch, denen die Hand der Französin wünschenswert erscheint?

In der Versammlung erwarteten wohl wenige, daß sich jemand erheben würde. Denn die Zahl der unverheirateten Männer war sehr gering und Wipkys Einfluß war so groß, daß es so leicht niemand wagen konnte, ihm entgegenzutreten.

Dennoch erhob sich ein Mann. Er hatte dicht hinter Amelie gesessen und unbemerkt von den anderen ihr kurz zuvor einige Worte zugeflüstert.

Er war noch jung, und heute in seinem Feiertagskleide sah er sehr gut aus. Sein gebräuntes Gesicht, seine offene Miene und sein kluges Auge mußten für ihn einnehmen.

Ah, es ist Bertois, der Franzose! flüsterte es durch die Reihen.

Bei diesen Worten erhob auch Wolfram zum ersten Male sein Gesicht. Bis jetzt hatte er scheinbar teilnahmslos zugehört, denn er hatte vorher gewußt, wie alles kommen würde. Diese Wendung war neu. Es trat jemand gegen Wipky auf. Das hatte er nicht erwartet.

Er richtete sein Auge auf den Franzosen, und mit einem Zucken der Eifersucht mußte er sich gestehen, daß dieser vor allen anderen Bewerbern den Vorzug verdiene. Er hatte früher nie auf ihn geachtet, kaum von seiner Ankunft bei den Mormonen gehört, wußte auch nicht einmal, daß er von dem Lord Hope abgesendet worden – denn sonst würde er ihn gehaßt haben.

Er war es, den Amelie meinte, die Verräterin! flüsterte in ihm die Stimme der Eifersucht. Er war es, von dem sie sprach. Sie hat es mit ihm abgekartet. Ich verachte sie!

Bruder, sagte jetzt der Franzose zu dem Propheten gewendet, da du die Frage an uns richtest, so erkläre ich dir, daß es stets ein stiller Wunsch von mir gewesen ist, meine Landsmännin Amelie von Morcerf zu meiner Gattin zu machen. Wenn sie mein Anerbieten annehmen sollte, so werde ich mich sehr glücklich schätzen, ihr einen Herd und ein sicheres Obdach zu bereiten.

Doktor Wipkys Augen waren so klein geworden, daß man fast nichts mehr von ihnen sah. Aber sie waren auf Bertois gerichtet und durchaus nicht freundschaftlich. Enttäuschung und bange Erwartung malten sich in seinen Zügen. Er mochte so gut wie Wolfram fühlen, daß Bertois ein gefährlicher Nebenbuhler sei.

Der Bruder Bertois hat uns bis jetzt noch keine Veranlassung zum Tadel, wohl aber zum Lob und zur Anerkennung gegeben, sagte der Prophet. Es läßt sich nichts gegen sein Verlangen einwenden. Sind noch andere unter den gläubigen Brüdern, die auf die Hand der Schwester Amelie Anspruch machen?

Es herrschte tiefste Stille. Niemand erhob sich, Wipky und Bertois waren die einzigen Bewerber.

Es meldet sich niemand weiter! sagte der Prophet. Gut denn, die Französin wird zwischen beiden zu wählen haben. Der Bruder Wipky ist ein achtbarer und um die Kirche der Gläubigen wohlverdienter Mann. Er hat uns oft mit seinen Ratschlägen zur Seite gestanden. Aber auch der Bruder Bertois verdient unsere Anerkennung. Wir also haben weder für den einen noch für den anderen etwas Günstiges oder Nachteiliges zu sagen. Die Entscheidung liegt in deiner Hand, Schwester Amelie.

So erkläre ich, den Antrag des Bruders Bertois anzunehmen! sagte Amelie mit lauter und fester Stimme.

Die Schlange! Sie hat mich betrogen! murmelte Wolfram vor sich hin.

Wohlan denn, so wollen wir die Schwester Amelie dem Bruder Bertois antrauen! rief Brigham Young. Ich bitte die beiden, vorzutreten und an dem Altar Platz zu nehmen.

Halt! rief Wipky jetzt, der seinen Ärger und seine Enttäuschung nur mühsam verbergen konnte. Halt! Ich habe noch eine Einwendung zu machen. Die Zeremonie muß aufgeschoben werden. Ich glaube wohl verlangen zu dürfen, daß man mich anhört.

So sprich, sagte der Prophet. Niemand hindert dich daran. Welche Gründe hast du?

Ich kann sie den Ältesten nur im geheimen mitteilen und bitte deshalb, daß die Trauung bis auf heute über acht Tage ausgesetzt werde, sagte Wipky.

Es lag auf der Hand, daß dies eine leere Ausflucht war, und die meisten mochten so denken. Aber Doktor Wipky war unter den Mormonen ein angesehener und auch gefürchteter Mann. Seine Stimme mußte gehört werden. Der Prophet beriet mit den Ältesten.

So bleibt die Trauung ausgesetzt bis auf heute über acht Tage, sagte er dann. Wir werden bis dahin alle Gründe prüfen. Ich entlasse die Versammlung der Gläubigen mit meinem Segen. Gott schenke euch seinen Frieden, jetzt und immerdar. Amen!

Die Versammlung wollte sich erheben und auseinandergehen. Das plötzliche Erscheinen Wolframs jedoch hielt sie zurück. Der junge Mann war hastig aufgestanden und schritt jetzt durch einen Gang, der sich zwischen den Bänken befand, rasch bis in die Nähe der Kanzel vor. Dort stand er still, und seine Stellung war so stolz, so herausfordernd und dabei so verächtlich, daß aller Blicke voll Verwunderung auf ihm hafteten.

Zuerst einige Worte an jenes Weib! rief er mit erhobener Stimme und mit dem Ingrimm der Verachtung. Sie ist mir aus ihrem Vaterlande gefolgt, sie hat mir Treue geschworen, und jetzt, da ich im Begriffe stehe, diese Stätte der Bosheit zu verlassen, weist sie mich zurück, weil sie mit einem anderen geliebäugelt hat und meiner überdrüssig geworden ist. Wohlan, Amelie, ich danke Ihnen, Sie haben mir eine gute Lektion über Treue der Frauen gegeben! Seien Sie glücklich und amüsieren Sie sich mit Ihrem zukünftigen Gatten, bis es ihm gefällt, eine andere Frau zu nehmen und Sie zu Nummer Zwei zu machen. Für ihn konnten Sie tun, was Sie mir abschlugen. Oh, ich sehe jetzt klar und ich verachte Sie!

Jetzt war Amelie bleich geworden. Sie schien ihre Fassung zu verlieren. Dann aber erhob sie sich ein wenig und sagte mit schwacher, aber fester und laut vernehmlicher Stimme, so daß es jeder hören konnte:

Sie tun mir unrecht, Wolfram, und Sie werden es eines Tages einsehen.

Euch aber, ihr Mormonen! rief Wolfram jetzt wieder mit lauter Stimme, euch sage ich, daß ich mich nicht so wenig um euern Bann, um euern Fluch kümmere, als wenn eine Möwe mir drohen würde, sie wolle mich verschlingen. Ich habe mit meinem Geiste, mit meinem Selbst nie zu euch gehört. Ich bin zu euch gekommen, weil ich nichts Besseres hatte, weil mir alles gleich war. Ich werde wohnen, ich werde bleiben, ich werde tun, was und wo ich will, und wehe dem, der es wagen wird, mich in meinem Beginnen zu stören! Ich bin noch der alte Wolfram, und die Faust, die drei Zentner zu heben vermag, wird auch einen Mormonenschädel zu treffen wissen. Wer hat euch ein Recht gegeben, über mich zu urteilen? Gehört euch dieses Land, dieses Gebiet? Mein ist die Luft, mein ist der See, mein ist der Fels, so gut wie euer. Drohen könnt ihr mir, aber ich will den sehen, der die Drohungen ausführt. Ich sage euch, ich bleibe auf der Insel, und wer sich den Kopf zerschellen will, der mag dort hinkommen und mich vertreiben. Auserwähltes Volk Gottes, ich lache dir ins Gesicht und verachte dich, denn ich kenne die Betrügereien deiner Führer und die kindische Leichtgläubigkeit deiner Frommen. Lüsternheit, Willkür und Eigennutz halten euch zusammen. Sagt den Toren, daß ihr ehrliche Leute seid, nicht mir. Und nun habe ich gesagt, was ich auf dem Herzen hatte. Tut, was ihr wollt, ich werde tun, was mir gut dünkt. Zwischen uns sei Kampf, wenn ihr ihn haben wollt. Wir wollen sehen, wer der Stärkste ist!

So wild, so gellend, so drohend waren diese Worte herausgeschleudert, daß ein Entsetzen die ganze Versammlung zu ergreifen schien, daß keine Lippe sich rührte, ihm zu widersprechen, keine Hand sich erhob, um ihn zu Boden zu schlagen.

Dann verließ er seinen Platz, nicht hastig und übereilt, sondern langsam und majestätisch, wie ein Held durch die Reihen des bewundernden Volkes schreitet. Ja, es lag eine Majestät in diesem Jüngling, in ihm loderte der prometheische Funken. Aber sollte er zur segenbringenden Flamme oder zum verderblichen Brande auflodern?

Niemand hielt ihn zurück. Stumm und entsetzt folgten ihm alle Blicke, bis er hinter den Häusern verschwand und dem See zuschritt.

Wolframs einzige Hoffnung während der folgenden Tage war die, daß die Mormonen ihn auf der Insel angreifen, es versuchen würden, ihn zu vertreiben.

Mit nicht geringer Überraschung und mit geheimem Grimm sah er am Ende der Woche, die jenem Sonntage gefolgt war, ein Boot der Insel nahen und erkannte mit seinen scharfen Augen in dem Manne, der es schnell und geschickt ruderte, jenen Franzosen, seinen Nebenbuhler Bertois. Weshalb kam dieser Mann? Wollte er zu ihm? Was hatte er ihm mitzuteilen?

Das Boot legte in der Tat an der Insel an, und nach einigen Minuten sah Wolfram seinen Nebenbuhler die Felsen heraufsteigen. Er war mit Flinte und Hirschfänger bewaffnet. Das konnte jedoch dem jungen Mann nicht auffallen. Denn die Mormonen entfernten sich nie eine Strecke weit von der Niederlassung, ohne bewaffnet zu sein. Sie hatten stets die Angriffe der Indianer zu fürchten, oder hofften auch, auf ein gutes Stück Wild zu stoßen.

Mit einer Miene, in der sich finsterer Stolz und verächtliche Geringschätzung paarten, richtete Wolfram seine Blicke auf den Franzosen. Es ärgerte ihn, daß dieser sich ihm in einer festen und zuversichtlichen Haltung nahte. Er hatte gehofft, ihn verlegen, verwirrt zu sehen. Statt dessen grüßte ihn dieser ruhig und mit einem forschenden, klaren Blicke.

Herr Wolfram, sagte er, Sie entschuldigen, daß ich Sie störe.

Ich muß es entschuldigen, und was wünschen Sie von mir? sagte Wolfram düster.

Ich komme wegen einer Dame, die einst ihrem Herzen nahe stand! sagte Bertois, während er seine Flinte an einen Felsen lehnte. Zwar weiß ich nicht, ob Sie Willens sind, ihr noch irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Aber ich hoffe es.

Sie hoffen es? sagte Wolfram mit einem verächtlichen Zucken der Lippen. Fürwahr, das ist eine große Uneigennützigkeit. Sie sind derjenige, den sich Amelie ausgewählt hat, Sie sind doch ihr Mann, oder werden es bald sein, und Sie wollen dennoch einem anderen erlauben, sich in die Angelegenheiten ihrer Gattin einzumischen?

Sie scheinen gereizt zu sein, Herr Wolfram, sagte Bertois ruhig. Die Sache indessen, die ich Ihnen mitzuteilen habe, fordert die größte Besonnenheit und die klarste Überlegung. Lassen Sie mich deshalb zuerst einen Umstand aufklären, der von Wichtigkeit ist. Amelie wird nie meine Gattin werden!

Oho! Was ist das für eine neue Teufelei? rief Wolfram bitter und höhnisch.

Keine Teufelei, sondern einfache Wirklichkeit! sagte der Franzose so fest und ernst, daß sich Wolfram beinahe beschämt fühlte. Ich schätze Fräulein Amelie viel zu hoch und habe eine viel zu bescheidene Ansicht von meinem eigenen Verdienst, als daß ich es je wagen könnte, meine Augen zu einer solchen Dame zu erheben. Das Schicksal meiner Landsmännin hatte von jeher mein Interesse erregt, und da ich einzusehen glaubte, daß ihr die Bewerbung Wipkys unangenehm sei, und da ich ferner glaubte, daß eine Wiederannäherung zwischen ihnen beiden nicht in das Reich der Unmöglichkeit gehöre, so trat ich als Bewerber um die Hand Amelies auf, aber nur, um ihr Zeit zu gewähren. Das war bei einfache Grund meiner Bewerbung. Sie sehen in mir weder einen Nebenbuhler noch einen Feind!

Viel Interesse! In der Tat, das ist wahr! sagte Wolfram noch immer spöttisch. Dann aber schien er einzusehen, daß er diesem Manne gegenüber keinen Grund habe, den Hochmütigen und Beleidigten zu spielen, und er sagte in aufrichtigem Tone:

Wenn dem so ist, so danke ich Ihnen. Aber Sie mußten doch vorher mit Amelie darüber gesprochen haben!

Nur wenige Augenblicke vorher, antwortete Bertois. Mein Entschluß stand erst dann fest, als Wipky mit seinem Antrage auftrat, und ich flüsterte Fräulein Amelie meine Absicht zu.

Gut, sagte Wolfram. Nun, und was haben Sie mir jetzt mitzuteilen?

Nichts Erfreuliches, erwiderte der Franzose. Die Angelegenheit ihrer Begleiterin hat eine schlimme Wendung genommen. Urteilen Sie selbst, ich werde Ihnen den Verlauf der Dinge erzählen.

Die Sache ist folgende, fuhr der Franzose dann fort. Ich war von Anfang an überzeugt, daß jener Antrag Wipkys nicht das Resultat einer augenblicklichen Laune oder gar der Großmut, sondern reiflicher Überlegung sei. Der Doktor mochte wissen, daß Sie allen Ansprüchen auf ihre Begleiterin entsagt hatten, und da er, wenn ich nicht irre, ehrgeizig ist und nach höheren Einflüssen strebt, so konnte ihm eine Verbindung mit der klugen und gebildeten Amelie nur von Vorteil sein, nachdem er den ersten Neid der Mormonenfrauen besiegt hatte. Von der Schönheit Amelies will ich weiter nicht sprechen. Genug, ich bereitete mich darauf vor, daß mir Wipky Hindernisse in den Weg legen würde. In der Tat kam er schon am anderen Morgen zu mir und stellte mir mit all der Schlauheit, die ihm eigen ist, vor, daß mir, dem einfachen Handwerksmanne, eine Frau wie Amelie wenig nützen könne, daß er mir eine andere reiche und arbeitsame Frau verschaffen wolle und daß ich meinen Ansprüchen entsagen solle. Ich erwiderte ihm, daß ich das nicht könne, da ich Amelie liebte. Darauf wurde er ärgerlich, erwähnte, daß ich ja erst seit kurzem bei den Mormonen sei und daß es allgemein auffallen würde, wenn ein so neues Mitglied gegen ein altes und bewährtes Haupt der Gemeinde auftreten wolle. Ich erklärte ihm jedoch, daß ich bei meinem Antrage beharre, und er verließ mich sehr mißmutig.

Ich sah voraus, daß Wipky gegen mich Ränke schmieden würde, und obgleich ich nur tat, als ob ich ruhig meiner Arbeit nachgehe, so beobachtete ich ihn dennoch ziemlich genau. Er hatte lange Konferenzen mit dem Propheten und mit den einflußreichsten der Ältesten. Gestern früh kam denn auch Brigham Young zu mir und sagte mir nach langen Umschweifen und Entschuldigungen, daß der Rat der Ältesten beschlossen habe, mich darum zu bitten, dem Bruder Wipky meine Ansprüche auf die Hand der Französin abzutreten, und daß er hoffe, ich werde diese Bitte erfüllen.

Ich blieb jedoch fest, da ich sehen wollte, wie weit man es treiben würde, und gab dem Propheten dieselbe Antwort wie dem Doktor. Darauf erklärte jener kraft seines Amtes als Gouverneur, daß es ihm allerdings leid tue, streng gegen mich sein zu müssen, daß aber der Beschluß der Ältesten feststehe, und daß Amelie die Gattin Wipkys werden müsse. Er stelle es mir frei, wenn ich sonst wolle, die Gemeinschaft der Gläubigen zu verlassen, hoffe aber, ich würde mich mit einem reichen und schönen Mädchen beruhigen, das er mir nannte und das meine Frau werden solle.

Ich weiß nun, daß am nächsten Sonntage die Trauung vollzogen werden soll, und daß Wipky sich gebärdet, als sei er bereits der Gatte Amelies. Heute ist Freitag. Die Zeit zum Überlegen also ist kurz. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß man Amelie Zwingen wird, die Hand jenes Mannes anzunehmen, und die Schurkerei Wipkys ist so groß, daß er wahrscheinlich versuchen wird, durch Gewalt und Betrug seinen Zweck zu erreichen. Leider hindern mich meine Pflichten, offen gegen die Mormonen aufzutreten. Ich gestehe Ihnen im Vertrauen, daß nur gewisse Rücksichten und die Befehle einer Person, der ich diene und die ich verehre, mich bei den Mormonen zurückhalten. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Wenn Sie noch einen Funken von Mitleid oder Interesse für jene Dame haben, so glaube ich fest, ist es jetzt Zeit, zu handeln. In kurzer Zeit würde es zu spät sein!

Und was soll ich dabei tun? fragte Wolfram, wie aus tiefen Gedanken erwachend.

Das kann ich Ihnen nicht sagen, mein Herr. Da ich Teilnahme für Amelie, vielleicht auch für Sie empfand, so hielt ich es für meine Pflicht, Sie von dem, was vorgefallen, zu benachrichtigen. Das weitere muß ich Ihnen überlassen. Meine Aufgabe ist beendet.

Er erwartete vielleicht, daß Wolfram sprechen würde. Aber er sprach nicht.

Adieu, sagte der Franzose dann. Ich hoffe, daß der schlimmste Fall nicht eintreten wird.

Er ging Wolfram begleitete ihn eine Strecke weit mit langsamen Schritten und, wie es schien, tief in Gedanken versunken. Es war eine mechanische Höflichkeitsbezeigung. – –

Es war ganz finster geworden. Von Deseret glänzte auch nicht ein einziges Licht mehr herüber. Wolfram ging nach der Höhle, nahm die Pistolen, die er dort aufbewahrte, untersuchte sie, gürtete den Hirschfänger um und stieg dann hinab zu seinem Boot.

Es mochte kurze Zeit vor Mitternacht sein, als er am Ufer von Neu-Jerusalem landete. Die ganze Niederlassung lag in tiefster Ruhe vor ihm. Die wenigen Wachen ausgenommen, die nach der Landseite hin gegen die Indianer ausgestellt waren, mochten alle Mormonen schlafen. Wolfram hatte seinen Plan entworfen. Er schritt in gerader Richtung auf das Haus zu, in dem Amelie bis jetzt gewohnt hatte.

Es war kein Licht mehr in diesem Hause. Wolfram hatte es erwartet. Aber er wußte, wo sich das Fenster befand, das zu dem Zimmer Amelies gehörte, und wenn das Haus auch bewacht wurde, so hoffte Wolfram doch, daß es ihm gelingen würde, vermittelst einer Stange das Fenster zu erreichen und dann Amelie zu wecken.

Im Begriff, eine solche Stange zu suchen, ging er nach einem benachbarten Zimmerplatz.

Herr Wolfram! flüsterte eine Stimme neben ihm. Ja, Sie sind es!

Der junge Mann fuhr zusammen und griff nach seinen Pistolen. Eine Gestalt tauchte neben ihm aus dem Dunkel auf. Er erkannte den Franzosen.

Ich wußte, daß Sie kommen würden, flüsterte dieser, und ich habe Ihnen eine unangenehme Nachricht mitzuteilen. Amelie ist nicht mehr in diesem Hause. Man hielt sie hier nicht mehr für sicher. Sie ist heute abend nach der Wohnung des Propheten gebracht worden.

Hölle und Teufel! murmelte Wolfram. Das ist ein vermaledeiter Zwischenfall!

Geben Sie indessen nicht alle Hoffnung auf! flüsterte der Franzose. Kennen Sie die Räumlichkeiten im Hause des Propheten?

Oh, gut genug, antwortete Wolfram. Ich bin oft bei ihm gewesen. Aber ohne Zweifel befindet sich Amelie in dem Zimmer der Frauen? Und um zu diesem zu gelangen, muß man das Zimmer passieren, in dem Brigham Young schläft.

Ganz richtig, sagte Bertois. Er hat zwei Frauen. Nur das Zimmer der einen stößt an das des Propheten. Amelie befindet sich in dem Zimmer der zweiten Frau. Zu diesem kann man vom Hausflur aus gelangen, besser vielleicht noch vom Hofe, da sich annehmen läßt, daß die Tür nach dem Flur verriegelt ist. Es handelt sich nur darum, in das Haus zu gelangen, das für gewöhnlich verschlossen ist. Und dazu will ich Ihnen helfen. Ich werde Brigham Young wecken und ihm sagen lassen, daß ich ihn notwendig sprechen müßte. Man wird das Haus öffnen, und Sie können die Gelegenheit benutzen, sich einzuschleichen. Was ich mit dem Propheten spreche, das ist meine Sache. Ich werde ihn jedenfalls so lange hinhalten, daß Sie Zeit genug haben, ihr Unternehmen auszuführen.

Die beiden schritten nebeneinander durch die Nacht dahin. Nicht ein einziges Licht brannte in ganz Neu-Jerusalem. Wächter auf den Straßen gab es nicht. Jeder Mormone war angewiesen, seine Familie und sein Haus zu schützen, wie er konnte. Auch das Haus des Hauptes der Gemeinde, das sie nach ungefähr fünf Minuten erreichten, lag im tiefsten Schweigen und in der tiefsten Dunkelheit.

Treten Sie jetzt zurück und benutzen Sie den günstigen Augenblick! flüsterte Bertois. Dann trat er auf das Haus zu und klopfte laut und rücksichtslos an die Fensterläden.

Es währte eine geraume Zeit, ehe es innen lebendig wurde und ehe man nach dem Begehr des nächtlichen Gastes fragte. Dann wurde die Tür geöffnet und Bertois trat ein.

Wolfram näherte sich der Tür und fand, daß sie glücklicherweise nicht wieder geschlossen war. Er trat also ohne Scheu in das Haus, ging über den Flur, riegelte die Tür, die nach dem Hof führte, auf, und befand sich nun in einem von Gebäuden umgebenen Raume.

Er wußte, daß das eine Frauengemach nach dem Hofe hinaus lag. Die Fenster waren mit rohen hölzernen Läden verschlossen. Glasscheiben befanden sich nicht in den Fenstern. Einen solchen Luxus kannte damals selbst der Gouverneur von Neu-Jerusalem noch nicht. Zwischen den Rahmen des Fensterkreuzes befanden sich nur straff ausgespannte Stücke von Gaze, die dazu dienten, die Insekten abzuhalten.

Die Fensterläden schlossen nicht so dicht, daß Wolfram nicht hätte bemerken können, daß sich in dem Zimmer ein matter Lichtschein zeigte, der wahrscheinlich von einer schwach brennenden Nachtlampe herrührte. Wolfram öffnete die Fensterläden, die nur angelehnt waren, und warf einen Blick in das Zimmer.

Eine weibliche Gestalt lag in einem Bett und schlief. Es war die zweite Frau des Propheten. Eine andere saß – ob schlafend oder wachend, das konnte Wolfram nicht unterscheiden – an einem Tisch, den Kopf auf die Hand gestützt. An ihren langen, goldblonden Locken erkannte Wolfram Amelie. Außer diesen beiden befand sich niemand im Zimmer.

Der junge Mann konnte die Gelegenheit nicht besser wünschen. Er zog sein Messer aus der Tasche, schnitt die Gaze auseinander, öffnete dann von innen den einen Flügel des Fensters und stieg in das Zimmer. Es handelte sich jetzt nur darum, Amelie, die das Gesicht vom Fenster abgewandt hatte, zu benachrichtigen, ohne die andere Schläferin zu wecken.

Auf den Zehen schlich Wolfram zu Amelie und flüsterte schnell: Ich bin es, Wolfram.

Amelie zuckte zusammen, Wolfram wiederholte hastig seine Worte, indem er gleichzeitig die Nachtlampe ausblies.

Keinen Laut, ich bitte, ich beschwöre Sie! flüsterte er. Wecken Sie die Frau nicht und folgen Sie mir durch das Fenster. Wir müssen fliehen, beide!

Sie sind es, Wolfram, sind Sie es wirklich? flüsterte Amelie zitternd.

Ich bin es. Folgen Sie mir, und schnell! bat er noch einmal und dringender.

Amelie war aufgestanden. Er zog sie mit sich fort nach dem Fenster, stieg zuerst hinaus und hob sie dann zu sich hinüber.

Aber Wolfram, wohin wollen Sie mich führen? fragte Amelie bebend.

Keine Frage jetzt! antwortete der junge Mann kurz und leise. Halten Sie sich dicht neben mir!

Ei betrat den Hausflur, und nach wenigen hastigen Schritten befanden sich beide vor dem Hause. Der schwierigste Teil der Aufgabe schien vorüber zu sein. Wolfram nahm Amelies Arm und eilte mit ihr durch die Nacht, dem See zu. Es ließ sich erwarten, daß sie niemand begegnen würden.

Dennoch fuhr Wolfram zurück, als er, an einem Hause vorübereilend, die Tür sich öffnen sah, und ein Mann mit einer Laterne heraustrat. Es war Wipky, der Doktor.

Das scharfe Auge des Mormonen hatte augenblicklich Wolfram und Amelie erkannt.

He, holla, was ist das? Bist du das, Wolfram? rief er mit lauter Stimme.

Der junge Mann ließ den Arm seiner Begleiterin fallen und wandte sich zu Wipky. Mit seiner stählernen Faust versetzte er dem Doktor einen Schlag auf die Stirn, dem dieser nicht ausweichen konnte und der ihn betäubt auf die Schwelle seines Hauses niederstreckte.

Dann, ohne weiter ein Wort zu sagen, ergriff er von neuem den Arm seiner Begleiterin und eilte mit ihr, so schnell er konnte, nach dem Ufer des Sees und nach der Stelle, wo das Boot lag.

Erst hier schien Amelie zur Besinnung zu kommen. Sie zögerte.

Wohin wollen Sie mich führen, Wolfram? sagte sie.

Fürs erste wollte ich Sie nach der Insel bringen, antwortete Wolfram nach einigem Zögern und mit gepreßter, dumpfer Stimme. Ich dachte nur an Ihre Rettung. Aber versprechen kann ich nichts. Ich will, ich muß diese Gegend verlassen. Begleiten Sie mich, es wird Ihr Glück sein.

Mein Glück? Wohl kaum, wenn Sie derselbe Mensch sind wie früher.

Ich bin ein anderer geworden, Amelie, ein anderer! sagte Wolfram dumpf und schwer. Noch einmal, wollen Sie mir vertrauen im Glück und Unglück? Ja oder Nein!

Und Sie wollen mein Begleiter, mein Beschützer, mein Retter sein, nichts weiter?

Nichts weiter – wenn Sie es so wollen! sagte Wolfram.

So sei es, und ich rufe Gott zum Zeugen an, daß Sie die Wahrheit sprechen!

Wolfram trat in das Boot. Er reichte Amelie seine Hand, und nach einer Minute befand sie sich in dem kleinen Fahrzeuge. Wolfram stieß ab.

Die Überfahrt dauerte nicht lange. Der junge Mann überlegte, ob er sogleich die weitere Flucht antreten solle. Jedenfalls aber mußte er seine Waffen von der Insel holen. Auch kannte er den See nicht genug, um in der dunklen Nacht das Wagestück zu unternehmen, ihn in seiner ganzen Breite zu durchschneiden. Er hoffte darauf, daß ihn die Mormonen nicht sogleich verfolgen würden.

Während der Überfahrt hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Auch jetzt führte Wolfram seine einstige Geliebte schweigend die Felsen hinauf. In der Höhle angekommen, brannte er eine kleine Lampe an und bat Amelie, sich auf dem Mooslager niederzulegen, das er sich bereitet hatte.

Dann trat er hinaus vor die Höhle und sah nach Neu-Jerusalem hinüber. Noch bemerkte er nirgends Licht; man schien also noch nicht an seine Verfolgung zu denken. Wolfram überlegte nun, wohin er fliehen solle. Zuerst handelte es sich darum, den See zu durchschiffen und an einem abgelegenen Punkt zu landen. Dann standen ihm drei Wege offen. Entweder er schlug die Richtung nach Kalifornien ein, oder er wendete sich nordwärts nach dem Oregongebiet, oder er ging nach Osten, um Nebraska und Missouri zu erreichen. Jeder von diesen Wegen war weit und gefährlich, jeder führte durch Einöden und Felsengebirge, die nur von Indianern bewohnt wurden. Das nächste Gebiet war Kalifornien, und Wolfram entschied sich dafür, den Weg dorthin einzuschlagen. Er durfte dann hoffen, in ungefähr drei Wochen einen Hafen zu erreichen, in dem er sich nach Europa oder dem östlichen Nordamerika einschiffen könne. Freilich fehlten ihm die Geldmittel dazu. Aber er mußte im Hafen vorher so lange arbeiten, bis er sie erlangt hatte.

Er trat in die Höhle zurück. Amelie saß auf dem Moosbett, und unwillkürlich senkten sich ihre Blicke, als sie denen des jungen Mannes begegneten.

Ich habe mich entschlossen, den Weg nach Kalifornien einzuschlagen, sagte er. Es ist ein weiter und gefährlicher Weg. Werden Sie die Mühen und Entbehrungen desselben mit mir teilen wollen?

Wie können Sie fragen, Wolfram? fragte Amelie sanft und ruhig. Ich bin entschlossen, alles zu wagen, um diese Menschen, um dieses Land zu verlassen.

Gut denn, sagte Wolfram. Es würde sich darum handeln, einen Hafen zu erreichen und uns nach Europa oder sonst wohin einzuschiffen. Doch fehlen mir die Mittel dazu. Besitzen Sie einiges Geld?

Nein, antwortete Amelie, und wieder senkten sich ihre Augen. Schon in New York –

Sie vollendete ihren Satz nicht. Aber über Wolframs Gesicht flog eine dunkle Röte. Er erinnerte sich, daß Amelie ihm dort ihr letztes Geld gegeben hatte.

Ich werde arbeiten! sagte er dann fest und entschlossen. In sechs Wochen werde ich so viel verdienen können, um die Überfahrt für uns beide zu bezahlen.

Arbeiten, Wolfram? sagte Amelie mit einem sanften Lächeln, das dem jungen Manne tief in die Seele drang. Das wird Ihnen schwer werden nach so langer Ruhe.

Wolfram wandte sich kurz ab, und während er nach seinen Waffen suchte, sie ordnete und instand setzte, lehnte sich Amelie zurück und schien zu versuchen, schlafen zu wollen.

So vergingen zwei Stunden. Der Tag konnte nicht mehr fern sein. Vor Tagesanbruch mußten sie die Insel verlassen. Wolfram nahm also außer der Flinte und Munition einzelne Gegenstände, die ihm jetzt von Wert waren, eine Hacke, einen Hammer, eine Jagdtasche, und stieg die Felsen hinab, um sie in das Boot zu legen.

Nachdem er alle Vorkehrungen beendet hatte, kehrte er in die Grotte zurück, um Amelie zu wecken, die inzwischen fest geschlafen hatte.

Fünf Minuten später glitt das Boot über die blaue Flut des großen Salzsees dahin.


 << zurück weiter >>