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Auf einem der Holzklötze vor dem Schuppen saß Mathis, sein Kasten mit den Vögeln stand zu seinen Füßen, vor ihm aber auf einem anderen Holzstück hatte sich Toni niedergelassen, mit der er sich unterhielt.

»Du hast also nichts verkauft, armer Mathis?« fragte das kleine Mädchen.

»Was tut's!« schrie der Lahme in aufgeregter Stimmung. »Es tut gar nichts!«

»Aber deine Frau und dein Kind, das so krank ist?«

»Es tut auch nichts!« lachte er weiter.

»Morgen will ich dir allerlei recht Gutes bringen«, sagte Toni.

»Aha, Brosamen vom Tische gekehrt! Also ist ein Fest heute. Ich hab schon in der Stadt davon gehört. Ehe! Was hat's denn zu bedeuten? Es wird Hochzeit gemacht!«

»Du bist närrisch, Mathis. Man muß sich ja erst verloben.«

»Hurra! Es wird Hochzeit gemacht!« schrie Mathis. »Da muß ich dabei sein!«

»Du willst dabeisein?«

»Ich will dabeisein!« schrie der Lahme weiter, immer lauter werdend. »Ich will eingeladen werden, ich will mit am Tische sitzen, ja, das will ich!«

In dem Augenblick trat der Major um die Ecke der Umzäunung, er mochte nicht länger dies Gespräch mit anhören, zugleich regte sich sein Zorn über die Anwesenheit und Vertraulichkeit seiner Tochter. Toni erschrak nicht wenig, als sie ihren Vater unerwartet vor sich sah, der, ohne den Mathis anzusehen, ihr befahl, sogleich zu folgen, und, ohne stillezustehen, seinen Weg fortsetzte.

Es wäre auch alles gut abgelaufen, hätte Mathis sich ruhig verhalten, allein kaum hatte der Major einige Schritte getan, rief er höhnisch lachend: »Geht nur, ich komm schon, es bleibt dabei! Hochzeit ist eine schöne Sache, also will ich dabeisein!«

Brand sah sich um und blickte ihn zornig an, aber Mathis hatte alles Gefühl dafür verloren. »Es ist richtig«, grinste er ihn an, »es ist der Mathis mit dem lahmen Bein, der eingeladen werden will! Ihr sollt mich bitten darum, fußfällig um die Gnade bitten, so will ich es tun!«

»Halten Sie sich nicht auf«, sagte Rachau zu dem Major, »dieser Trunkenbold weiß von seinen Sinnen nichts.«

»Er weiß genug, hoho!« schrie Mathis, der offensichtlich angetrunken war, mit, seiner rechten Hand durch die Luft fahrend, »wer tot ist, ist tot! Eingeladen will ich sein, nicht auf den Kirchhof geschmissen, von mir erbt keiner nichts!«

Der alte, grimme Mann stand wie erstarrt auf dem Pfad. Seine Brust keuchte, seine Knie bebten.

»Fürchten Sie nichts«, flüsterte Rachau. »Überlassen Sie mir diesen Taugenichts«, setzte er dann lauter hinzu, »er ist nicht wert, daß Sie ihn einer Antwort würdigen.« Damit begleitete er den Major einige Schritte und kehrte dann langsam um und zu Mathis zurück.

Je näher er kam, um so freundlicher lächelte er. Er schien sich daran zu freuen, daß der Lahme, der sich bemühte, seine übermütige Miene beizubehalten, in Unruhe geriet und Blicke umherwarf, als suche er Beistand. Er wäre vielleicht davongelaufen, wenn es in seiner Macht gestanden hätte. Da er jedoch einsehen mußte, daß dies nicht anging, rückte er seinen Hut in die Stirn und zog seine Krücke in die Höhe, als wollte er für jeden Fall bereit sein. Sein Rausch schien verflogen.

»Bleib sitzen«, sagte Rachau, »es wird das beste für dich sein. Du machst die dümmsten Streiche, die ein Mensch in deiner Lage machen kann. Statt meinen guten Rat zu befolgen, ein anstelliger anständiger Mensch zu werden, bist du ein Trunkenbold geworden, der nicht einmal mehr Mitleid verdient.«

»Es hat sich keiner um mich bekümmert, und das Elend macht schlecht«, antwortete Mathis mürrisch.

»Ich habe dich aufgefordert, dich an mich zu wenden, wenn ich dir behilflich sein kann, habe dich aber vergebens erwartet«, fuhr Rachau fort. »Wolltest du mich ansprechen, hättest du mich leicht finden können. Hast du mir jetzt etwas zu sagen, so bin ich hier.«

»Ich habe gar nichts zu sagen«, antwortete Mathis ebenso mürrisch wie vorher.

»Aber du möchtest eingeladen sein, mein lieber Mathis.« Rachau lächelte. »Heute abend feiere ich meine Verlobung, und wenn ich von meiner Reise zurückkomme, wird meine Hochzeit sein. Ich lade dich ein, wenn du kommen willst.« Der übermütige Spott in seinem Gesicht war so herausfordernd, daß Mathis, noch halb berauscht, wie er war, es dennoch empfinden mußte; daneben aber ging es ihm vor den Blicken dieses Mannes wie dem Major, er duckte sich wie ein knurrender Hund und sagte ungewiß: »Warum nicht, ich bin's schon zufrieden.«

»Du sollst empfangen werden, wie du es verdienst«, fuhr Rachau fort. »Wie es im Zuchthaus hergeht, weißt du ja, aber sei sicher, mein lieber Mathis, ich werde für dich noch ein besseres Plätzchen ausfindig machen.«

Mathis fuhr mit dem Kopf zurück, als Rachau sich ihm noch mehr näherte. »Wenn du es wieder wagst, unverschämt zu sein, mein guter Freund«, fuhr er liebenswürdig lächelnd fort, »so verlasse dich darauf, daß dies das letzte Mal gewesen ist, wo ich dich vor den Folgen warne. Es geht dir jetzt schlecht, nicht wahr?«

»Schlecht genug«, sagte Mathis.

»Dein Weib hungert, und dein Kind ist krank.«

»Alle Donner!« brummte Mathis, wild aufblickend.

»Und du, statt ihnen beizustehen, versäufst deine letzten Pfennige.«

»So helfen Sie mir, Herr!« schrie der Lahme trotzig auf.

»Ich dir helfen?« antwortete Rachau verächtlich. »Warum sollte ich dir helfen? Nicht einen Pfennig habe ich für solchen Taugenichts. Aber einen guten Rat will ich dir geben, höre mich an. In zwei Wochen, vielleicht noch früher, werde ich wieder hier sein. Bist du während dieser Zeit ein ordentlicher Mensch geworden, kann man sich auf dich verlassen, dich nützlich brauchen, so will ich halten, was ich dir schon früher versprach. Ich will für dich sorgen. Der Herr von Brand, mein Schwiegervater, wird dir auf meine und deine Bitten irgendein Amt geben, das dich ernährt. Sei also weise, mein guter Freund, damit ich dein Freund bleiben kann, wenn aber nicht, so nimm mein Wort darauf, daß ich dich verfolgen will, bis du in deinem Elend umkommst. – Willst du nun noch heut zu meiner Verlobung kommen, mein lieber Mathis, so komm nur.« Er nickte ihm freundlich zu und ging fort.

Mathis saß still auf dem Holzklotz und sah ihm nach. Er wagte nicht zu lachen, nicht zu sprechen. Dem großen zornigen Gutsherrn hatte er ins Gesicht gehöhnt, vor diesem sanften Herrn scheute er sich. Und erst als Rachau verschwunden war, schien sich der Bann zu lösen und an seine Stelle ein tückischer Ärger zu treten, der sich in Verwünschungen und Zähnefletschen Luft machte. Er focht mit seinen geballten Fäusten umher, bis er zuletzt auf den Klotz schlug und grimmig aufschrie: »Wenn's das nicht wäre, ich wollt dich fassen! Aber wenn er mir auch die Kehle zuschnüren tut, will ich doch das Maul halten. Und wenn ich gleich sterben müßt, wollt ich doch darüber lachen, wie der Bluthund aussah, wie er zitterte und bebte! Und wenn's der Teufel selbst wär, so soll's mich doch freuen tun, daß er sie alle in seinen Sack schmeißt, und sie müssen alle mit ihm in die Hölle hinein!«

»Nicht alle!« sagte eine tiefe Stimme hinter ihm, und Mathis fuhr zusammen und sah über die Achsel fort. Dann rückte er den Hut und verzerrte sein Gesicht zur Freundlichkeit. Ohne besondere Überraschung sah er den Mann an, der leise die schmale Tür im Schuppen geöffnet hatte, vor welcher Mathis saß, und mit einer gewissen lustigen Vertraulichkeit rief er ihm zu: »Sie sind es also, Herr Doktor! Na, Sie haben doch alles mit angehört!«

»Ich habe es angehört«, antwortete Gottberg. Er sah ihm ins Gesicht und fragte: »Was weißt du davon?«

»Wovon?«

»Von dem Tode des Mannes, der dort hinter dem Holz ... ermordet wurde.«

Mathis rührte sich nicht. Er schien etwas zu berechnen, dann sagte er schlau aufhorchend: »Was, der Teufel? Sollt's also wirklich geschehen sein? Wer hat's getan?«

»Der hier bei dir stand«, antwortete Gottberg. »Rede die Wahrheit. Du weißt davon.«

»Das möcht ein gutes Essen geben«, grinste der Lahme, »wenn er's erfahren tät, was Sie da sagen. Wenn's wahr wäre, gibt's nicht andere Leute, die's eher getan haben könnten?«

»Wohin du auch deuten magst«, sagte Gottberg, »so verstockt bist du nicht, daß sich nicht dennoch dein Gewissen regte. Willst du Unschuldige in die Hände eines Mörders fallen lassen?«

»Nehmt Euch in acht, Herr«, rief Mathis, indem er sein Bündel aufnahm, »daß Eure Worte Euch nicht beißen!«

»Geh hin zu ihm, da du sein Helfershelfer bist, und sag's ihm.«

»Wenn ich das wäre«, antwortete Mathis, »hätt ich ihm manches sagen können, was ihm Freude gemacht hätte. Ich hätt ihm sagen können, da unten in der Mühle, in der Giebelstube, wohnt länger als eine Woche schon der Herr Doktor während der ganzen Zeit, wo die Herrschaft denkt, er sei weit davon! Ich hätt auch sagen können, Herr, das kleine Fräulein kommt zu ihm gelaufen, es bringt ihm Nachrichten alle Tage. Und der Müller ist der Spitzbub, der mich zehnmal schon ausspioniert hat und allerlei Winke gegeben hat, was ich verdienen könnt, wenn ich gescheit wär. Seht, Herr, das könnt ich ihm sagen, aber ich sag's nicht. Warum nicht? Weil ich Euch kein Leid zufügen möcht, denn Ihr – ja Ihr habt's nicht um mich verdient. Kein Groschen sitzt in meiner Tasche, nichts zu beißen, nichts zu brechen ist da. Er hätt sie mir vollgemacht, aber ich mag sein Geld nicht!«

»Ich will dir helfen«, fiel Gottberg ein. »Fordere, was du willst, du sollst es haben. Aber rede! Im Namen Gottes, sprich die Wahrheit!«

»Für den da?« rief Mathis, indem er seinen Arm nach dem Pfad ausstreckte, der zum Gut führte, und dann an sein lahmes Bein schlug. »Für den, der mich bis ans Betteln gebracht hat?«

»Du hast auch ein Kind«, sagte Gottberg. »Um deines Kindes willen tu, was ein ehrlicher Mann tun muß.«

Die Mahnung schien nicht ganz ohne Wirkung zu bleiben, wenigstens versetzte die Erwähnung des Kindes den Lahmen in Bewegung. Der Rausch, in welchem er sich befunden hatte, war nun gänzlich verflogen, und sicher überfielen ihn traurige Gedanken.

»Ich muß nach Haus«, murmelte er, »wenn's auch ein saurer Gang ist.«

»Und du willst trotz deiner eigenen Not nicht antworten?«

»Nein, nein«, rief Mathis trotzig, »was mutet Ihr mir zu? Ich weiß nichts, was soll ich wissen? Laßt von mir ab, Ihr kriegt doch nichts heraus! Was, zum Donner! hab ich damit zu schaffen! Adjes, Herr, adjes! Sorgt für Euch selbst – es ist Verlobung heut. Hoho! Habt Ihr keine Galle im Leibe?« Er fing an, seine Krücke zu setzen und hinkte fort.

»Halt ein«, sagte Gottberg, »nimm das mit.«

»Nichts!« schrie Mathis, den Kopf schüttelnd, »ich nehm nichts!« – und so schnell er konnte, ging er weiter. Eben kam die Müllerin den Weg herauf und sprach ihn an, aber auch ihr gab er keine Antwort.

 

Als Mathis seine Hütte erreichte, war es finster geworden, finster und still war es auch hinter den kleinen blinden Scheiben. Er stand und horchte lange, er konnte nichts hören. Sonst schrie das Kind wohl, in den letzten Tagen hatte es fast immer geschrien, nun war es totenstill und dunkel. Es wurde ihm bang ums Herz, denn es fiel ihm vieles ein, was schwer wog. Er hatte hier glücklich gelebt in seiner Art. Die Frau nahm er, weil sie ihm gefiel, er hätte eine mit Geld haben können, die mochte er nicht. Er nahm die Arme, die nichts hatte als ihre Hände und die ihm sagte, sie wollte fleißig und brav sein, sie hofft's auch von ihm, so würde alles gut gehen. Fleißig und brav war sie auch gewesen, und es ging gut, bis der unglückliche Tag kam, wo sie ihn blutend nach Haus brachten, dann ins Krankenhaus, dann ins Gefängnis, dann ins Zuchthaus. Das hatte sie nicht überwinden können. Kummer und Gram, Schande und Not hatten sie abgezehrt; nun das kranke Kind und dazu der wüste Mann. Es kam kein guter Tag mehr. Das herumtreibende Leben und die Leidenschaft in ihm hatten ihn anders gemacht. Sonst ein kecker Bursch, dem 's Arbeiten Spiel war, den alle bewunderten, war er jetzt ein Vagabund, dem man aus Mitleid ein Almosen zuwarf, der allerlei Possen treiben mußte, um zu betteln. Sein Unglück nagte an ihm, weil er seinen Stolz nicht vergessen konnte, und er klagte mit ingrimmiger Rachlust den an, der ihn verstümmelt hatte. Um die Sorgen und Qualen loszuwerden, trank er, was er sonst nie getan. Andere bezahlten die Zeche, er unterhielt sie dafür mit seinen Künsten und Spaßen, aber wohl tat es ihm nicht. Er kam nach Haus, zankend und fluchend, und wenn's die Frau auch geduldig litt, er sah's ihr doch an, wie's in ihr aussah. Früher hatte sie ihn getröstet. Wenn keiner ihn unschuldig nennen wollte, sie nannte ihn so, und daran hatte er sich lange aufgerichtet. Jetzt las er in ihren Mienen, daß er schuldig sei, ein schlechter Kerl; damit brach die Stütze zusammen. Es blieb ihm nichts als sein Haß und seine Aussicht auf Rache, und was ihm auch gesagt werden mochte und was er sich selbst sagte, er schlug's mit Gewalt von sich. So hatte er es auch heut noch getan, und bis er nun hier an der dunklen Hütte stand, hatte er seine Schwüre und Flüche zehnfach wiederholt. Als aber alles so still war, kam die Angst über ihn. Wenn es da drinnen leer wäre, wenn das Kind tot, die Mutter in ihrer Verzweiflung vom Mühlsteig gesprungen, wie sie es gestern in ihrem Jammer gedroht, was dann mit ihm! Und wiederum wandte sich die Wut in seiner Brust gegen den Bluthund, der ihn so schlecht gemacht. Er ballte seine knochige Faust, hob sie gegen den dunklen Himmel auf und sagte zwischen den Zähnen: »Mag's mich zerreißen und zerfressen, ihm soll's nicht helfen! Holla! die Tür auf! Sterben müssen wir alle!«.

Wie er mit Gepolter hereinkam, stieß er heftig gegen die morsche Pforte, als wollte er durch Gewalt sich Mut machen, aber die Tür war nicht versperrt, sie sprang auf, und bestürzt stand er still, als er in der Kammer dahinter einen Lichtschein flimmern sah. Indem er darauf hinsah, sah er auch seine Frau, die an dem Bett des Kindes saß, nach ihm umblickte, aufstand und ihm bittend zuwinkte. Die Angst fiel von ihm ab, sie war noch da, und wie sie die Lampe aufnahm und ihm entgegenkam, konnte er in ihr Gesicht blicken; das sah friedlicher und bewegter aus, als er es lange gesehen.

»Bist du es, Mathis?« fragte sie.

»Wer soll es sein«, antwortete er.

»Schweig, Mathis, poltere nicht, setz dich nieder.«

»Warum?« fragte er und blickte stier nach dem Bett des Kindes.

»Er schläft, Mathis, nach drei Tagen schläft er«, flüsterte die Frau. »Sieh nur hin, ganz ruhig schläft er.«

Mathis beugte sich über sein Kind. Es atmete, es lebte. Es lag in weichen, reinen Betten, als hätte es keinen Schmerz und sein bleiches Gesicht einen neuen Lebensschimmer. Er setzte sich auf den Holzschemel und drückte seine Hände zusammen, immer heftiger zusammen, je mehr er hörte.

»Ich wußte nicht mehr, wohin«, sagte die Frau, »den ganzen Tag hattest du mich allein gelassen, und nichts war im Hause. Das Kind wimmerte und wand sich, ich fiel auf meine Knie und bat Gott im Himmel um Erbarmen. Und wie ich lag, hörte ich eine Stimme, und wie ich aufblickte, stand sie da.«

»Wer?« murmelte Mathis.

»Wer konnt's sein, Mathis, als das liebe Fräulein Luise. Du hattest sie zum Haus hinausgetrieben, jetzt kam sie dennoch wieder, die Schwester hatte ihr von unserer Not gesagt. Und kaum hatte sie gesehen, wie es stand, so mußt ich fort nach der Stadt hinein, einen Zettel an den Doktor bringen, darauf stand geschrieben, er müßte auf der Stelle kommen. Und wie er kam, Mathis, war sie noch hier, und vom Gut war noch ein Mann gekommen und hatte die Betten da gebracht und vielerlei andere Dinge.«

»Der Doktor, was sagt er?« fragte Mathis, als wollt's ihn ersticken.

»Wenn's gut gepflegt würde, Mathis, sorgfältig gepflegt, so würd's durchkommen.«

»Gut gepflegt!« versetzte er, auf das Kind niederschauend.

»Es hat keine Not, nein, nein, es hat's nicht«, fuhr sie fort, »sie hat für alles gesorgt, sie sorgt auch weiter!« Mathis erwiderte nichts. Er hielt seinen Kopf niedergesenkt und rührte sich nicht, selbst nicht, als er Schritte in der Stube hörte und gleich darauf nahe bei ihm eine Stimme sprach, die er gut genug kannte. Es war Gottberg, das wußte er, und was er wollte, wußte er auch. Aber hinter Gottberg stand noch ein Mann, der im Schatten an der Tür stehen blieb.

»Du hast mich vorhin nicht hören wollen, Mathis«, sagte Gottberg, »willst du mich jetzt hören?«

»Seid Ihr schon da?« murmelte Mathis.

»Und er kommt nicht allein«, antwortete der Fremde.

Mathis fuhr in die Höhe, wie der Fremde sprach, und musterte ihn bei dem schwachen Licht. Es war ein großer kräftiger Mann, noch jung an Jahren, aber mit einem klugen scharfen Gesicht und einer Brille auf der Nase, unter welcher seine Augen blitzten. »Kennst du mich wohl noch?« fragte er.

»Ja, Herr«, erwiderte Mathis.

»Manch hübsches Mal haben wir zusammen Dohnen gestellt und Sprenkel für die Schnepfen«, fuhr der Fremde fort, »wollen wir nicht wieder zusammen einen Raubvogel fangen?«

»Nein, Herr«, sagte Mathis.

»Nicht?« entgegnete der junge Mann. »Mein Vater hat dir Böses getan.«

Mathis Gesicht zog sich zusammen.

»Dafür willst du ihm nichts Gutes tun. Aber eines kannst du mir sagen, mir dem Sohn – du hast ja auch einen Sohn – hat mein Vater –«

»Halt«, fiel Mathis ein, »so geht es nicht.«

»Wie geht es also?«

»Kommt mit.«

»Wohin?«

»Aufs Gut hinauf. Ich will ihn fangen.«

Der junge Brand ließ seine Augen forschend auf ihm ruhen und sagte darauf: »Du willst zu dem Herrn von Rachau.«

»Er hat mich zu seiner Verlobung eingeladen.« »Nun willst du kommen.«

»Ja, Herr, ich will kommen.«

»Wir werden dich begleiten.«

»So muß es geschehen, Herr.«

»Höre, Mathis«, begann der junge Herr von Brand, »ich weiß, du tust nichts um Lohn und nichts aus Furcht; aber wissen sollst du doch, daß, wenn du uns treulich helfen und dienen willst, der reiche Lohn nicht ausbleiben wird. Willst du uns aber täuschen, so könntest du leicht als ein Gehilfe bei dem Verbrechen, das hier begangen scheint, betrachtet und danach behandelt werden.« »Ich helfe Euch nicht und diene Euch nicht«, antwortete Mathis unerschütterlich.

»Wem dienst du denn?« fragte der junge Brand nicht ohne Mißtrauen.

»Ich will's Euch sagen, Herr!« rief der Lahme. »Nicht Euch, nicht dem Herrn dort oben auf dem Gute!« Er schlug sich mit der Hand auf die Brust und fuhr fort: »Mit all Eurem Geld solltet Ihr meinen Mund nicht auftun, aber – um des Kindes willen da und um die, die's in ihren Arm genommen hat, darum muß es so sein, und jetzt kommt und laßt uns gehen.«

»Ich bürge für Mathis«, sagte Gottberg zu seinem Freund, der nicht recht zu wissen schien, was er aus diesen Äußerungen machen sollte. »Laß ihn gewähren, er wird uns nicht täuschen.«

Nach einigen Minuten war Mathis auf den Beinen, und rüstig führte er seine beiden Begleiter an den Fluß hinab und an den Steg zur Mühle hinüber; von dort ging der bei weitem nähere Pfad zum Gute gerade hinauf an dem Schuppen vorüber, durch die Waldhügel jedoch lief der einsame Weg, an dessen Rande Eduard Wilkens sein unglückliches Ende gefunden. Diesen Weg schlug Mathis ein.

Seine Begleiter hinderten ihn nicht daran; als sie jedoch an der Mühle vorübergingen, stand der Müller an seiner Tür, und nach einem kurzen Geflüster sprang er zurück und kam bald darauf mit einem alten Gewehr auf der Schulter und begleitet von drei tüchtigen Knechten und Mühlknappen, jeder mit seinem eisenbeschlagenen Stock, einer mit einem rostigen Säbel.

So zogen sie hinter den anderen her, aber nicht ganz leichten Mutes. Seit der Tote hier gefunden wurde, scheute sich jeder vor dem Gang. Mancher hatte schon über den Vorfall den Kopf geschüttelt, und unheimlich Geflüster ging umher, wenn auch keiner laut und öffentlich ein verfängliches Wort zu sagen wagte. Dergleichen höhnisches Lachen und spitziges Wesen erlaubte sich Mathis allein. Wie der aber über den Major dachte und ihn verwünschte, das war bekannt genug, also gaben die Leute auch nichts auf seine giftigen Bemerkungen über den Reichtum, der dem Herrn ins Haus gefallen, und den Vetter, den er dafür sicher eingesargt ins Leichenhaus gesetzt habe. Aber sitzengeblieben war dennoch manches, weil's jedesmal so geht. So unglaublich und unerhört ein Verdacht war, den jeder von sich wies, so war die Tatsache doch nicht zu leugnen, und das geheime Grauen warf sich auf den blutigen Fleck Erde an dem wilden Rosenstrauch, der allein hätte erzählen können, was hier geschah.

Der Mond schien in voller Klarheit und beleuchtete den Weg und die Hügel und die schwarzen Tannen und den kleinen Wiesengrund, auf dem der Rosenbusch stand, silberhell. Die Haut zog sich dem Müller und seinen Gefolgsleuten im Nacken zusammen, als sie deutlich sahen, wie der lahme Mathis plötzlich an dem Strauch stillstand und wie er mit seinen beiden Begleitern sprach, welche dicht bei ihm zuhörten. Bei aller Angst war die Neugier der vier Männer doch noch größer, sie schlichen sich heran, so weit es geschehen konnte, bis unter die finsteren hohen Schwarztannen, deren Äste dicht über den Boden streiften, aber nur dann und wann hörten sie ein Gemurmel. Endlich wandte Mathis sich um und hinkte auf den großen Stein los, der nicht weit davon lag. Seine Begleiter folgten ihm, und nach einigen Augenblicken bückten sie sich und wälzten nicht ohne Mühe den Stein aus seinem Lager. Dann suchten sie umher, und sie mußten wohl etwas gefunden haben, denn sie standen beisammen und schienen den Fund zu betrachten.

Während dies im Walde herging, hatte sich die Gesellschaft im Saale des Majors versammelt und mehrere fröhliche Stunden verlebt. Die Gastlichkeit der Familie war hinlänglich bekannt, heute jedoch zeigte sie sich ihren Gästen im schönsten Lichte. Es war nichts gespart worden, um den Abschiedsschmaus so reich und lecker zu machen, als es in der Geschwindigkeit geschehen konnte. Küche und Keller erhielten daher auch vielfache Lobsprüche. Die Damen flüsterten Luise Schmeicheleien über ihre Kuchen, Gelees und Speisen zu. Die Herren schlürften den goldigen Wein verschiedener Art, und der Arzt schwor auf Seele und Seligkeit, es sei gefährlich, hier oft eingeladen zu werden. Jeder wußte übrigens, was diese Festlichkeit zu bedeuten habe, warum Herr von Rachau reise; es war ein öffentliches Geheimnis, was bei Tische erfolgen werde. Der Major, der allezeit ein liebenswürdiger Wirt gewesen, ließ es auch heute nicht an gelegentlichen Ermunterungen fehlen, allein sein altes Wesen war doch nicht dabei. Er war zerstreut, blickte zuweilen scheu umher, ging aufgeregt von einem Zimmer ins andere, und dann wieder schien er ganz in seine Gedanken zu versinken. Einige Spötter flüsterten sich heimlich zu, er denke über die Verlobungsrede nach.

Sie hatten es auch so ziemlich getroffen, wenigstens waren die Gedanken des alten Mannes fortgesetzt bei dieser Verlobung und bei der, welche sich verloben wollte. Was er gegenüber Rachau geäußert hatte, war aus seinem tiefsten Herzen gekommen, und was der trunkene Mathis ihm nachgeschrien, vermehrte seinen Trübsinn und seine Herzensangst. Wie ein Verurteilter hinter den Eisenstangen seines Kerkers, sah er kein Entkommen mehr. Schimpf und Schande wollte er entgehen, aber sie verfolgten ihn, größer und größer wachsend, ein schwarzer Strom, der an seinen Fersen nachrollte, um ihn endlich doch zu verschlingen. Der Vertraute war sein Herr und Meister geworden. Düstere Ahnungen schwebten ihm vor, daß der böse Feind an seiner Seite sei, dem sein Kind sich überliefere, damit er den Vater verschone. Mit solchen Gedanken war er nach Haus gekommen, mit solchen Gedanken empfing er die Gäste, sah er Luise nach, verfolgte er sie durch den Saal und suchte sie, zugleich voll Scheu, sich nicht zu verraten, und mit der Absicht, munter und, wie es sich schickte, hoffnungsvoll und glücklich zu scheinen.

Rachau hatte ihm in einem Gemisch von Drohungen, Bitten und Beteuerungen eindringlich nochmals dargestellt, was seine Pflicht sei, und er hatte recht damit, denn die Zeit zu überlegen war vorüber. Aber welche Macht hatte dieser schreckliche Ratgeber erlangt! Das Mark in ihm fror, wenn er ihn anblickte, er war unfähig zum Widerstand. Rachau gebot auch schon unumschränkt. Auf ihn blickte ein jeder, er ordnete und lenkte, und an diesem Abend übertraf er sich in seinen Leistungen. Da war keiner, der ihn nicht bewunderte, der nicht über den geistvollen, von Witz und Laune übersprudelnden Mann erstaunte, und als er endlich neben Luise am Tische saß, der Vater an ihrer anderen Seite, gab es prüfende und lächelnde Blicke genug. Auch an der Tafel war Rachau das belebende Element. Er war unerschöpflich an gastronomischen Anekdoten berühmter Männer aller Art, welche die Fröhlichkeit vermehrten. Die große Ananasbowle auf der Mitte des Tisches war sein Werk. Als der Arzt davon ein Glas geleert, geriet er in einen Zustand der Verzückung. Er schnalzte mit den Lippen, leckte mit der Zunge nach beiden Seiten, riß seine Nasenflügel auf, um den Duft einzuziehen, und verdrehte seine Augen wie ein indischer Fakir. »Heil und Segen!« schrie er, »Heil und Segen über diesen Wohltäter der Menschheit, der diesen wunderbaren Trank bereitet hat! Dank allen Göttern, die ihn zu uns führten, damit er unter uns sich seinen Tempel gründe, in welchem wir ihn anbeten können!«

Bei dem Gelächter, das diese Apotheose des kunstliebenden Arztes erregte, und dem Klingen der Gläser, blickte Luise ihren Vater an. Es war ein Blick, der beredt zu ihm sprach. Er drückte leise ihre Hand und neigte sich zu ihrem Ohr. »Bist du bereit, mein Kind?« flüsterte er.

»Ja, Vater«, antwortete sie.

»Noch – noch ist es Zeit«, sagte er mit einem tiefen Atemzug, indem er ängstlich in ihrem Gesicht forschte.

Sie schüttelte mit einem matten Lächeln den Kopf. »Steh auf, Vater«, erwiderte sie.

Der Major erhob sich mechanisch von seinem Stuhl, den er zurückstieß. Er sah auf seine Tochter herunter, sie lächelte ihm zu. Rachau nahm ihre Hand und küßte diese, alle Stimmen schwiegen, alle Blicke richteten sich auf das junge Paar, alle Mienen füllten sich mit teilnehmender Erwartung, und die Vorsichtigen füllten ihre Gläser; der Arzt pumpte sich bei diesem Geschäft gleichzeitig Luft zusammen, um das dreifache Hoch auszubringen.

Im Augenblick der tiefsten Stille hörte man ein sonderbares Stampfen im Nebenzimmer. »Meine werten Freunde und Nachbarn«, begann der Major, indem er nach der offenen Tür blickte, »meine Herren, ich denke –«

Er hielt inne, und sein Gesicht verdunkelte sich. Seine Augen taten sich weit auf, und er geriet in Verwirrung über das, was er sah. An der Tür stand Mathis auf seiner Krücke, in seiner befleckten Jacke mit dem blauen groben Linnentuch um den Hals, aus welchem der hagere harte Kopf fast gespenstisch hervorragte. Die plötzliche Unterbrechung bewirkte, daß alle Blicke sich auf den Lahmen richteten, der sich hier eingeschlichen, und da Mathis bekannt genug war, auch viele wußten, was er gesündigt und wie er gestraft wurde, so vermehrte sein Erscheinen die Verwunderung.

Rachau hatte sich soeben zu Luise geneigt und ihr zärtliche Worte zugeflüstert, als der Major zu seinem Erstaunen nicht fortfuhr. Wie alle anderen forschte er nach der Ursache und fand sie auf der Stelle. Gewiß war er nicht weniger überrascht als Brand, doch ohne seine Haltung zu verlieren, rief er laut und fröhlich aus: »Das ist ein seltener Gast! eine Art steinerner Gast! Oder bist du lebendig und kannst uns Antwort geben?«

»Ja, Herr«, antwortete Mathis.

»Dann sag uns, was hat dich hierher getrieben?«

»Ist's nicht so«, fragte Mathis näher hinkend, indem er die Gesellschaft ansah und eine Art Verbeugung machte, wobei er den Bräutigam angrinste, »Verlobung ist heute, gnädiger Herr?«

»Was plauderst du aus!« lachte Rachau.

»Haben Sie mich nicht dazu eingeladen?« fuhr Mathis fort.

»Du hast recht«, fiel Rachau ein. »Geh in die Küche und laß dich speisen.«

»Danke, Herr«, versetzte Mathis, indem er, statt dem Befehl zu folgen, näher trat. »Nehmt's nicht ungnädig – ich bringe hier mein Verlobungsgeschenk.« Dabei faßte er in seine geflickte Jacke und zog etwas hervor, das er auf den Tisch warf.

Jeder sah darauf hin. Es klang, als sei es Metall, aber es sah schwarz und rostig aus und seiner Gestalt nach war es ein kleiner Hammer mit scharfer Spitze.

Rachau zuckte mit der Hand danach hin, sogleich aber zog er sie zurück und sah unbefangen das sonderbare Geschenk und den Geber an. »Was soll das bedeuten?« fragte er. »Was ist das?«

»Blickt nur hin«, fuhr Mathis laut und höhnend fort, »ich denke, Ihr werdet es wohl kennen.«

Der Major stierte den Hammer mit scheuen Blicken an. Er griff danach und ließ ihn wieder fallen. »Mir gehört er nicht!« schrie er auf und sank in den Stuhl zurück.

»Nein«, sagte Mathis, »es steht ›P.v.R.‹ am Stiel eingegraben. Ihr müßt's am besten wissen, Herr. Ist's nicht dasselbe Ding, das Ihr unter dem Stein verbargt? Ich habe es mit angesehen.«

»Wir haben es ohne Zweifel mit einem Narren oder Wahnsinnigen zu tun!« rief Rachau, umherblickend.

»Nicht mit einem Wahnsinnigen, aber mit einem Schurken!« antwortete ihm eine ebenso ruhige als volltönende Stimme.

»Mein Sohn – mein Sohn!« murmelte der Major, seine Arme ausbreitend. Aufzustehen vermochte er nicht. Mit weit offenen Augen saß er da, von Luises Armen umschlungen. Was weiter vorging, glitt wie Traumbilder an ihm vorüber. Er sah den Doktor Gottberg neben seinem Sohn, sah, wie er vor Rachau trat, als wüchse er auf und würde der Engel des Gerichts. Er sah auch, wie Rachau sich erhob in seiner Überraschung, sich niedersetzte und wieder aufstand und wie er verächtlich zu lächeln versuchte, als Gottberg zu ihm sprach: »Zweifeln Sie nicht daran, daß die Stunde da ist, wo Sie Rechenschaft geben sollen!«

»Oh«, erwiderte Rachau, »ich zweifelte von Anfang an nicht, daß dies Ihr Werk sei. Aber es ist ein Gewebe von Lügen, das ich zerreißen werde. Sie sind dazu eingeladen worden«, wandte er sich an den jungen Brand.

»Um einen Elenden zu entlarven, der sich hier eingeschlichen hat«, unterbrach ihn dieser, »und über den ich die ausführlichsten Erkundigungen eingezogen habe!«

»Sie sind getäuscht und betrogen worden!«

»Keine Frechheit kann Sie retten«, sagte Gottberg ruhig. »Der Beweis Ihrer Vergehen ist eindeutig.«

Rachau verfärbte sich einen Augenblick. »Das ist in der Tat ein seltsamer Auftritt«, sagte er dann, gelassen umherblickend. »Ich habe dieser edlen Familie einige Dienste erzeigen können, dafür sucht man mich zu beschimpfen. Wehe aber dem, der meine Ehre anzutasten wagt! Der Irrtum, welcher hier stattfindet, soll sogleich aufgeklärt werden. Diesem Herrn Doktor, der sich herausnimmt, Rechenschaft von mir zu fordern, bin ich keine schuldig, ich verachte seine Verleumdungen! Ihnen jedoch, Herr von Brand, gebe ich diese gern und auf der Stelle. Begleiten Sie mich!«

Er sprach mit solchem Anstand, solcher Ruhe und Würde, daß die bange erschrockene Gesellschaft nicht wußte, was sie denken sollte. Sie konnte das, was sie hörte, nicht von einem Manne glauben, den sie so hoch schätzte und der mit solcher Kraft der guten Sache sich verteidigte. Bestürzt und prüfend blickten alle auf die Streitenden. Niemand wußte, welcher Vergehen Rachau eigentlich beschuldigt wurde, was man gesehen und gehört, gab kein rechtes Licht, und der Major sah aus, als verstünde er auch nichts davon. Keiner rührte sich daher, als Rachau bei seinen letzten Worten einen der Armleuchter vom Tische nahm und sich dem Seitenzimmer näherte. Niemand hinderte ihn daran. Aber in dem Augenblick, wo Rachau sich umwandte und, den Leuchter in der Hand, die Gesellschaft lächelnd noch einmal anblickte, schlug er die geöffnete Tür hinter sich zu und war verschwunden.

Alles war in einer Minute geschehen, jetzt sprang Brands Sohn herbei und rüttelte an dem Schloß. Der Nachriegel war vorgeschoben. »Haltet ihn!« schrie Gottberg, aus dem Saal eilend, und hinter ihm her liefen die Gäste. Stühle wurden umgeworfen, der Tisch wankte, eine unbeschreibliche Verwirrung entstand, und das Gekreisch der Frauen wurde durch den Lärm rauher Stimmen im Garten beantwortet.

Plötzlich fiel ein Schuß, gleich darauf ein zweiter, ein wildes Geschrei schallte nach. Bleich und entsetzt stand Luise auf, ihr Vater mit ihr, der Sohn umfaßte sie beide. »Hoffentlich hat er sich erschossen«, sagte er leise. »Besseres könnte uns nicht geschehen.«

»Gottberg!« flüsterte Luise angstvoll.

Mathis stampfte auf seiner Krücke herein. »Fortlaufen wird der Herr nicht mehr«, schrie er. »Wie er zum Fenster hinaussprang, war auch der Müller mit seinen Knechten da. Ich will's aber doch nicht behaupten, daß sie ihn gefangen hätten, wenn der Doktor nicht gekommen wäre. Sowie er den sah, kehrte er sich um und drauf los, und wie er die Pistole herausholte, weiß ich nicht, aber er schoß ab.«

»Wo? Wo?« rief Luise, indem sie ihren Vater verließ und der Tür zueilte, und ihre Arme ausbreitend, sank sie in Gottbergs Arme, den Toni hereinzog. »Da ist er!« schrie das Kind. »Er lebt! Kein Finger tut ihm weh. Der böse Rachau hat ihn nicht totmachen können!«

»Nee«, sagte Mathis, »draußen liegt er aber selber mit einem Loch im Kopf, das nicht wieder heil wird. Wie er sah, daß er den Doktor verfehlt hatte, setzte er sich das Ding an seine eigne Stirne, und diesmal ging's.«

»Ist er tot?« fragte der Major, als wache er auf.

»Mausetot!« sagte Mathis.

»Und der Hammer dort«, sprach der alte Mann, indem er sich aufrichtete, »bei Gott! ich kenne ihn nicht! Kein Flecken haftet an meiner Ehre, mein Sohn!«

»Ich weiß es, Vater! Niemals war sie befleckt.«

»Nicht?« fragte er, die Hand an die Stirn legend, »aber dennoch – dennoch –«, ein Schauder flog über ihn hin, »dennoch war es mir, als ob ich es sein müßte – als ob kein Mensch daran zweifeln könnte, als ob sie alle schreien müßten: ›Seht da den Mörder! den Mörder!‹ – Und mein Kind, mein eigenes Kind – Herr mein Gott! auch mein Kind glaubte es!«

»O bester Vater, vergib!« flehte Luise. »Ich wollte es nicht glauben, aber du mußt wissen, daß ich in jener Nacht, als Wilkens tot in seiner Kammer lag, an der Tür stand, als Rachau dir – die Wunde zeigte.«

»Und wie war ich dahin gekommen?« stöhnte der alte Soldat. »Gier nach Geld und Gut war über mich gekommen, und ich – ich – ich wollte mein Kind verkaufen, mein Kind! Der Teufel hatte mich – er zog mich Schritt für Schritt in seine Hölle!«

»Gottbergs Liebe und Freundschaft haben dich erlöst, Vater, er hat uns alle erlöst«, unterbrach ihn sein Sohn.

»Ewig sei es ihm gedankt!« rief der Major. »An mein Herz, Gottberg, du sollst dich nicht mehr von uns trennen!«

»Dank verdient Mathis allein«, sagte der Doktor, auf den Bettler zeigend, der vergessen im Winkel stand. »Ohne seine Hilfe wäre alles vergebens geblieben. Er sah den Mord, den Rachau beging, mit an, als er versteckt unter den Tannenzweigen lag, sah, wie er Wilkens blitzschnell niederschlug, als dieser, seinen Hut in der Hand, sich arglos bückte, sah, wie er das Mordinstrument unter dem großen Stein verbarg – und was auch dazwischen liegt bis zu dieser Stunde, er hat nun der Wahrheit die Ehre gegeben.«

Der Major ging auf Mathis zu und nahm dessen Hand in seine Hände. »Mathis«, sagte er, den Kopf senkend, »vergib mir, was ich an dir getan. Ich bin hart gewesen, ich bin ungerecht gewesen. Ich bitte dich, Mathis, nimm meinen Dank an, und wenn du es haben willst, was du heute gesagt hast, will ich's auf meinen Knien tun.«

»Herr! Herr!« antwortete der Bettler in seinem Stolz und aus voller Brust, »es ist uns beiden geholfen. Dankt's Eurer Tochter da, und macht sie glücklich!«

 

Rachau hatte sich mit der Waffe getötet, die einst dem unglücklichen furchtsamen Wilkens gehört hatte. Der junge Brand schaffte die geputzten Menschen aus dem Hause, die zum Teil selbst schon eilig entflohen waren, zum Teil bei dem Opfer seiner eigenen raschen Tat sich versammelt hatten, das nun entseelt ins Haus und auf dasselbe Bett getragen wurde, wo Eduard Wilkens seinen langen Schlaf begann.

»Wir müssen zudecken, was sich zudecken läßt«, sagte der besonnene Sohn des Majors. »Wo kein Kläger ist, ist kein Richter.« In dieser Weise wurde die Angelegenheit geschickt und vorsichtig von ihm behandelt. Rachau ward zur gehörigen Zeit in der Stille begraben. Zu einer strengen Untersuchung kam es trotz des Aufsehens nicht. Der junge Brand besaß als Jurist Ansehen und sein Vater Freunde genug, um jede amtliche Einmischung in diese betrübende Familienangelegenheit zu verhindern. Der Gerichtsvertreter erfuhr in vertraulicher Mitteilung, daß Rachau ein arger Schwindler und Betrüger gewesen sei, der die Verhältnisse benutzt habe, um mit Hilfe seines einschmeichelnden Benehmens den alten biederen Major zu betören. Wegen einiger Verfehlungen sei er in früherer Zeit schon flüchtig geworden, nach Frankreich gegangen und dort in die Fremdenlegion als Soldat eingetreten. Nachdem er mehrere Jahre in Algier gedient, habe er seinen Abschied erhalten und sein Leben nun als Spieler und Abenteurer fortgesetzt, bis er zuletzt den Herrn Eduard Wilkens kennenlernte, der ihn als Gesellschafter mit sich nahm, ihn eine Zeitlang unterstützte und erhielt und zuletzt hierher brachte.

Dunkel blieb es, was der kleine verrostete Hammer zu bedeuten hatte, den der lahme Mathis auf den Tisch geworfen. Großes Gewicht legte man nicht darauf, denn es erschien ohnedies erklärbar genug, daß bei seiner Entlarvung Rachau sich eine Kugel durch den Kopf jagte; und daß er aus Haß und Rachsucht zuerst den Doktor Gottberg töten wollte, ehe er sich das Gehirn zerschmetterte, stand fest genug. Nun aber war er in ein Land entkommen, wohin keine gerichtliche Vorladung reicht, es blieb somit kein Grund zu einem Einschreiten übrig.

Um so neugieriger war man jedoch, was nun mit Luise und dem Doktor werden würde und wie überhaupt das Gerede und die Bloßstellung der Familie sich würde ertragen lassen. Allein alle Neugier und alle Teilnahme wurden schrecklich getäuscht, denn wenige Tage darauf waren Türen und Fenster auf dem Gute verschlossen, die ganze Familie nach Berlin abgereist. Alles Gezeter, alle lästerlichen Reden halfen nichts, es war ein Radikalmittel, durchaus wirksam, um in möglichst kürzester Zeit die Zungen zum Schweigen zu bringen. Der Erfolg blieb nicht aus. Wochen und Monate vergingen, nach und nach sprach man selten mehr von den Vorfällen, an welchen so manches unaufgeklärt blieb, endlich drängten sich andere Geschichten in den Vordergrund, was neu gewesen, wurde alt und gleichgültig. Im nächstfolgenden Jahre kam erst wieder eine Nachricht von Belang, nämlich daß Fräulein Luise sich mit dem Doktor Gottberg verehelicht, und hierdurch wurde das Interesse von neuem angeregt, mehr zu erfahren.

Der einzige Mensch, von dem man allerlei hätte erfahren können, war jedoch so boshaft, nicht das Geringste zu verraten. Es war dies Mathis, der lahme Bettler, der jetzt weder mehr bettelte, noch mit Körben und Vögeln handelte, sondern den der Major bei seiner Abreise zum Hauswart oder Kastellan auf dem Gute eingesetzt, der also auf verwunderliche auffallende Weise zu Gnaden, Ehren und behaglichem Leben gekommen war, seit dieser Zeit aber auch so verständig nüchtern und besonnen sich verhielt, daß niemand ihm Übles nachreden konnte. Manche Leute von Rang und Ansehen hatten es versucht, dem Mathis seine Geheimnisse abzulocken, allein er war pfiffiger denn alle, sie hatten nur Ärger von seinen Antworten. Der Müller allein erzählte, daß er einmal, als er mit dem Mathis tüchtig getrunken, ihm den Mund aufgetaut habe.

»Du kannst doch nicht leugnen«, hatte er zu ihm gesagt, »daß das Ding, das wie ein Hammer aussah, unter dem großen Stein gelegen hat; denn ich vergaß es nicht, wie ihr's hervorholtet.«

»Ich leugne's gar nicht, Müller«, antwortete Mathis.

»Wer hat's denn aber dahin gelegt?« fragte der Müller.

»Ich vermute, es ist der Rachau selbst gewesen«, sagte der Mathis. »So klein er war, so hatt' er Kraft für drei. Den Stein hob er auf, als sei's ein Span.«

»So?« meinte der Müller pfiffig, »du hast's also mit angesehen?«

Da grinste ihn der Mathis eigentümlich an und sprach zwischen den Zähnen: »Ich hab wohl mehr noch angesehen als das.«

»Was?« fragte der Müller.

»Wie es zu gebrauchen ist«, antwortete der Mathis.

»Wozu wird's denn gebraucht?« forschte der Müller neugierig.

»Um Ochsen die Köpf einzuschlagen«, schrie der Mathis.

»Alle Wetter! das hat er verstanden?« rief der Müller erstaunt.

»Aus dem Grunde!« versetzte der Mathis. »Bei den Spaniolen und drüben in Afrika, wo die Franzosen jetzt zu Haus sind, brauchen sie das Ding noch alle Tage, von daher hat er es mitgebracht.«

»Hat er denn jemals hier einen Ochsen niedergeschlagen?« fragte der Müller.

»Einen gehörig fetten«, grinste ihn der Mathis an, »aber er hat nichts vom Fett abgekriegt! Du könnt'st dich in acht nehmen, Müller, wenn er noch lebte!«

Mit diesem schlechten Spaß stand Mathis auf, der Müller konnte nichts weiter herausbekommen. – Es ist überhaupt nie mehr davon bekannt geworden.


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