Adam Müller-Guttenbrunn
Der große Schwabenzug
Adam Müller-Guttenbrunn

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Fronleichnam in Alt-Wien

Schon vor Sonnenaufgang rauften die Wiener am Fronleichnamstag um die guten Plätze in der Inneren Stadt. Jeder wollte das größte Schauspiel des Jahres, zu dem die Kirche und der Kaiserhof sich vereinigten, gesehen und genossen haben. Vor Tagesanbruch war die Rumorwache ausgerückt, um die Stadtguardia bei der Freihaltung der Gassen und der Spalierbildung zu unterstützen, aber seitdem das Fest in den Vorstädten auf den nächsten Sonntag verlegt worden war, stieg der Zufluß an Neugierigen und Gläubigen von Jahr zu Jahr. Nicht zu übersehen wäre das mehr, sagte der Stadtkommandant, und er müsse die Verantwortung ablehnen, wenn er die Tore nicht schließen dürfe. Das wurde ihm verweigert. War die Verlegung des Festes in den Vorstädten doch nur erfolgt, damit der Glanz desselben in der Inneren Stadt durch die Teilnahme aller Zünfte und der gesamten Bevölkerung gehoben werde. Für die Zuschauer möge man in den Seitengassen Tribünen bauen, lautete der Bescheid. Den Wucher aber, der bei der Fenstervermietung eingerissen, solle die Polizei strenge überwachen und bestrafen. Dann wäre Platz genug. Und wie zum Hohn auf die Beschwerde des Stadtkommandanten forderte die Hofkammer just auf dem Graben, wo alles hindrängte, jetzt alljährlich einen Raum für tausend schwäbische Bauern mit ihren Familien. Die Wiener hätten in ihrem Leben noch Gelegenheit genug, die Fronleichnamsprozession zu sehen, diese Leute aber werden sie einmal sehen und nie wieder.

Und da standen sie, eingekeilt in den brausen den Schwarm der städtischen Bevölkerung, bei der neuen Pestsäule auf dem Graben. Gass' auf Gass', ab Menschen, Menschen; bis hoch hinauf zu den Bodenluken Kopf an Kopf gedrängt in beängstigender Fülle. Und ein Summen und Sausen ging von ihnen aus, als ob sie alle schrien, aber sie redeten und flüsterten bloß. In Gruppen waren die Schwaben unter der Führung von Beamten aus ihren Quartieren herbeigekommen und begrüßten einander. Der und jener war schon abgefertigt, war schon fort nach dem Banat. Die erste große Kehlheimer Plätte sei vor zwei Tagen abgegangen nach Ofen. Bald käme auch an sie die Reihe. »Zeit wär's!« seufzte der Nikolaus Eimann, der richtig mit ein paar Nachbarn und allen seinen Söhnen aus dem Blautal ausgewandert war und schon eine Woche in Wien saß. Und man erzählte sich, wo der und jener hingeschickt worden war. Den Lehrer Wörndle habe man nach Temeschwar gewiesen. Der könne dort noch Schuldirektor werden; den Johann Schultheiß nacb Werschetz, wo er Weingärten anlegen soll; den Peter Kremling nach dem neuen Grenzort Weißkirchen, den Kaspar Kraft irgendwohin in die Bacska. »Und wo sein die Pfälzer aus Regensburg?« fragte einer. »Der Staudt und der Luckhaupt« Niemand wußte es. Die hatte man aus den Augen verloren. Aber daß der Trauttmann im Passauer Hof angekommen, das wußte man schon, denn mancher von ihnen war ebenfalls dort untergebracht worden.

Der Schwatz verstummte plötzlich. Truppen waren aufmarschiert, zwei Bataillone Grenadiere mit hohen Bärenfellmützen kamen über den Kohlmarkt von der Hofburg herab, sie machten die Mitte frei und bildeten eine Mauer vor den Gassen, die hier mündeten, denn aus ihnen quollen ständig neue Zuschauermengen hervor. Gedämpfte Kommandorufe ertönten, und Glied reihte sich an Glied bis hinab zum Stephansdom, die Stadtguardia zog ab, um Seitengassen zu besetzen.

Die Beamten flüsterten den Bauern zu, das wären die Grenadiere, die das Lager des Sultans bei Belgerad gestürmt hätten. Sie wären ausgewählt worden für das heutige Spalier; seien erst kürzlich nach Wien in Garnison gekommen. Wo sie erscheinen, schreie das Publikum sonst Vivat.

Kaum war die Ordnung vollzogen und die Bahn freigemacht für den Aufzug des Hofes, schlug die Uhr acht, und es erklang von St. Stephan her der dumpfe, schauerlich-schöne Ton einer Glocke. Und immer gewaltiger, immer herrlicher erhob sie ihre Stimme, die Fensterscheiben klirrten und die Erde schien zu beben; nie hatten die Leute aus Schwaben und vom Rhein einen solchen Glockenton vernommen, und sie schauten sich an. Ein Beamter sagte ihnen, das wäre die berühmte «Bummerin«, die aus hundertachtzig Türkenkanonen gegossen wurde. Aus Kanonen, die Anno Sechzehnhundertdreiundachtzig hier vor Wien erobert worden seien. Am Tage, da Kaiser Karl aus Frankfurt von der Krönung heimkehrte, wäre sie zum erstenmal geläutet worden. Sie erklinge nur bei seltenen Festen, weil sie dem Turm von St. Stephan zu schwer wäre. Alles hielt den Atem an und lauschte der großen Glocke. Auch Trauttmann, der mit den Seinen am Petersplatz war untergebracht worden, weil er zu spät kam, vernahm die Erklärung über diese Glocke, und es berührte ihn seltsam, daß dasselbe Metall, das einst Feuer und Verderben gegen diese Stadt ausspie, jetzt dazu gezwungen wurde, die gläubigen Christen zum Gebet zu rufen und zur Andacht zu stimmen. Ausdrücken hätte er das seiner Eva gern mögen, aber er fand die Worte nicht. Auch stand sie so ernst und trotzig neben ihm, so abweisend, wie er sie nie gesehen. Sie wäre am liebsten nicht mitgegangen.

Als die Glocke geendet, erhob sich vom Kohlmarkt her eine Bewegung. »Der Hof kommt!« hieß es. »Der Hof kommt!« und wie eine Welle brausten die Worte weiter und weiter.

Zwei Gardereiter auf goldgezäumten Rappen eröffneten den prunkvollen Zug. Ein unabsehbares Heer von Kammerherren und Hofwürdenträgern in wallenden Perücken, von adeligen Pagen und hohen Gardeoffizieren folgte. Endlich kam der sechsspännige, herrliche Wagen, in dem der Kaiser ernst und feierlich saß. Der letzte Habsburger! Er schaute nicht links noch rechts, wo die Häupter sich alle vor ihm entblößt hatten, wie eine Bildsäule zog er vorüber... Dann kam die Kaiserin Elisabeth Christine. Auch ihr goldig schimmernder Wagen ward von sechs Schimmeln gezogen, und sie strahlte in blendender Schönheit. So oft sie sich öffentlich zeigte, ging ein Freudenschauer durch das Publikum, und alles huldigte ihr. Auch heute, an dem heiligen Tage, hielt sich die Menge kaum zurück. Die schönste Frau Europas (so nannte sie die Lady Montague) fühlte, daß dieses Aufbrausen hinter dem Grenadierspalier ein Gruß war, der ihr galt, und sie neigte lächelnd und vorsichtig das Haupt dessen hochgetürmte, von hundert Diamantnadeln zusammengehaltene Frisur im Licht der Morgensonne glitzerte und funkelte, daß man beinahe nicht hinsehen konnte. Ihr Blick traf auch die bunte Trachtengruppe der deutschen Auswanderer, und die Leute glaubten eine freundliche Überraschung auf ihrem Antlitz wahrgenommen zu haben. Vielleicht sah sie die Landsleute aus Braunschweig unter ihnen, denn auch solche gab es hier. War sie doch die Tochter des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel. Und sie ist katholisch geworden, um Königin von Spanien werden zu können, wie ihre Muhme Amalie Wilhelmine von Hannover, die Gemahlin des Kaisers Josef I., der so jung hatte sterben müssen, katholisch wurde. Josef I. starb jung. Jetzt war sie selbst die Kaiserin, da ihr Gemahl nach dem frühen Tod des Bruders den habsburgischen Thron in Wien bestieg. Und die stolze Muhme mit ihren Töchtern stand als Kaiserinwitwe abseits, sie gab Josef keinen Thronerben. Aber auch sie, die schöne Elisabeth Christine, hatte keinen Sohn, ihr einziger war früh gestorben. Noch hoffte das Volk auf einen Thronerben, noch konnte Gott ihr diese Gnade schenken. Wer sie sah in ihrer Leibesherrlichkeit, der zweifelte auch nicht daran. Kaiser Karl aber baute vor, er hatte schon in allen seinen Staaten, auch in Hungarn, jenes Gesetz zur Annahme gebracht, das sie die Pragmatische Sanktion nannten, und das seinem Töchterchen Maria-Theresia die Thronfolge sicherte in dem großen unteilbaren Österreich. Er hoffte auf keinen männlichen Erben mehr.

Und jetzt erschien unter Vorantritt eines lieblichen Korps von Edelknaben der vierspännige Wagen der Erzherzogin. Mit hellen, großen Augen schaute die kindliche Prinzessin in das Publikum, und die Obersthofmeisterin, die ihr gegenübersaß, redete mit ihr. Plötzlich zeigte Maria Theresia mit einer raschen Handbewegung, die der spanischen Hofetikette sehr wenig entsprochen haben mag, nach der langgestreckten Bauerngruppe, die sich da mitten in dem Wiener Publikum befand. Sie fragte und erhielt Antwort. Da schaute sie noch einmal hin und nickte. Lächelte und nickte.

Und weiter entwickelte sich der Aufzug des Hofes nach St. Stephan. Es kamen die adeligen Hofdamen in zweispännigen Wagen und viele Fürstlichkeiten, die zum Hofstaat gehörten. Der Generalissimus Prinz Eugen schritt zu Fuß, umringt von Feldherren und Generalen, gefolgt von Offizieren aller Grade nach St. Stephan. Die Ministerialen bildeten eine eigene Gruppe in dem Zug. Die Minister und die Präsidenten der Hofämter hatten den Vortritt, an sie reihten sich die Hofkammerräte, und auf Josef von Stephany machten die Beamten die Auswanderer besonders aufmerksam, er sei gar mächtig in ihrer Sache. Und auch er sah sich die Gruppe voll Befriedigung an. Ein Schwarm von Titularkammerherren und Truchsessen, die sich ihre Würden zum Teil um Geld erworben hatten und die bei großen Hoffesten die Auszeichnung genossen, der kaiserlichen Familie die Speisen reichen zu dürfen, bildeten den Abschluß des Zuges, dem eine vierfache Reihe von Gardisten folgte, zehn zu zehn Mann, Männer von riesiger Größe, eine wandelnde Mauer mit flatternden Helmbüschen.

Alle Glocken läuteten zum Zeichen, daß der Hof den Dom von St. Stephan betreten habe. Und nun löste sich die Spannung, es wurden Meinungen ausgetauscht und Urteile abgegeben, es wurde erklärt, geklatscht und gezischelt. Die Kaiserin fand man schöner als je, die kleine »Theres« zum Küssen. Die spanische Althan, die Gemahlin des Obersthofmeisters, sei nicht gekommen, weil sie als Maitresse en titre durchaus vierspännig habe fahren wollen, dies aber wäre ihr nicht gestattet worden. Man gönnte es ihr. Spanien war nicht sehr beliebt in Wien, es übernahm sich bei Hof.

In stummer Bewunderung des Reichtums und des Glanzes, den der Hof da entfaltet hatte, verharrten die Bauern und ihre Frauen.

Aber war wohl einer in der vieltausendköpfigen Menge, der an den Sinn des kirchlichen Festes dachte? Nur weltliche Gedanken waren in ihnen angeregt worden. Freilich, das kirchliche Fest sollte ja erst beginnen, die Prozession bildete sich wohl gerade bei St. Stephan. Und nach kurzer Pause fingen wieder sämtliche Glocken zu läuten an, der Auszug begann.

Fronleichnam!

Kein stolzeres Fest als dieses kennt die katholische Kirche. Der volle Orgelklang des Frühlings durchbraust es, das Wunder, das sich aus dem Leib der Erde heraus vollzogen und vor den Menschen in prangender Fülle aufgetan, es lebt im Symbol dieses Festes, im Leib des Herrn. Weihnacht feiert die Wintersonnenwende, Ostern die Frühlingsahnung, in ihm lebt schon der Auferstehungsgedanke; Fronleichnam aber ist die Erfüllung, das große Wunder in der Natur hat sich vollendet. Ein Triumph ist dieses Fest über alle feindlichen Gewalten, ein Hochgesang auf die Allmacht Gottes. Alle heidnischen Überlieferungen der germanischen Völker hat sich die römische Kirche dienstbar gemacht, die Tiefe und Gedankenfülle ihrer Feste entnahm sie dem Kultus dieser »Barbaren«. Sie haben den Glauben an Wotan mit dem an Christus getauscht, aber sie bereicherten diesen neuen Kultus und vertieften und erweiterten ihn durch die Mitgift, die sie dem Christentum zubrachten. Willig und schmiegsam nahm die Kirche dieses große geistige Erbe auf in ihre pomphaften orientalischen Formen, und ihre stärksten Pfeiler ruhen in dem Naturerkennen der Urvölker. All ihre anderen Feste werden brüchig und vermindern sich, die aber müssen bleiben, die das Jahr in seinem Gang begleiten, die das Weltwunder deuten und verklären.

Alle Gassen sind heute mit dem jungen Grün der Wiesen und mit Millionen Blumen bestreut, an den Häusern lehnen ganze Wälder von frischbelaubten Bäumen und Zweigen. Wald und Feld und Wiese sind in die Stadt gekommen.

Unter Glockengeläute, mit wehenden Fahnen, unter Musik und Gesang entfaltete sich die gewaltige Prozession von St. Stephan durch die Kärntnerstraße, von Altar zu Altar trug der greise Erzbischof die Monstranz mit dem Allerheiligsten, über die Augustinerstraße, bei den Michaelern an der Hofburg vorüber, über den Kohlmarkt und den Graben führte der Weg nach drei Stunden zurück zum Dom. In Doppelreihen wallten die Kleriker, die Ordensbrüder und Nonnen voran mit der ihnen anvertrauten Jugend. Den Brüdern von den Schotten, den Augustinern, den Michaelern und Dominikanern, den Kapuzinern und Franziskanern, den Karmelitern, den schwarzen und weißen Spaniern, den Minoriten und Pazmaniten, den Barmherzigen, den Mechitaristen und Piaristen, den Paulanern und Redemptoristen, den Serviten und vielen anderen Orden folgten die Jesuiten mit ihren adeligen Konvikten und der hohen Universität – ein Heer von Gottesstreitern, von dessen Größe man kaum eine Vorstellung hatte. Und hinter dem Erzbischof, dessen hoher geistlicher Stab von Domherren und Prälaten voranschritt, folgte der Kaiser und die Kaiserin mit ihrem unübersehbaren Hofstaat, es folgte der Magistrat von Wien, das vornehme Bürgertum, die Innungen und Zünfte mit ihren Fahnen und die zahlreichen frommen Vereine und Brüderschaften. Und wenn ein Straßenaltar erreicht war, hielt die gewaltige Prozession an, und der Erzbischof vollzog den Gottesdienst. Vier Pagen breiteten einen Teppich aus vor dem Kaiserpaar, und es kniete nieder. Ein junger Kanonikus, ein Jesuit, las mit kräftiger, weithinschallender Stimme das lateinische Evangelium vor, Pauken und Trommeln und Hörner begleiteten den lateinischen Kirchenchor, den Weihrauchfässern entströmte ein berauschender Duft, und alles warf sich in den Staub, sobald der Bischof das Allerheiligste, das Symbol des Tages, erhob, um es im Triumph der Menge zu zeigen. Das Wunder in der Natur wurde zum Wunder in der Hostie.

Voll Staunen und in unsagbarer Ergriffenheit folgten die deutschen Bauern aus dem Reich diesem kirchlichen Schauspiel. Der Vorbeimarsch des Zuges, der die ganze Gesellschaftsordnung des Staates vor ihnen aufrollte und ihnen seine mächtigsten Säulen in Person zeigte, der auch die feste Gliederung des Bürgertums und des Handwerkerstandes vorführte, er hatte nur eine große Lücke – der Bauer fehlte darin. Fühlte es einer von denen, die hier zu Gaste waren, daß auch ihr Stand in den Zug gehörte?

Wie betäubt war die Menge. Und es wurde ihr nur eine kurze Pause gegönnt, denn alsbald vollzog der Hof seine Rückfahrt nach der Burg in derselben Ordnung, in der er gekommen. Hinter ihm lösten sich die Spaliere. Und wie eine Sturzflut ergoß sich die zurückgestaute Menge in die Straßen, plünderte den Blumenschmuck der Altäre, riß die Birkenbäumchen nieder und beraubte sie ihrer Zweige, um sie heimzutragen als einen Gewinn dieses Festes, als ein geweihtes Andenken, dem Wunderkräfte innewohnten gegen Not und Krankheit und alle übel, die das Jahr bringen mochte.

Auch unsere Bauern waren nicht faul und nahmen sich, was sie erreichen konnten. Für sie war der Tag ein besonders denkwürdiger. Manches Mütterchen legte ein paar geweihte, grüne Blätter in ihr Gebetbuch, die sie einst ihren Enkeln noch zeigen wollte als ein Angedenken vom Wiener Fronleichnamsfest.

Eva Trauttmann schaute dem Treiben sprachlos zu. Und sie hielt ihre drei Buben zurück, als sie dasselbe tun wollten, wie die anderen. Nur der Ferdinand, der jüngste, steckte sich ein geweihtes Zweiglein auf den Hut. Philipp Trauttmann aber fiel seiner Frau in den Arm, als sie danach greifen wollte. »Werscht Ruh' gäwe?« sagte er. Und sie verstand seinen drohenden Blick. Ärgernis wollte sie ja keines geben, so lutherisch sie auch war.


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