Erich Mühsam
Unpolitische Erinnerungen
Erich Mühsam

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Latente Talente

Heutzutage führen in bürgerlichen Häusern verliebte Mütter sorgfältig Tagebuch über die frühen Ausstrahlungen des unverkennbaren Genies ihres Lieblings. Der arglose Besucher freut sich an der natürlichen Aufgewecktheit des spielenden Kindes und bekommt plötzlich zu Kaffee und Kuchen eine Sturzflut noch nicht dagewesener Beobachtungen, Randbemerkungen, kritischer Betrachtungen, psychologischer Finessen, dazu stoßweise Zeichnungen, Gedichte und sonstige Wunderwerke des kleinen Phänomens serviert. Man glaubt dann wirklich, den großen Philosophen, Dichter, Maler oder Reformator der künftigen Menschheit vor sich zu sehen und läßt sich erst nach genossener Gastfreundschaft auf dem Nachhausewege von dem Gedanken ernüchtern, daß, seit das Buchführen über die geistigen Emanationen der Kinder in Mode geraten ist, reichlich viele latente Genies auf den Tummelplätzen der öffentlichen Anlagen aus Sand Kuchen backen. Sicherlich wird es den Kindern selbst später ganz nützliche Dienste leisten, daß die Eltern recht zeitig beobachtet haben, in welche Richtung die Anlagen des Sprößlings streben, und da die Vorurteile gegen künstlerische Berufe bei der zur Zeit Kinder erziehenden Generation ja einigermaßen geschwunden zu sein scheinen, da andrerseits die Registrierung der kindlichen Gescheitheiten zumeist doch nur in Kreisen üblich ist, die dem Nachwuchs die freie Berufswahl leisten können, so wird dadurch manchem jungen Menschen mancher Stein aus dem Wege seiner Entwicklung geschafft sein.

Früher war das anders. Die Eltern, die ihre Kinder zu ehrengeachteten Mitgliedern der Gesellschaft heranzuziehen trachteten, worunter sie die rechtschaffene Ausübung eines solid-bürgerlichen Berufes verstanden, der nach Absolvierung einer Reihe von Studien- oder Avancementjahren seinen Mann komfortabel zu ernähren vermöchte, bewunderten zwar auch oft kluge Fragen und niedliche Antworten der Kleinen mit viel Stolz, schätzten aber die Bekundung besonderer Talente erheblich niedriger ein als artiges Betragen und ließen die Beschäftigung mit Bleistift oder Tuschkasten und das Fabrizieren gereimter Geburtstagswünsche als Kinderspiel neben dem Häuserbau mit Holzklötzchen und dem Aufstellen der Bleisoldatenheere gelten. Traten beim heranwachsenden Schulkind dergleichen Neigungen mit dem Fanatismus der Monomanie zutage, dann begann ein erst stiller, allmählich offener energischer Kampf dagegen. Die frühreifen Produktionen wurden ignoriert, herabsetzend kritisiert, endlich mit Unterdrückungsmaßnahmen als Extravaganzen systematisch niedergehalten. Es entstanden Konflikte, die sich oft genug zu Tragödien auswuchsen. Fast alle meine Altersgenossen, die von einem übermächtigen Drang zur Besonderheit aus den Bezirken bürgerlicher Wohlhäbigkeit und damit aus dem Zusammenhalt ihrer Gesellschaftsklasse gerissen wurden, wissen davon ein Lied zu singen.

Ich erinnere mich eines Abends im alten »Café des Westens« am Künstlertisch, der vollbesetzt war. Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Musiker mit und ohne Namen saßen beisammen; da warf Ernst von Wolzogen die Frage auf, wer von uns konfliktlos und in Eintracht mit seinen Angehörigen zu seiner Lebensführung als Künstler gekommen sei. Es stellte sich heraus, daß wir allesamt, ohne eine einzige Ausnahme, Apostaten unserer Herkunft, mißratene Söhne waren.

Es wäre wahrscheinlich sehr verkehrt, nun zu meinen, Genialität bedürfe zu ihrer künstlerischen Entfaltung des Familienkrachs. Zunächst beweist die Wahl eines künstlerischen Berufs, auch wenn sie gegen noch so heftigen Widerstand der Eltern erfolgt ist, noch nichts für die Berufung zur Kunst. Es gibt arge Stümper und Kitscher, sogar fürchterliche Philister unter denen, die den Bruch mit ihrer ganzen Sippe auf sich nahmen, um zu tun, was sie nicht lassen konnten. Des weiteren aber wurzelt in zahlreichen Fällen – sehr möglich, daß hierher auch mein eigener Fall gehört! – der familiäre Konflikt weniger in der vom stürmenden Jüngling erkannten Notwendigkeit, zur Bereitung seiner der Menschheit zugedachten unsterblichen Werke ausschließlich der künstlerischen Mission zu leben, als umgekehrt in dem von den Erziehern richtig gewitterten Hang, sich aus der entsetzlichen Uniformität einer an regelmäßige Arbeitsstunden gebundenen Tätigkeit ins Künstlertum zu drücken. Der kürzlich an den Folgen eines brutalen Hakenkreuzlerüberfalls verstorbene witzige Philosoph Dr. Gregor Itelsohn erwiderte einmal einem frisch im Café gelandeten jungen Mann, der sich auf Befragen als Schriftsteller bezeichnet hatte: »Ja, so nennt man das ja wohl, wenn man für sein Nichtstun einen Namen haben will.« Gewiß ist, daß die Einbildung, ein Dichter oder Maler zu sein, den Dichter oder Maler noch nicht macht – auch dann nicht, wenn die kleinen Talentproben, über die jeder aus dem bürgerlichen Milieu Ausgesprungene verfügt, die latente Künstlerschaft zu bestätigen scheinen.

Was den Künstler ausmacht, ist, neben der angeborenen Veranlagung, Gesehenes, Erdachtes und Erlebtes zu formen: Gesinnung, Fleiß und das Streben nach einem Weltbild. Wirklich tragische und unüberwindbare Künstlerkonflikte, die grundverschieden sind von privaten Differenzen mit der Umwelt, ergeben sich fast nur aus dem Fehlen einer dieser Eigenschaften. Selbstverständlich ist besonders der Mangel an Fleiß in zahllosen Fällen begründet im Mangel an materiellen Mitteln, und ich kenne keine widerwärtigere Weisheit als die, daß Not und Entbehrung geniebefördernde Antriebsmotoren sein sollen. Übrigens habe ich, sooft er mir auch begegnet ist, den Trostspruch niemals von anderen Leuten gehört als von kunstfremden Banausen oder gehemmten Mäzenaten, deren eigener Leib zeitlebens von Not und Entbehrung verschont geblieben ist. Dagegen bedingt das Vorhandensein aller Voraussetzungen echter Künstlerschaft durchaus nicht immer die Klarheit des begnadeten Individuums über das Gebiet seines Könnens und seiner Berufung. Goethe ist mit seinem Jugendwahn, sein Genie habe ihn zum Maler bestimmt, keine Ausnahmeerscheinung. Künstler, die sich verschiedenen Musen ergeben haben, beweisen nichts für die onkelhafte Lehre, wer in mehreren Künsten brillieren wolle, könne in keiner etwas leisten; sie beweisen nur, daß Künstlerschaft im Drange zu metaphorischem Ausdruck in Erscheinung tritt, nicht in der Zufälligkeit einer formalen Begabung. Gerhart Hauptmann (den ich merkwürdigerweise persönlich nie kennengelernt habe; wir hätten wohl auch wenig miteinander anzufangen gewußt) war meines Wissens zuerst Bildhauer; die Schauspieler Friedrich Kayßler und der achtzigjährige Aloys Wohlmuth in München dichten, Albert Steinrück malt; Lovis Corinth schrieb ausgezeichnete deutsche Prosa, und Rudolf Levy, der Maler, dessen sonores Organ das Pariser »Café du Dôme« von heimatlichen Klängen erzittern läßt, schreibt Verse, an deren graziöser Laszivität der alte Aretino seine Freude gehabt hätte. Ein paar Jahre vor Kriegsausbruch besuchte ich einmal auf der Durchfahrt durch Weimar Johannes Schlaf. Da zeigte er mir Bleistiftskizzen, Federzeichnungen und Pastellbildchen aus seiner Jugendzeit, die in ihrer künstlerischen Feinheit und zarten Sorgfalt das Heranreifen eines bedeutenden Malers hätten erwarten lassen. Aus dem latenten Talent erwuchs dann aber die dichterische Kraft, die im »Frühling« und den übrigen an Walt Whitman geschulten meisterhaften lyrischen Kleinmalereien seiner Skizzen und Romane Gestalt gewann.

Was meine eigene künstlerische Laufbahn betrifft, so habe ich allerdings Zweifel darüber, wohin ich durch Neigung und Fähigkeit gehöre, niemals kennengelernt. Ich glaube, ich habe Verse gemacht, ehe ich schreiben und lesen konnte. Als Elfjähriger dichtete ich Tierfabeln, verdiente mit knapp sechzehn Jahren in der Woche drei Mark, indem ich – in ängstlicher Heimlichkeit vor Eltern und Geschwistern – für den Komiker eines Lübecker Zirkus-Varietés regelmäßig die letzten lokalen und politischen Aktualitäten in seine Couplets hineinwob, und verfaßte als Sekundaner das übliche Gymnasiasten-Drama in fünf aus je mindestens drei Vorhangszenen bestehenden Akten in fünffüßigen Jamben mit gereimten Kraftstellen und Aktschlüssen; es hieß »Jugurtha«, hielt sich in seinem Verlauf eng an Sallusts Beschreibung und ließ zuletzt den trotzigen König von Numidien auf offener Szene im Kerker verhungern. Mit siebzehn Jahren flog ich aus dem Lübecker Katharineum heraus, weil ich den Direktor und einige Lehrer in anonymen Berichten an die sozialdemokratische Zeitung bloßgestellt hatte, was die feierliche Bezeichnung »sozialistische Umtriebe« erhielt, und entfaltete, nach einjährigem Besuch des Gymnasiums in Parchim in Mecklenburg in die Vaterstadt zurückgekehrt, als Lehrling der Adler-Apotheke in Gemeinschaft mit meinem Freund, dem damaligen Unterprimaner Curt Siegfried, eine lebhafte Tätigkeit als ungenannter Artikelschreiber für sämtliche Lübecker Tageszeitungen.

Wir verlangten mehr und größere Volkslesehallen, forderten und erreichten allsonntägliche Demonstrationsvorträge im Museum an Hand der ausgestellten Gegenstände, setzten die Schaffung eines Zoologischen Gartens durch und leisteten unser Meisterstück mit der Rettung des zum Abriß bestimmten ältesten Unterbaues eines Lübecker Gebäudes, der Löwen-Apotheke. Eines Sonntagmorgens standen in fünf lübeckischen Zeitungen fünf verschiedene Artikel, die die erschrockenen Landsleute von der Absicht unterrichteten, die alte Stadt eines ihrer wertvollsten Baudenkmäler zu berauben, und zu allgemeinem Protest aufriefen. Der Freund hatte mir tags zuvor die Mitteilung gebracht, und ich setzte mich hin, schrieb meine fünf Aufsätze bis kurz vor Mitternacht, und Siegfried gelang es, in sämtlichen Redaktionen, deren jede natürlich glaubte, die erste und einzige Alarmbläserin zu sein, die Aufnahme noch in der Frühnummer durchzusetzen. Die Wirkung war erstaunlich. In zwei Tagen schon hatte sich ein Komitee zur Erhaltung des Hauses gebildet, der schon angesetzte Termin für die Abrißarbeiten wurde inhibiert; die Architekten erklärten, daß der Umbau der Apotheke bei Erhaltung des Unterbaues 25 000 Mark Mehrkosten verursachen werde, die »Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit« rief auf, die Summe durch eine Kollekte herbeizuschaffen, und in wenigen Tagen war das Geld beisammen. Alles freute sich, nur mein Lehrchef, dem dieses Mal meine Aktivität nicht verborgen geblieben war, ärgerte sich, da sich die Angelegenheit doch als schöne Reklame für die Konkurrenz-Apotheke anließ.

Meine Tätigkeit war in diesem einen Falle über das anonyme Artikelschreiben hinausgegangen. So kam es, daß ich während meiner Dienstzeit in der Apotheke den Besuch des Vorsitzenden des »Vereins zur Hebung des Fremdenverkehrs« empfing, daß der Lehrling von Senatoren und anderen Honoratioren antelephoniert wurde und sich allerlei Ungewöhnliches in der Apotheke zutrug. Unter den Konferenzen, die in der Affäre der Löwen-Apotheke mit mir und Curt Siegfried gepflogen wurden, fand eine statt, zu der uns der Vorsitzende der Gemeinnützigen Gesellschaft eingeladen hatte; das war ein Landrichter namens Neumann. Er ist später Senator und Bürgermeister von Lübeck gewesen und ist identisch mit dem im vorigen Jahre zur Berühmtheit gelangten Reichskanzlerkandidaten des Justizrates Claß.

In dieser Zeit, 1898, 1899, wurden die ersten Gedichte und Artikel auch außerhalb des heimatlichen Umkreises und mit meinem Namen gedruckt. Einer der ersten, die Aufsätze sozialkritischen Inhalts von mir veröffentlichten, war Hans Land in seiner Wochenschrift Das neue Jahrhundert; Gedichte erschienen – mir scheint, erst etwas später – in der Münchener Gesellschaft. Damals trat ich auch, immer in Verbindung mit Curt Siegfried, in persönlichen Verkehr mit dem Lübecker Journalisten- und Schriftstellerverein, und als dort einmal Maximilian Harden einen Vortrag gehalten hatte, an den sich ein geselliges Beisammensein anschloß, ließ ich meine erste Rede vom Stapel, indem ich den Gast im Namen der geistigen Jugend Lübecks begrüßte. Harden hat sich viele Jahre später noch im Gespräch mit mir an das Zusammensein mit dem Primaner und dem Apothekerlehrling erinnert.

Curt Siegfried hat leider früh geendet. Er entschloß sich, nach Absolvierung des Gymnasiums Jura zu studieren. Die Flohknackerei der Rechtswissenschaft und das studentische Treiben mißfielen ihm gleichermaßen. 1901 waren wir in Berlin viel zusammen. Für meine mehr und mehr der Arbeiterbewegung zuneigenden Interessen brachte er gar kein Verständnis auf, wie er, der um mehrere Jahre jüngere, schon mein abruptes Fortstoßen der bürgerlichen Existenzgrundlage kopfschüttelnd mißbilligt hatte. Er selbst fand jedoch, obwohl er materiell sorglos gestellt war und bei einer gütigen und verständnisvollen Mutter in allen Launen und Absonderlichkeiten einen Rückhalt hatte, überhaupt keine Basis im Leben. Höchstes künstlerisches Verlangen setzte sich um in bare genießerische Rezeptivität. Was irgend an moderner Literatur zu erreichen war, fraß er förmlich in sich hinein, blieb endlich bei Oscar Wilde hängen und gefiel sich in der Rolle eines Dorian Gray. Er kleidete sich in übertriebene Eleganz, trug stets eine große Chrysantheme im Knopfloch und gab sich müde und blasiert. Den letzten Versuch, in neuer Umgebung die Beziehung zum Leben und zu seinem Studium wiederzufinden, machte er in München; vergeblich. Eines Tages, im Juli 1903, kam unser gemeinsamer Schulfreund, Gustav Radbruch, der spätere Reichsjustizminister, damals Referendar, zu mir und brachte mir die Mitteilung, daß sich Siegfried in München erschossen habe. Schmerz um seinen Tod habe ich erst in nachträglicher Reflexion empfunden, obgleich ich an diesem Freunde sehr hing. Im ersten Augenblick sagte ich nur: »Es war wohl für ihn das richtigste.«

Curt Siegfried – das war für mich immer ein Schulfall des künstlerischen Menschen, bei dem es zur Künstlerschaft nicht reicht. Es fehlte die Leidenschaft einer gefügten Gesinnung, von der allein das Streben nach einem Weltbild kommen kann. Eine genialische Natur verlor sich in Resignation und Ästhetizismus. Dennoch. Ich danke ihm viel, seiner Freundschaft und seiner oft verblüffend scharfsinnigen Kritik, die um so wertvoller war, weil sie aus reinem und neidlosem Herzen kam. Hier unterschied sich Siegfried von andern verhinderten Künstlern, von den latenten Talenten, denen es am Wichtigsten gebricht, wenn schon sonst die Bedingungen zum Künstlertum gegeben sind – an Fleiß. Das ist ein Mangel, der die trüben Eigenschaften im Charakter hochtreibt, am meisten den Neid. Laßt ein Theater ein Stück, einen Verleger ein Buch annehmen, laßt womöglich den materiellen Erfolg der Arbeit eines Caféhauskumpanen sichtbar werden – es bleibt kein heiler Faden an dem Autor und seinem Werk. Nur wirkliche Künstler wissen auch zu loben und sich mit andern zu freuen. Als die Latenten einmal wieder herfielen über einen Akuten, fragte Dr. Itelsohn: »Haben Sie eigentlich schon mal darüber nachgedacht, warum Ihre Dramen und Ihre Romane keinen Erfolg haben? – Das liegt nur daran, daß Sie sie gar nicht geschrieben haben!«

Es ist zu loben, daß heutzutage liebende Mütter die Klugheiten ihrer Kleinen in Tagebüchern niederlegen. Aber es ist nicht sicher, ob die versprochenen Schöpfungen der Genies jemals entstehen werden.


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