Adolf Mützelburg
Der Herr der Welt
Adolf Mützelburg

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Herr von Ratour

Im sogenannten Wintergarten, den Klängen der Musik lauschend, saßen der Professor Wedell, seine Frau und Don Lotario.

In den Pausen gingen und kamen neue Gäste. Viele von ihnen grüßten den Professor und knüpften ein flüchtiges Gespräch mit ihm an. Don Lotario schien die Aufmerksamkeit der Damen zu erregen, denn ihre Lorgnetten waren vorzugsweise auf ihn gerichtet. Wahrscheinlich hatte sich schon das Gerücht verbreitet, daß er ein Ausländer sei, und das erhöhte das Interesse für ihn.

Plötzlich jedoch und zufällig richteten sich die Blicke des Professors nach einer Seite, die er bis jetzt noch nicht beobachtet hatte, nach einer von den wenigen Logen, in denen sich vornehmere Personen befanden und die durch Vorhänge zum Teil verdeckt waren. Er erschrak, und dieses Erschrecken bei einem so ruhigen Manne mußte auffallen. Er war sogar bleicher geworden, und eine Minute lang wußten seine Blicke nicht, wohin sie sich richten sollten, bis sie endlich auf seiner Frau hafteten, die sein Erschrecken bemerkt hatte.

Was hast du, Paul? fragte sie unruhig und in deutscher Sprache, von der Don Lotario bis jetzt noch sehr wenig verstand. Du scheinst etwas Absonderliches bemerkt zu haben?

Der Professor machte eine gewaltsame Anstrengung über sich selbst, und es gelang ihm, zu lächeln.

Liebe Marie, sagte er, ich möchte es dir beinahe nicht sagen, aber du würdest mir vielleicht zürnen, wenn ich nicht aufrichtig wäre. Ich habe jemand gesehen, den du oft zu sehen gewünscht und gefürchtet hast, und den ich selbst seit langer Zeit nicht gesehen.

Ich ahne, es ist Therese! sagte die Professorin erbebend. Ja. es ist so!

Du hast es erraten, erwiderte der Professor, und wieder legte sich das Lächeln, aber etwas seltsam, um seine Lippen. Indessen, errege keine Aufmerksamkeit. Sieh nicht sogleich hin. Sie sitzt in der zweiten Loge mit dem Grafen Arenberg und einem andern Herrn.

Ja, dort saß Therese, halb verborgen hinter den Vorhängen, und ihr Gesicht, noch immer blaß und leidend, war mit einem unbestimmten und verschlossenen Ausdruck auf das Publikum und den Saal gerichtet. –

Am Vormittag des folgendes Tages besuchte Don Lotario den Professor, um ihm eine Arbeit vorzulegen. Später entstand aus dem Gespräch, das sie darüber führten, ein ferneres über Religion. Der Professor hatte gehört, daß Don Lotario mit dem Abbé Laguidais in Paris bekannt gewesen, und fragte den jungen Mann über dessen religiöse Ansichten, Don Lotario antwortete, daß er von diesen wenig mehr wisse, als der Abbé in seinen bekannten Schriften niedergelegt. Der Professor sagte darauf, er habe gehört, daß der Abbé sich in neuerer Zeit von religiösen Streitigkeiten und überhaupt vom öffentlichen Wirken auf diesem Felde ferngehalten. Dagegen erwiderte Don Lotario, daß der Abbé doch noch in Verbindung mit dem Grafen Arenberg stehe, der bekanntlich ein sehr religiöser Mann, vielleicht sogar ein Schwärmer sei.

Haben Sie vielleicht zufällig den Grafen Arenberg während Ihres Aufenthaltes in Paris kennengelernt? fragte der Professor aufmerksam, um auf Lotarios Bejahung fortzufahren: Dann kennen Sie auch wohl die junge Dame, die sich in seiner Gesellschaft befindet?

Mademoiselle Therese? Ja, ich habe sie einige Male gesehen, antwortete Don Lotario.

Und wollen Sie den Grafen nicht wieder in Berlin aufsuchen? fragte Wedell.

Ich weiß es noch nicht, sagte der Spanier.

Sie würden mir einen Gefallen tun, Don Lotario, sagte der Professor, indem er vertraulich seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes legte, wenn Sie Ihre Besuche in der Familie des Grafen fortsetzten. Ich möchte wohl wissen, in welcher Stimmung Therese sich jetzt befindet, wie sie lebt, was sie treibt. Ich habe mich einst sehr, sehr für sie interessiert – ich habe sie geliebt. Mein Wunsch wird Ihnen also natürlich erscheinen.

Lotario dankte dem Professor für das Vertrauen, das er ihm bewiesen, versprach ihm, sich nach Therese zu erkundigen, und empfahl sich dann, um nach Hause zu gehen.

In der Dämmerung – es war Winter und dämmerte sehr früh – begab sich Don Lotario dorthin. Das Haus des Grafen lag in der Wilhelmstraße, aber nicht unmittelbar an der Straße selbst, denn den Eingang bildete eine hohe Mauer, mit altertümlichen Verzierungen geschmückt, in deren Mitte sich ein großes Tor befand, über dem sich das Wappen des Grafen erhob. Dieses Tor war fest geschlossen, und die Mauer machte inmitten der anderen schönen Gebäude einen eigentümlichen Eindruck von Einsamkeit und Abgeschlossenheit. Neben dem Tor befand sich eine kleine Eingangspforte mit einem Klingelzug.

Don Lotario klingelte, und es erschien ein Diener, den er schon in Paris bei dem Grafen bemerkt hatte.

Der Herr Graf zu sprechen? fragte Don Lotario. Hier ist meine Karte.

Don Lotario de Toledo, wenn ich nicht irre, sagte der alte Diener mit einer Verbeugung. Der Herr Graf hatte mir aufgetragen, mich heute nach Ihrer Wohnung zu erkundigen.

Und Mademoiselle Therese? Ist sie zu sprechen? fragte der Spanier.

Sie befindet sich wohl, und ich glaube, sie ist bei dem Herrn Grafen, antwortete der Diener.

Die Räumlichkeiten im Innern waren durchaus einfach, entbehrten aber nicht einer gewissen altertümlichen Eleganz, die noch aus dem vorigen Jahrhundert zu datieren schien.

Der Diener meldete den jungen Mann, und nach einer Minute trat Lotario in ein geräumiges, helles und warmes Zimmer. Der Graf saß mit Therese am Kamin. Sie schienen gelesen zu haben, denn Bücher und Zeitschriften lagen auf einem Tische, der sich neben ihnen befand.

Willkommen in Berlin! sagte der Graf, auf Don Lotario zutretend und ihm die Hand schüttelnd. Wir erfuhren erst heute, daß Sie hier seien. Weshalb sind Sie nicht früher gekommen?

Don Lotario war bei dem ersten Anblick Thereses, die sich mit dem Grafen zugleich erhob, blaß geworden. Die Anrede des Grafen gab ihm jedoch seine Ruhe und Fassung wieder.

Ich wollte erst selbst zur Ruhe kommen und meine Einrichtungen vollendet haben, ehe ich mir erlaubte, die Ruhe anderer zu stören, sagte Don Lotario. Es freut mich, Sie unverändert zu finden, Herr Graf. Und auch Sie, Mademoiselle, hoffe ich –

Ja, Don Lotario, Gott sei Dank, mir ist hier in meiner Heimat besser geworden! sagte Therese, ihn unterbrechend und ihm freundlich und offen die Hand reichend, die Don Lotario nicht ohne Bewegung ergriff. Lassen Sie mein erstes Wort eine Bitte um Verzeihung sein! Wir reisten so schnell aus Paris ab, daß es uns nicht einmal vergönnt war, Ihnen Adieu zu sagen. Ach, ich will nicht davon sprechen! Aber der Tod der Madame Danglars, meiner einzigen Freundin, erschütterte mich so tief, daß die Luft von Paris unheimlich auf mir lastete, ich glaubte, Paris müsse über mich zusammenstürzen. Graf Arenberg meinte, das beste sei, in die Heimat zurückzukehren, und ich pflichtete ihm bei. Wirklich, ich habe hier meine Ruhe wiedergefunden.

Don Lotario hatte sich währenddessen zu den beiden an den Kamin gesetzt und beobachtete mit unruhiger Teilnahme das Gesicht Theresens. Es war ganz dasselbe wie in Paris. Nur ihre Wangen schienen ein wenig frischer, ihr Auge heller zu sein. Möglicherweise aber war dies die Wirkung der Winterluft oder des Feuers im Kamin. Sonst war das Gesicht des jungen Mädchens vollkommen ruhig, ihre Sprache sanft, angenehm und wohlwollend wie immer. Vergebens suchte sich Don Lotario in ihr jenes Mädchen vorzustellen, das ihm der Professor geschildert.

Ein Brief des Abbés meldete mir, daß Sie nach London gereist seien, sagte der Graf dann. Sie hatten gesagt, Sie würden sich dort ein Vierteljahr aufhalten, und wir erwarteten Sie deshalb erst später in Berlin. Es scheint Ihnen also in London nicht gefallen zu haben.

Nein, meine Erinnerungen an London sind trüber Art, antwortete Don Lotario. Ich bin froh, jene Stadt hinter mir zu haben. Meine Abreise hatte jedoch noch einen anderen Grund. Das Leben dort wäre mir zu teuer geworden. Lord Hope, von dem meine Vermögensverhältnisse abhängen, hat sich halb und halb für bankerott erklärt.

Was Sie mir erzählen, setzt mich in Erstaunen, sagte der Graf. Der Abbé schilderte mir den Lord als einen Mann, der so reich und dessen Vermögen so gut fundiert sei, daß er unmöglich verarmen könne. Indessen, wenn er Ihnen das geschrieben, so muß es sein. Er ist ein ehrenhafter Mann.

Ich glaube es, sagte der Spanier. Genug, da ich in London nicht ruhig genug studieren und nicht wohlfeil genug leben konnte, so bin ich nach Berlin gekommen, und ich gestehe, ich bin ganz zufrieden. Nichts zieht mich von meinen Studien ab, und meine Kasse wird nicht zu sehr angegriffen.

Sie studieren wahrscheinlich so fleißig, daß man kaum hoffen darf, Sie öfter zu sehen? nagte der Graf.

Im Gegenteil, wenn ich Ihnen nicht lästig bin, so komme ich recht oft, erwiderte der junge Mann. Ich habe mir vorgenommen, daß Ihr Haus und das des Professors Wedell die einzigen sein sollen, die ich besuche – natürlich nur, wenn es Ihnen lieb ist.

Don Lotario erwartete eine Frage nach dem Professor und hatte seinen Blick auf Therese gerichtet, als er dessen Namen nannte. Aber Thereses Miene blieb unverändert, und jene Frage nach dem Professor erfolgte nicht.

Ich hoffe, Sie essen mit uns zu Abend, sagte Graf Arenberg dann. Aber Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich Sie eine halbe Stunde mit Therese allein lasse. Der Abbé erwartet eine baldige Antwort von mir, und ich will heute an ihn schreiben.

Falls Fräulein Therese meine Gesellschaft nicht verschmäht! sagte Don Lotario, den nichts erwünschter kam.

Im Gegenteil, ich wollte Sie nach etwas fragen, sagte Therese. Ich bleibe bei Ihnen.

Der Graf ging. Don Lotario befand sich mit Therese allein vor dem Kamin. Der Augenblick, den er so sehr gefürchtet und gewünscht hatte, der Augenblick, in dem er nach seiner Trennung von Paris zum ersten Male wieder mit Therese allein sein würde – er war da!

Sie wollten mich nach etwas fragen? begann der junge Mann.

Ja, und da ich, wie Sie wissen, die Umschweife nicht liebe und vom ersten Augenblick unserer abenteuerlichen Bekanntschaft an ziemlich offen zu Ihnen gesprochen, so will ich auch jetzt nicht zurückhalten. Ich habe Sie bereits gestern abend gesehen.

Gestern abend? rief Don Lotario. Und ich Sie nicht? Wo war das?

Sie schienen zu sehr mit Ihrer schönen Nachbarin beschäftigt zu sein, sagte Therese scherzend und mit der größten Unbefangenheit. Ich meine mit der Frau Professorin!

Sie waren also in dem Wintergarten? sagte der junge Mann erstaunt. Ich habe Sie nicht dort bemerkt.

Wir waren in einer Loge, sagte Therese. Ich sah Sie zusammen mit dem Professor Wedell. Sagen Sie mir aufrichtig, hat er je mit Ihnen über mich gesprochen?

Ja, sagte der junge Mann, der nicht erwartet hatte, daß das Gespräch eine so eigentümliche und für ihn so wichtige Wendung nehmen würde – ja, und zwar heute morgen.

Und er hat Ihnen gesagt, in welchem Verhältnis er zu mir einst gestanden?

Er hat es mir gesagt, erwiderte Don Lotario. Er hat mir alles erzählt.

Alles? sagte Therese. Und in welchen Ausdrücken sprach er von mir? Aber seien Sie offen!

Ich will es sein! In den Ausdrücken der größten Achtung, der größten Teilnahme. Er schien sehr bewegt zu sein, die Erinnerung schien ihn tief zu ergreifen.

Aber Sie sind überzeugt, daß er glücklich ist und eine glückliche Ehe führt? fragte Therese.

Ja, ich bin davon überzeugt, antwortete Don Lotario. Nach allem, was ich während meines Aufenthaltes in Berlin gesehen habe – und ich bin täglich in der Familie des Professors gewesen – muß ich schließen, daß seine Ehe eine der glücklichsten ist, die es gibt.

Wohl! Wohl! Es freut mich von Herzen, das zu hören! sagte Therese.

Don Lotario hatte den Blick nicht von ihr gewendet. Er hätte es nicht gekonnt, um keinen Preis. Und eine ganz leichte Erregung abgerechnet, war ihr Gesicht ruhig, heiter, unverändert geblieben.

Sie sagten, der Professor hätte Ihnen alles gesagt, fuhr Therese dann fort. Auf diese Weise sind Sie auch zum Vertrauten meines Geheimnisses geworden. Haben Sie dem Professor gesagt, daß Sie mich kennen, daß Sie mich wieder sehen würden?

Ja, ich habe ihm gesagt, daß ich Sie flüchtig von Paris aus kenne.

Und sagte er, erwartete er, daß Sie mit mir über jenes Verhältnis sprechen würden?

Gesagt hat er es nicht, ob erwartet, daß weiß ich nicht. Aber da Sie Offenheit von mir verlangen und da ich sie Ihnen geben will, so muß ich noch eines hinzufügen. Er bat mich, zu erforschen, in welcher Stimmung Sie sich befänden, ob ihr Herz ruhig sei.

Ich vermutete das, sagte Therese. Ich kenne Paul, ich wußte, daß ihm daran gelegen sein würde, das zu erfahren. Und so will ich denn auch offen gegen Sie sein und gebe Ihnen die Erlaubnis, das, was ich Ihnen sage, ihm, aber auch nur ihm mitzuteilen.

Also sagen Sie ihm, daß ich ruhig, ganz ruhig bin, daß ich nach langen Kämpfen und nach der vollen Einsicht dessen, was ich verloren, doch endlich dahin gekommen bin, mit klarem Blick in die Welt zu schauen.

Sie schwieg. Don Lotario, der mit einer fieberhaften Aufmerksamkeit und mit verhaltenem Atem zugehört, saß schweigend und mit gesenktem Haupte da.

Jetzt trat der Graf ein. Sein helles Auge musterte flüchtig die beiden jungen Leute, die immer noch gedankenvoll dasaßen und in das Kaminfeuer starrten.

Ich bin lange ausgeblieben, sagte er dann. Aber mein Brief ist beendet, und der Abbé wird sich freuen, daß Don Lotario uns wiedergefunden. Liebe Therese, wir werden heute abend noch mehr Besuch haben. Herr von Ratour hat mir sagen lassen, daß er uns zum Tee besuchen und daß ihn vielleicht Madame Morel begleiten werde.

Das erstere ist mir angenehm, das letztere würde mir noch angenehmer sein, sagte Therese. Es würde darauf hindeuten, daß Madame Morel sich besser befindet.

Ratour hat mir Aussicht darauf gemacht, daß ihr Schmerz bald in jenes Stadium treten werde, welches man Trauer nennt, sagte der Graf, und ich wünsche es der guten Frau von Herzen. Kennen Sie vielleicht zufällig Herrn von Ratour von Paris her, Don Lotario?

Nein, erwiderte der junge Mann. Ich bin nie mit einem Herrn dieses Namens zusammengetroffen.

Freilich, Ratour war damals ein Gefangener, sagte der Graf. Nun, Sie werden eine interessante Persönlichkeit kennenlernen. Ratour ist Mediziner, zugleich aber ein religiöser Mann und, was viel sagen will, obendrein ein Mann von Welt. Er hatte das Unglück, in den bonapartistischen Prozeß wegen des Attentates von Boulogne verwickelt zu werden. Aber es gelang ihm, zu entfliehen, und eine eigentümliche Mission führte ihn nach Berlin.

Darauf erzählte der Graf dem jungen Manne die Geschichte Morels und seiner Gattin. Don Lotario hörte aufmerksam zu. Das Schicksal dieser unglücklichen Frau interessierte ihn.

Wir erwarten täglich den Schwager der Madame Morel, Herrn Herbault, sagte der Graf. Eine gefährliche Krankheit seiner Frau, die Folge einer schweren Niederkunft, hält ihn in Paris zurück. Einen einzigen Fall ausgenommen – der Graf blickte flüchtig auf Therese – habe ich nie einen wahreren und tieferen Schmerz gesehen, als den dieser Frau um ihren Gatten. Herr von Ratour versteht es gewiß in seiner doppelten Eigenschaft als Mann von Gemüt und als Arzt, ein Seelenleiden zu mildern. Aber alle seine Bemühungen bei Madame Morel sind vergeblich gewesen.

Es ist die liebenswürdigste Frau, die ich je kennengelernt habe, sagte Therese zu Lotario. Und der Schmerz um ihren Gatten läßt sich erst dann begreifen, wenn man weiß, auf welche Weise sie mit ihm vereint worden.

Sie erzählte kurz, was sie von Madame Morel über ihre Liebe zu Max und über ihre Vereinigung mit ihm durch den Grafen Monte Christo erfahren. Don Lotario schüttelte den Kopf.

Das klingt allerdings unglaublich! sagte er. Was mich aber bei der ganzen Sache am meisten interessiert, ist eine Entdeckung, die auch mich betrifft. Einige Freunde von mir in London glaubten, daß der Graf Monte Christo und mein Lord Hope dieselbe Person sei.

Das ist nicht unmöglich, durchaus nicht, sagte Graf Arenberg. Monte Christo ist plötzlich verschwunden und kann sich wohl nach Kalifornien zurückgezogen haben. Nun, vielleicht bietet sich Ihnen die Gelegenheit, mit Madame Morel über ihn zu sprechen.

Ein Diener meldete jetzt die Ankunft des Herrn von Ratour und der Madame Morel, und wenige Minuten darauf traten die beiden ein. Madame Morel war im tiefsten Schwarz.

Don Lotario fuhr zusammen. Auf den ersten Blick und trotz der Veränderung, die mit seinem Bekannten von jener Nacht vergangen war, erkannte er Etienne Rablasy, den Flüchtling, denselben, vor dem er den Grafen Arenberg hatte warnen wollen.

Ob das Erkennen ein gegenseitiges war, ob Ratour oder Rablasy Don Lotario wiedererkannte, das vermochte der junge Mann nicht zu unterscheiden. Kein Blick, kein Zucken verriet es. Als er Don Lotario vorgestellt wurde, verbeugte er sich mit der größten Ruhe und mit der vollkommenen Höflichkeit eines Mannes von Welt.

In seinem Wesen war Herr von Ratour überhaupt sehr verändert. Das war nicht mehr der freche, unverschämte Eindringling jener Nacht, der dem Don Lotario durch seine Kühnheit zu imponieren suchte – er war ein feiner, vollständiger Weltmann geworden. Sein Anzug war der eines Menschen, der etwas auf Kleidung gibt, ohne jedoch auffallen zu wollen, seine Miene aufmerksam, sein Betragen höflich. Er trug einen starken, schwarzen Backenbart, und sein Aussehen war gesund und frisch. Don Lotario sah, daß es ein Mann war, der wenig über dreißig Jahre zählen konnte, und in seinem großen, lebhaften, unruhigen Auge lag etwas, das Interesse erweckte.

Bei weitem fesselnder war das Gesicht Valentines für den jungen Mann. Er hatte nie einen solchen Ausdruck von Kummer und Schmerz auf einem Gesichte gesehen, wie auf dem dieser unglücklichen Frau. Ihre Haut war weiß wie Marmor geworden, ihre Augen waren gerötet. Aber es lag etwas ungemein Anziehendes und Liebenswürdiges in diesem Ausdruck des Schmerzes. Das Gespräch war zuerst ein ganz allgemeines und wurde fast nur von dem Grafen, Therese und Ratour geführt. Don Lotario dachte an die Erzählung Thereses, und Valentine Morel saß schweigend und mit gesenkten Augen da. Therese wußte sie jedoch zuletzt ebenfalls in das Gespräch zu ziehen.

Madame Morel, sagte der Graf endlich, Don Lotario ist ein Bekannter des Grafen Monte Christo.

Dieser Name schien die unglückliche Frau aus ihrer Apathie zu wecken.

Ah! sagte sie mit sichtlicher Teilnahme. Kennen Sie diesen ausgezeichneten Mann?

Ich glaube ihn zu kennen, erwiderte Don Lotario und führte die Gründe an, die ihn zu dieser Vermutung berechtigten.

Madame Morel war fest überzeugt, daß jener Lord Hope ihr Graf von Monte Christo sei. Sie fragte nach Haydee. Lotario hatte sie leider nie gesehen.

Nur eins begreife ich nicht, sagte Madame Morel kopfschüttelnd. Der Graf veranlaßte meinen Mann, sich der Sache Ludwig Napoleons anzuschließen, und bei seiner alles berechnenden Voraussicht mußte er es doch für möglich halten, daß Max gefangen werde. Ich begreife nicht, daß er nichts für meinen Mann getan hat, daß er ihn hat sterben lassen.

Vielleicht befand sich der Graf Monte Christo selbst in Verlegenheit, sagte Don Lotario und erzählte der jungen Frau, was ihm der Lord über den Wechsel geschrieben.

Das wäre möglich! sagte Valentine, während sie sich bemühte, ihre Tränen zurückzuhalten. Aber alles, was mir Max von ihm erzählte, deutete auf einen so großen Reichtum, daß es beinahe unglaublich klingt, wenn man von einem Bankerott dieses Mannes spricht.

Dennoch muß dem so sein, sagte Graf Arenberg, und wie Don Lotario ganz richtig sagte, seine eigenen traurigen Angelegenheiten werden Lord Hope verhindert haben, das Schicksal Ihres unglücklichen Gatten zu überwachen.

Kennen Sie die Adresse des Grafen? fragte Valentine Don Lotario. Ich möchte an ihn schreiben.

Ich kenne sie nicht genau, wohl aber der Abbé Laguidais, antwortete dieser. Der Abbé kann Ihren Brief weiter befördern. Freilich – er kommt leider zu spät!

Es trat eine peinliche Pause ein. Don Lotario wollte sie abkürzen.

Sie sind Mediziner, Herr von Ratour? sagte er zu dem Franzosen. Mit welchen Krankheiten haben Sie sich vorzugsweise beschäftigt? Oder sind sie überhaupt kein Praktiker?

Ich bin einer von den Praktikern, die am wenigsten Gelegenheit haben, ihre Praktik anzuwenden, antwortete Ratour mit einem höflichen Lächeln. Ich habe mich vorzugsweise mit den Krankheiten der Seele beschäftigt.

Also mit dem Wahnsinn und der Melancholie? fragte Don Lotario.

Mit dem Wahnsinn weniger, erwiderte Ratour, mehr mit der letzteren. Mein Hauptstudium war von jeher, zu erforschen, ob nicht die Krankheiten des Herzens und der Seele zu heilen oder wenigstens abzukürzen seien, dadurch daß man medizinische Mittel anwendet. Man könnte mir allerdings einwenden, daß ich dann die Seele nur als einen Teil des Körpers betrachtete, auf den man medizinisch einwirken könne. Aber das ist doch nicht ganz der Fall. Ich glaube nur, daß durch krankhafte Seelenzustände auch ein krankhafter Zustand des Körpers eintritt, und daß man durch Heilung des letzteren auch den ersteren heben kann.

Nun, vielleicht nehme ich Ihre Kunst einst in Anspruch, sagte Don Lotario mit einem trüben Lächeln. Haben Sie schon Kuren ausgeführt und Erfolge erzielt?

Ich glaube, ohne anmaßend zu sein, daß Mademoiselle Therese zum Teil durch meine Mittel ein wenig heiterer geworden ist. Nicht so glücklich bin ich bei Madame Morel. Sie verschmäht sogar die Medizin, die ich ihr geben will.

Sie machen sich vergebene Mühe, sagte Madame Morel fest.

Auch die Homöopathen behaupten, Schmerz, Kummer und Freude durch Arzneien mildern zu können, sagte Graf Arenberg, in der Absicht, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Und was Therese anbetrifft, so ist sie allerdings etwas heiterer geworden, seit wir das Vergnügen haben, Herrn von Ratour zu kennen.

Don Lotario fühlte bei diesen Worten ein unangenehmes und stechendes Gefühl in seinem Herzen.

Ich weiß wirklich nicht, ob die Medizin des Herrn von Ratour mir geholfen, sagte Therese lächelnd. Vielleicht haben andere Gründe, die in meiner Seele lagen, dazu beigetragen, sie zu erheitern.

Ratour warf einen eigentümlichen Seitenblick auf Therese. Don Lotario bemerkte es nicht. Er sah auf den Tisch. Thereses Worte hatten ihn noch schmerzlicher durchzuckt.

Sollte er dem Grafen mitteilen, wer dieser Herr von Ratour war? Die Pflicht der Freundschaft verlangte es. Wenigstens mußte Graf Arenberg gewarnt werden. Aber was hatten die Worte Ratours bedeutet? War es seine Medizin gewesen, durch die Therese geheilt worden? Oder – oder – war Ratour der Mann, der ihrem Herzen einen Teil der früheren Heiterkeit zurückgegeben?

Dieser letztere Gedanke war dem jungen Manne fast unerträglich. Sollte dieser Mann es sein, der Eindruck auf ein Herz machte, das einst den Professor geliebt? Diesen hätte Don Lotario für würdig gehalten, sein Nebenbuhler zu sein. Ihm wäre er – wenn auch mit schwerem Herzen – gewichen. Aber einem Ratour? Unmöglich!

Er wurde in seinen Gedanken gestört, denn Madame Morel erhob sich, um Abschied zu nehmen, und Ratour begleitete sie. Don Lotario mußte sich ebenfalls empfehlen.

Ich hoffe, wir werden uns nicht nur hier sehen! sagte Ratour höflich, als er sich Don Lotario empfahl. Wollen Sie mir die Ehre Ihres Besuches gönnen – hier ist meine Karte.

Don Lotario mußte diese Artigkeit erwidern und gab dem Franzosen ebenfalls seine Karte, auf der auch seine Wohnung angegeben war. Dann trennten sie sich.

Der junge Spanier ging langsam nach Hause. Dieser Tag war für sein Seelenleben ein sehr reicher gewesen. Zuerst die Mitteilung, die ihm der Professor gemacht, dann die Eröffnungen Thereses und nun noch dieses Wiedersehen Rablasys – es war fast zuviel. Er ging nach Hause. –

Todmüde, abgespannt bis auf den letzten Funken von Lebenskraft, kehrte er nach seiner Wohnung zurück, setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb an Ratour nichts als die Worte:

»Ich werde schweigen.« –

Dann fiel ihm jenes Blatt in die Augen, das ihm Lord Hope mit auf den Weg gegeben. Er hatte es in der letzten Zeit oft durchgelesen. Es enthielt allgemeine Lebensregeln, Regeln, die aus einer eigenen, tiefen Erfahrung und aus einer genauen Kenntnis des menschlichen Lebens hervorgegangen waren. Jetzt weilte sein Blick lange auf einer derselben; sie hieß:

»Wenn du glaubst, irgendein Unglück oder eine Widerwärtigkeit nicht ertragen zu können, so versuche es wenigstens, ihr zu widerstehen. Siehst du ein, daß deine Kräfte zu schwach sind, oder daß das Unglück zu groß ist, so ist es immer noch Zeit, zu unterliegen!«

Ich will es versuchen! sagte Don Lotario mit einem tiefen Seufzer und legte das Blatt fort. –

Als Don Lotario am andern Morgen spät erwachte, überreichte ihm sein Diener ein Billett, das vor einer Stunde abgegeben worden war. Es lautete:

»Verehrter Don Lotario!

Obwohl ich Sie erst seit gestern kenne und wohl weiß, daß ich keine Ansprüche auf einen Freundschaftsdienst von Ihrer Seite habe, so weiß ich doch, daß Sie dem Unglück Ihre Teilnahme nicht versagen werden. Ich bitte Sie deshalb, mich heute zwischen zwölf und ein Uhr zu besuchen. Sollte Herr von Ratour, der in demselben Hause wohnt, Sie bemerken, so bitte ich Sie, ihm zu sagen, daß Ihr Besuch nur ein Höflichkeitsbesuch ist. Ratour wird aber, wie ich hoffe, nicht zu Hause sein.

Valentine Morel.«

Don Lotario war etwas überrascht. Aber hier half kein langes Besinnen, und da es schon elf Uhr war, so kleidete er sich rasch an. Seine Wohnung war nicht weit entfernt von derjenigen der Madame Morel. Don Lotario wohnte am Gendarmenmarkt, Ratour und Frau Morel in der Behrenstraße in der Nähe der Wilhelmstraße. Nach wenigen Minuten befand sich Don Lotario auf der Treppe, die zu der Wohnung der Madame Morel führte.

Ein aller Diener öffnete dem jungen Manne und führte ihn, nachdem er seinen Namen genannt, in das Empfangszimmer Valentines. Die junge Frau schien die Ankunft Don Lotarios mit Ungeduld erwartet zu haben. Sie kam ihm mit einer Miene entgegen, die eine gewisse Aufregung verriet.

Ah, mein Herr, rief sie, ich habe den ganzen Morgen meinen Brief bereut. Ich hätte eine andere Gelegenheit abwarten sollen, um meine Bitte an Sie zu richten. Aber es ist geschehen, und ich kann nichts tun, als Sie um Verzeihung bitten.

Ihr Vertrauen ehrt mich, Madame! sagte Lotario. Bitte, sprechen Sie!

Vertrauen! Ja, es ist Vertrauen, das ich Ihnen schenken will! rief Madame Morel. Wie ich auf den Gedanken gekommen bin, mich gerade Ihnen zu offenbaren, das weiß ich nicht. Vielleicht, weil auch Sie in Verbindung mit dem Grafen Monte Christo stehen, mit diesem Manne, den ich über alles verehre. Doch, mein Herr, verzeihen Sie mir – Ratour kann jeden Augenblick kommen, um mich zu besuchen. Ich muß eilen. Was halten Sie von Herrn von Ratour?

Diese Frage war so ernst betont, und Madame Morel schien so gespannt auf die Antwort Don Lotarios, daß der junge Mann bedenklich wurde und stutzte.

Madame, sagte er zögernd, ich kenne Herrn von Ratour erst seit gestern abend. Also –

Das ist wahr, unterbrach ihn Valentine, deren ganzes Wesen hastig und ängstlich war. Aber man sagt doch immer, daß der erste Eindruck entscheidet.

Nun, Madame, wenn Sie die Frage so stellen, sagte Don Lotario, dann muß ich Ihnen antworten, daß Ratour nicht der Mann ist, dem ich mich unbedingt anvertrauen würde.

Ah – ganz mein Gefühl! Dasselbe, was ich empfinde! rief Madame Morel und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Ja, auch ich kann ihm nicht trauen, ich weiß nicht, weshalb. Dürfte ich doch nur mit dem Grafen Arenberg über ihn sprechen!

Aber weshalb dürfen Sie das nicht, Madame? fragte Don Lotario.

Weshalb? Oh, er hat sich bei dem Grafen so in Gunst zu setzen gewußt, daß ich es nicht wage irgend etwas über ihn zu sagen! antwortete Valentine. Und was soll ich auch sagen? Ich habe nur ein unbestimmtes Mißtrauen gegen ihn. Ich kann nicht glauben, daß mein Mann, daß Max tot ist! rief die junge Frau weinend. Das bloße Wort Ratours kann mir nicht genügen!

Haben Sie denn irgendwelche Gründe, zu glauben, daß ihr Gemahl nicht tot sei? fragte er. Ich hörte gestern abend die Erzählung von seinem Tode. Sie klingt wahrscheinlich.

Ja, wahrscheinlich, rief Valentine. Und doch kann ich sie nicht glauben. Ich weiß nicht, ob Ratour mich täuscht, ob er aus bestimmten Gründen mir mehr oder weniger sagt, als er weiß. Aber ich mißtraue ihm. Mein Herz sagt mir, daß Max noch lebt.

Sie müssen also doch Verdachtsgründe haben, sagte Don Lotario, den diese Angelegenheit ernstlich zu beschäftigen anfing und der eine Verräterei Ratours durchaus nicht für unmöglich hielt.

Es wird mir schwer werden, mich Ihnen klar zu machen, sagte Valentine. Doch will ich es versuchen. Fürs erste kann ich nicht glauben, daß die Regierung Ludwig Philipps grausam genug wäre, einen Mann heimlich hinrichten zu lassen, der fast gar keinen Anteil an dem Vergehen hat, das man ihm zur Last legt. Es ist wahr, daß in politischen Prozessen zuweilen unerhörte Dinge geschehen sind, aber so weit darf man es nicht treiben. Jedenfalls würde man meinem Mann verstattet haben, mich noch einmal vorher zu sehen oder mir einen letzten Brief, ein Abschiedswort zuzusenden.

Aber welche Absicht kann Ratour gehabt haben, Sie zu täuschen und hierherzuführen?

Vielleicht ist er ein Agent der Regierung, antwortete Madame Morel. Vielleicht will man das letzte Mittel versuchen, meinen Mann zur Nennung eines Namens zu zwingen, den die Regierung wissen will. Vielleicht sagt man ihm, daß er mich nicht eher wiedersehen würde, als bis er den Wunsch der Regierung erfüllt habe.

Offen gestanden – das ist sehr unwahrscheinlich.

Oder – Ratour handelt für sich allein, fügte Madame Morel zögernd hinzu. Welche Absichten er dabei hat – ich weiß es nicht. Vielleicht kennt er die Lage meines Mannes, vielleicht weiß er, daß Max nicht imstande ist, sich meiner anzunehmen, vielleicht hat er Zwecke, die – doch ich kann darüber nicht sprechen!

Sie setzen mich in Erstaunen! unterbrach Lotario die errötende Frau. Dann wäre Ratour ein ganz gemeiner Verbrecher! Aber Sie müssen Gründe haben, einen solchen Verdacht zu hegen! Schenken Sie mir Ihr volles Vertrauen! Sprechen Sie sich darüber aus.

Es wird mir schwer, aber ich will es versuchen. Ratour war im Anfang sehr höflich, sehr besorgt für mich, ganz wie ein Freund meines Mannes es gewesen wäre. Als er aber sah, daß mein Schmerz sich nicht milderte, als wir hier in Berlin angelangt waren, änderte er sein Betragen. Er blieb nicht mehr ein Freund, ein Beschützer. Er sprach von anderen Dingen, er ließ Worte mit einfließen, die darauf hindeuteten, daß Max vor seinem Tode gesagt habe, Ratour solle einst der Beschützer seines Kindes, vielleicht auch mein Gatte werden. Er sprach sich nie ganz klar darüber aus, aber ich erriet leicht, was er meinte. Und das hat mich mit Abscheu und Widerwillen gegen ihn erfüllt. Ich die Gattin eines anderen! Und vielleicht ist Max nicht einmal tot! Und selbst, wenn er tot wäre – wie könnte ich je einen anderen Mann lieben? Wie könnte ich daran denken, einem anderen anzugehören, während ich noch das Trauerkleid um den Verlorenen trage!

Und spricht Ratour jetzt noch so zu Ihnen? fragte Don Lotario aufmerksam.

Nein, antwortete Madame Morel. Er änderte sein Betragen etwas plötzlich, und sein Benehmen gegen mich wurde fast kühl. Er sprach fast nie mehr von Morel, und als ich meinte, ich könne wohl nach Paris zurückreisen, setzte er diesem Wunsche nicht mehr dieselben Gründe entgegen, die er früher stets geäußert. Das bestärkt mich noch mehr in dem Gedanken, daß er mich nur von Paris fortgelockt, um freies Spiel mit mir zu haben, und daß er sich meiner entledigen möchte, nachdem er eingesehen, daß er keine Hoffnung hat.

Sollte die junge Frau recht haben? Don Lotario zweifelte kaum daran. Er wußte, was Valentine nur ahnte: daß Ratour ein Betrüger und Verbrecher sei. Er wußte noch mehr. Er kannte das Verhältnis, in welchem Ratour zu Therese stand. Ratour war kalt gegen Madame Morel geworden, als er anfing, auf Therese zu hoffen.

Es ist wirklich nicht leicht, sich in einer so eigentümlichen Angelegenheit auszusprechen, sagte er nach einer Pause. Aber Sie haben doch Verwandte in Paris. Haben Sie nicht an diese geschrieben, haben diese keine näheren Erkundigungen eingezogen?

Das ist es eben, was mich in meinem Verdachte bestärkt! rief Madame Morel. Ich habe keinen Brief, keine Nachricht von Emanuel und Julie. Und doch habe ich drei Briefe an sie geschrieben.

Sie überließen die Besorgung dieser Korrespondenz natürlich Herrn von Ratour? sagte Lotario.

Jawohl, antwortete Valentine. Er sagte mir, daß er die Briefe abgesendet und daß er nur eine Antwort von Emanuel erhalten, in der ihm mein Schwager anzeigt, daß er der Krankheit seiner Frau wegen nicht zu mir kommen könne. Aber Ratour hat mir diesen Brief nicht gezeigt.

Das ist allerdings verdächtig, sehr verdächtig, sagte Lotario überlegend. Ich sollte jedoch meinen, daß es Ihnen nicht so schwer gewesen wäre, einen Brief ohne Wissen Ratours nach Paris zu senden.

Glauben Sie das nicht! antwortete Valentine. Ich werde von ihm bewacht und beobachtet wie eine Gefangene. Er läßt mich nie allein ausgehen, besorgt alles für mich, läßt niemand zu mir, genug, sein Schutz ist für mich ebensoviel wie eine Gefangenschaft. Dies ist die einzige Stunde, in der ich hoffen durfte, Sie allein zu sprechen, weil er um diese Zeit gewöhnlich Mademoiselle Therese und den Grafen besucht. Auch kann er, wenn ich ihm sage, daß Sie hier gewesen, nichts weiter in Ihrem Besuche sehen, als einen Beweis der Höflichkeit.

Ratour geht also oft zu dem Grafen? fragte Don Lotario.

Jetzt täglich zweimal, antwortete Valentine. Doch, wie ich fürchte, kann er jeden Augenblick wiederkehren. Es ist ein Uhr. Deshalb, Don Lotario, meine Bitte. Schreiben Sie an meinen Schwager – hier ist seine Adresse – schildern Sie ihm meine Lage und bitten Sie ihn, mir schleunigst zu antworten, aber unter Ihrer Adresse. Sagen Sie ihm, er solle sich vor allen Dingen Gewißheit darüber zu verschaffen suchen, ob Max wirklich tot sei. Ich glaube es nicht, ich kann es nicht glauben! Das wäre möglich! sagte Valentine, während sie sich Zeile fehlt im Buch. Re. Schreiben Sie auch an den Abbé Laguidais, oder direkt an Lord Hope, den ich für den Grafen Monte Christo halte, und benachrichtigen Sie ihn von den Schicksalen meines Mannes. Der Graf wird helfen, wenn er helfen kann.

Ich werde noch heute Ihren Wunsch erfüllen! sagte Don Lotario. Und seien Sie auf Ihrer Hut gegen Ratour. Ich traue ihm ebenfalls nicht. Ich habe Gründe dazu.

Oh, sagen Sie mir, welche? rief Valentine. Ich möchte Gewißheit über ihn haben.

Ich darf noch nicht sprechen, antwortete Don Lotario. Dringen Sie also nicht in mich. Adieu!

Don Lotario eilte fort.


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