Erich Mühsam
Unpolitische Erinnerungen
Erich Mühsam

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Die Gäste der Kathi Kobus

»Künstlerkneipe« nannte sich im Untertitel das Weinlokal »Simplicissimus« des Fräulein Kathi Kobus in der Türkenstraße zu München. Vorn befand sich ein Wirtsraum, nicht viel unterschieden von anderen Wirtsräumen; hinten das Hauptlokal mit Theke, Klavier und Podium; dazwischen der beide Räume verbindende Kanal, ein langer, sehr schmaler Gang, dennoch mit Tischen und Stühlen so eng bestückt, daß das Passieren in den Abendstunden, wenn der Betrieb im Gang war, nur unter vielen Schlängelbewegungen möglich war und man die mit Flaschen und Tabletten jonglierenden Kellnerinnen für gelernte Akrobatinnen halten konnte. Das Gedränge war in allen Räumen von zehn Uhr abends an beängstigend, und die von Weindunst, Tabakrauch und menschlicher Ausdünstung sichtbar wogende Luft erklärt ebenfalls nicht völlig befriedigend die Anziehung, die der »Simpl« auf die geschmackverwöhnte Schwabinger Künstlerschaft ausübte. Es war aber doch so, daß wir uns allesamt in dem Lokal wohlfühlten, das bei Tage eher einer Kunsthandlung glich als einer Künstlerkneipe. An allen Wänden hingen Ölbilder, Zeichnungen, Radierungen, Schnitte und Stiche, in allen Größen, in allen Stilarten, von jeglichem Wert; Porträts, Landschaften, Karikaturen, Stilleben, von unbekannten Meistern und von Berühmtheiten, die teils noch in Person unter ihren Werken anzutreffen waren, teils auch längst im Villenviertel von Bogenhausen den räumlichen Trennungsstrich zwischen Vergangenheit und Gegenwart gezogen hatten, wie Franz Stuck, aus dessen dämonischer Zeit ein mächtiges Bild unsern Stammtisch im Hintergrund der Weinstube umdüsterte.

Kathi Kobus war eine kluge Frau. Selbst keine Kunstkennerin, wußte sie doch, daß aus manchem jungen, unbekannten Talent manchmal später ein bewundertes Genie wird und daß die Bleistiftkritzelei eines zwanzigjährigen Michelangelo, in fröhlicher Laune auf eine Papierserviette hingeworfen, nach hundert Jahren ein wertbeständiges großes Los sein kann. So gab sie Künstlern weitherzigen Kredit, und war die Schuldenlast hoch genug angewachsen, dann ließ sie sich gutwillig mit einer Handarbeit aus dem Atelier ihres Gastes abfinden und hängte die Tauschware für ihren Krätzer, je nach der Schönheit des Bildrahmens, an eine mehr oder minder sichtbare Stelle ihres Etablissements. Selbstverständlich behaupte ich nicht, daß alle bei Kathi Kobus ausgehängten Gemälde und Graphiken als Äquivalent für nicht bezahlte Zechen geliefert worden seien. Sicherlich hat mancher Künstler, der stets jede Rechnung beglich, ganz gern einmal geschenkweise ein Blatt hergegeben, das die Wirtin ihm abgebettelt hatte. Jedenfalls waren alle bekannten Zeichner des Patenblattes ihres Lokals an den Wänden des »Simplicissimus« vertreten: Th. Th. Heine und Eduard Thöny, Rudolf Wilke und Wilhelm Schulz, Pascin und Karl Arnold. Von Albert Weisgerber gab es eine ganze Menge ausgezeichneter Bilder und Zeichnungen, darunter besonders ein vorzügliches Porträt von Ludwig Scharf über dessen ständigem Stammplatz. Josef Futterer hatte etliche seiner Werke gestiftet, und neben Silhouetten von E. M. Engert hingen Tierbilder von Franz Marc und Frauenakte von Max Unold.

Von der Begabung ihrer dichtenden Kundschaft machte Kathi Kobus Gebrauch, indem sie ihr Gelegenheit gab, vom Podium herab Verse zu deklamieren, was meistens der Eitelkeit zuliebe, oft um barer Honorierung willen und vielfach auch der Schuldentilgung wegen gern geschah. Häufig genügte eine freigebig spendierte Flasche Sekt, um Dichter, Sänger, Musiker beider Geschlechter zu Vorträgen anzuregen. In der ersten Zeit konnte man von einem eigentlichen Kabarett bei Kathi Kobus kaum sprechen. Einer der Künstler nahm die Klampfe zur Hand und sang allein oder mit anderen am Tisch bayerische Schnadahüpfl, deren besonders Albert Weisgerber viele kannte. Oder Frank Wedekind ließ sich herbei, seine Bänkelsänge zur Laute zu singen. Dann kam Kathi und bat einen von uns, ein paar Gedichte vorzutragen, oder der Ungar Dunajec spielte auf der Violine, die Mähne schüttelnd, langgezogene Schmerzensweisen. Allmählich erst engagierte Kathi einzelne ihrer Stammgäste zur ständigen Unterhaltung des Publikums. Die Honorarsätze waren verschieden. Ludwig Scharf erhielt wohl am meisten. Abend für Abend lahmte er, einen Stuhl mit sich schleppend, in die Mitte des Lokals und rezitierte in pfälzischer Aussprache, aber mit wirksamer Verve, immer dieselben Gedichte: Proleta sum, Das tote Kind und Novembersturm. Ich bekam eine Zeitlang Mittag- und Abendessen, wofür ich den Nachtgästen Balladen, Schüttelreime und Ulkgedichte zu servieren hatte. Auch Damen waren engagiert: die Chansonette Annie Trautner, ferner eine Sopransängerin von echt Münchener Aussehen und Gehaben, die den poetischen Namen Mucki Bergé führte, und längere Zeit auch Emmy Hennings, die niedliche Pikanterien vortrug, von ihrer eigenen Berufung zur Dichterin aber wohl selbst noch keine Ahnung hatte. Als »Hausdichter« der Künstlerkneipe wurde der Sachse Hans Bötticher gewonnen, ein höchst witziger und begabter Mann damals schon, als keiner von uns vermutete, daß er einmal den Namen Joachim Ringelnatz berühmt machen werde. Er bedichtete Kathi selber, die kleinen Begebenheiten im »Simpl«, uns Kollegen und Kolleginnen, das unheimliche Gedränge des Publikums, das uns sehen und hören wollte, und die große Stunde, als einmal ein lebendiger Hohenzollernprinz – ich glaube, es war Wilhelms Ältester – mit etlichen Korpsstudenten, inkognito, aber sich durch heftiges Randalieren bemerkbar machend, in unserm Revier sein Amüsement suchte. Kathi erfuhr, wen sie zu bewirten hatte, hängte aber die Bajuwarin heraus und ermahnte die erlauchte Schar mit den Worten: »Saupreißn, stad san!« zur Ruhe. (Ich berichte hier nach Hörensagen; denn als man mich auf die Gäste aufmerksam machte, streikte ich und verließ für den Abend das Lokal.)

Die Energie, mit der die robuste Wirtin sich in ihren Räumen Respekt zu verschaffen wußte, war erstaunlich. Alkoholische Exzesse duldete sie nicht. Gab es Krach, dann ging sie ganz persönlich dazwischen und wies die Übeltäter hinaus, griff auch selber mit ihren kräftigen Armen zu, wenn jemand widerspenstig war. Ich sah mit eigenen Augen, wie sie gleichzeitig zwei spektakelnde Studenten hinausschmiß: mit jeder Faust im Hemdkragen eines der Sünder, stieß sie die beiden fortwährend gegeneinander und drängte sie dabei vorwärts, bis sie vor der Tür angelangt waren. Kathi Kobus duzte alle ihre Gäste, und ein Brief, der mir einmal auf einer meiner Fahrten nachgesandt wurde, begann: »Sehr geehrter Herr Mühsam! Du bist mir noch über vierzig Mark schuldig ...« Am Schluß hieß es dann: »Mit herzlichen Grüßen hochachtungsvoll Deine Kathi Kobus«, und ein Postskriptum lautete: »Kommst du net bald wieder, Erich?« Als ich dann wiederkam und Kathi zur Rede stellte, was sie mir denn für unangenehme Mahnbriefe nachjage, meinte sie freundlich: »Scho recht. Daß d' grad wieder da bist«, holte das Hauptbuch vor und strich meine ganze Zechschuld durch. »Aber vortragen mußt halt!« sagte sie dann.

Eines Tages verkündete Kathi ihren erstaunten Gästen, daß sie sich mit Ludwig Scharf verlobt habe. Das Ereignis wurde gründlich gefeiert. Die glückliche Braut traktierte uns mit ungeheuren Mengen Pfirsichbowle. Nach der Polizeistunde wurde die Gaststätte in die geräumige Küche des Lokals verlegt, und Georg Queri, der kraftbayerische Dialektdichter, hielt eine Festrede, die sich weniger durch sinnige Lyrismen als durch urwüchsige Derbheit auszeichnete. Von nun an aber war das Unterhaltungsrepertoire des »Simpl« allabendlich um den Begrüßungskuß vermehrt, der, sobald der Tschandala-Dichter das Lokal betrat, unter dem Applaus der Umsitzenden von den vier bärtigen Lippen des Brautpaares vorgeführt wurde. Die Brautschaft dauerte bis zur Verehelichung Ludwig Scharfs mit einer ungarischen Gräfin; doch änderte sich auch dann nichts weiter, als daß der Kuß vom Programm gestrichen wurde und die Gattin des Dichters ihren Stammplatz im »Simplicissimus« neben dem seinigen erhielt. Kathi Kobus aber entdeckte ein neues künstlerisches Talent, und zwar in sich selbst. Sie wartete plötzlich in oberbayerischer Nationaltracht auf und bestieg in eigener Person das Podium, von wo sie mit Gedichten in heimischer Mundart Humor ausstreute.

So lange, bis Wedekind in der »Torggelstube« einen festeren Kreis um sich schloß, mit höheren geistigen Ansprüchen und sorgfältiger gewahrter Exklusivität, und bis Konkurrenzlokale, wie der »Bunte Vogel« und »Boheme«, einen Teil der Künstlerschaft von dem nicht übertrieben abwechslungsreichen Lärm, Gedränge und Gestank der echtesten Münchener Künstlerkneipe abzogen, fluktuierte im »Simplicissimus« der Kathi Kobus die Geistigkeit Münchens in allen ihren Verästelungen und Cliquen, und man konnte an manchen Abenden die heterogensten Elemente der Literatur und Kunst an den verschiedenen Tischen vertreten sehen, beim Eintritt einander freundschaftlich zuwinkend, höflich begrüßend oder feindselig schneidend. Der äußerst gescheite und geistreiche Edgar Steiger konnte die intellektuelle Kleinstädterei dieser wechselseitigen Beziehungen sehr witzig kommentieren. An einem Tisch saß die Redaktion der Jugend beisammen mit einigen bevorzugten Mitarbeitern, wie Fritz Erler, Karl Ettlinger, Franz Langheinrich, A. de Nora, A. M. Eichler oder Spiegel, an einem andern vielleicht Max Halbe mit seinen Freunden Karl Rößler, Heinrich Schaumberger oder Paul Brann, dem Marionettenkünstler. Zugleich aber konnte man die Antipoden dieses Kreises im Lokal finden: Josef Ruederer, Friedrich Freksa usw. Der »Simplicissimus« war die Stätte, wo zwischen Wedekind und Halbe mehrmals der Krieg ausbrach, mehrmals der Friede geschlossen wurde. Dort saß ich oft mit der Gräfin Reventlow und mit dem späteren Finanzminister der Eisner-Regierung, Professor Jaffé, mit Dr. Otto Gross, dem Psychoanalytiker und seinem Anhang, zu dem auch der Maler Leonhard Frank gehörte, der plötzlich zur Literatur übersprang und dort mit Werken wie Die Räuberbande und Die Ursache überraschte, die ihm keiner von uns entfernt zugetraut hätte. Von dort her stammt auch meine langjährige Bekanntschaft mit Bruno Frank und mit vielen, vielen anderen, die heute als Akademieprofessoren arrivierte Größen der Kunst oder nach kurzer Irrfahrt auf dem Ozean der Genialität im Hafen eines soliden Bürgerberufs gelandet sind. Viele von ihnen freilich sind leider nicht mehr unter uns, und manche der Besten – Albert Weisgerber, Franz Marc – haben den ihnen am wenigsten gemäßen Tod gefunden: auf dem Schlachtfeld.

Auch der feine, zarte und immer etwas rührende Max Dauthendey, der sehr häufig mit uns im »Simplicissimus« saß, ist ja auf seine eigene Art ein Opfer des Weltkrieges geworden. Mir ist die Behauptung, jemand könne »an gebrochenem Herzen« sterben, immer reichlich marlittmäßig erschienen. Aber bei Dauthendey wird es doch wohl stimmen, daß er, in Java abgesperrt von aller Liebe und allem Verstehen seiner kindlichen Hilflosigkeit, über nicht genügend reale Lebensenergie verfügte, um gegen die verlangende Sehnsucht in die Heimat und zu seiner Frau, deren mütterliche Sorge er brauchte, aufzukommen. Dauthendey war nur Lyriker, noch mehr vielleicht als Peter Hille, bei dem die Lyrik Ausdrucksmittel einer Art seelischen Vagabundentums war. Der Würzburger Dichter aber war ein Schwelger in lyrischen Bildern, er berauschte sich an Wortklängen, an Metaphern, Symbolen und Vergleichen. Ich erinnere mich aus einer seiner Novellen der Schilderung eines Sonnenuntergangs über dem Meer, da habe der Sonnenball ausgesehen wie eine abgeschälte Blutapfelsine auf einem mattsilbernen Teller. Dauthendey war der unpraktischste Mensch, den man sich vorstellen kann, bildete sich aber ein – diese Illusion über sein eigenes Wesen teilte er mit Paul Scheerbart –, ein brillanter Geschäftsmann zu sein. Er hatte sich von seiner Ammenballade einen riesigen Erfolg versprochen, einem Buch, das im Moritatenstil allerlei geheimnisvolle Seelenerlebnisse abwandelte. Der Bucherfolg blieb aber aus, und da kam Dauthendey auf die Idee, dem Werk die öffentliche Beachtung zu erzwingen. Es war ausgerechnet Weihnachtszeit, da klebten an den Münchener Anschlagtafeln riesige Plakate und verkündeten »Zwölf Balladenabende von Max Dauthendey«, und zwar in der Tonhalle, einem großen Saal, der mindestens 800 Personen faßte. Für den Eintritt waren Konzertpreise festgesetzt. Der Veranstalter war der Dichter selbst. Er hatte eine Heidensumme ausgegeben für die Affichen und für die Saalmiete und kam freudestrahlend zum »Simpl«, um uns zu fragen, ob wir die Ankündigung gelesen hätten. Unsere skeptischen Mienen irritierten ihn gar nicht, er war überzeugt, daß er die zwölf Vorträge – von Mitte Dezember bis Neujahr! – vor ausverkauften Häusern halten werde, daß sie ihm eine gefüllte Börse und seinem Buch einen kolossalen Absatz sichern würden. Dann kam der erste Balladenabend. Es waren höchstens fünfundzwanzig Personen im Saal, und von denen hatten bestenfalls zehn ihre Karten bezahlt. Nachher kam der Vortragende und die Mehrzahl seines Publikums in den »Simpl«, und dort wurde Kriegsrat gehalten, wie der Verlust Dauthendeys nach Möglichkeit zu verringern sei. Das Ergebnis – wenn ich mich recht besinne, hatte Korfiz Holm den Ausweg vorgeschlagen – war, daß Dauthendey am nächsten Tag grüne Streifen über die Plakate kleben ließ mit der Aufschrift: »Mitwirkende: Erich Mühsam und Ludwig Scharf«, und daß der Saalbesitzer den Kontrakt auf sechs Abende reduzierte, an denen wir nun zu dritt vor leeren Plätzen Gedichte aufsagten. Um den Schaden wettzumachen, kam aber Dauthendey auf den Gedanken, einen Laden zu mieten, der, gegenüber dem »Café Stefanie«, gerade frei stand, wo er von früh bis abends, auf einem Teppich sitzend, bei fünfzig Pfennig Eintrittspreis Märchen erzählen wollte. Es bedurfte großer Mühe, ihn von dieser neuen und sicher noch größeren Pleite zurückzuhalten.

Aus Kathi Kobus' Künstlerkneipe wurde nach und nach ein Amüsierlokal für Studenten. Die Wirtin selbst wendete ihr Interesse einem neuen Unternehmen zu, einem Ausflugslokal im Isartal, das sie in Wolfratshausen unter dem Namen »Kathis Ruh« eröffnet hatte. Einen Teil ihrer Kunstsammlung überführte sie dorthin. Den »Simplicissimus« verkaufte sie später, übernahm ihn dann aber wieder und soll heut noch darin Kunst und Rotwein verschleißen. Der Charakter der gastlichen Stätte hat sich, wenn ich recht berichtet bin, so verändert wie der Charakter der Stadt, deren heitere Kultur dort lange Zeit ihren besonderen Ausdruck fand. Vielleicht läßt heute ein elektrischer Ventilator bessere Luft in den Raum als vor zwanzig Jahren. Aber ob die Luft im »Simplicissimus« auch jetzt noch bei allen künstlerisch empfindenden Menschen die unbefangene Fröhlichkeit weckt wie dazumal, als Isadora Duncan nach einer öffentlichen Tanzdarbietung in unsern Kreis kam, immer vergnügter wurde und endlich Schuhe und Strümpfe abstreifte, um uns in prachtvoller Ausgelassenheit eine herrliche Privatvorstellung zu geben – man wird wohl zweifeln müssen. Der Tod hat eifrig geerntet unter den alten Gästen der Kathi Kobus. Die noch da sind, leben verstreut in verschiedenen Gegenden des Landes und der Welt. Durch den engen, von Tischen verstellten Korridor zwischen vorderem und hinterem Lokal schlängelt sich wohl keiner mehr von denen, die einst allnächtlich beisammen saßen, den singenden Mädchen applaudierten und auf das saure Getränk schimpften. An den Wänden werden andere Bilder hängen und andere Lieder zur Laute erklingen. Die Erinnerung aber macht oft eine Vergangenheit gegenwärtig, die dem Leben näher ist als die erlebnislose Galvanisierung einer fremd gewordenen Tradition.


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