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Lange Zeit nachdem Toni, Tränen in den Augen, sich fortgeschlichen hatte; ging Brand noch mit harten schweren Schritten umher. Zuweilen hielt er ein, setzte sich in den Sessel am Tisch nieder, kreuzte seine Arme und blickte starr in das Licht, das langsam niederbrannte. Jetzt erst, wo er allein war, die ganzen Folgen dieses jähen Todesfalles nach allen Seiten hin zu überlegen. Von welchen Gefahren war er plötzlich befreit, aus welchen ängstlichen Sorgen sah er sich wie durch ein Wunder gerettet. Er dachte noch einmal darüber nach, wie es ihm möglich geworden sein möchte, den habgierigen Wilkens zu befriedigen, was erfolgt sein würde, wenn er es nicht gekonnt, und je länger er nachsann, um so zufriedener nickte er vor sich hin. Statt der Armut entgegenzugehen, fiel Reichtum ins Haus.

»Das Vermögen muß sehr bedeutend sein«, murmelte der Major, indem er Rachaus Worte wiederholte, und es mußte ein angenehmer Klang darin liegen, denn ein leises Lächeln spielte um seinen Mund. Er dachte nicht daran, was er kurz zuvor über die Erbschaft geäußert. Eine Fülle von schwindelnden Vorstellungen brach über ihn herein, und eine Zeitlang gab er sich ihnen hin, bis sie plötzlich von anderen Gedanken unterbrochen wurden. Von dem Stolz, mit dem er Wilkens von sich gestoßen, mit dem er ihm sein Geld versprochen, von diesem Stolz, der ihn froh gemacht hatte in dem Gefühl, endlich eine richtige Entscheidung getroffen zu haben, war nichts mehr vorhanden. Er dachte mit Schrecken daran, wie schwer, wie unmöglich er zwanzigtausend Taler hätte herbeischaffen können. Nun war es nicht mehr nötig, nun würde er den Toten beerben. Eine Begier erfaßte ihn, die er nie gekannt. Aber wo hatte der Tote sein Geld? Wo war es zu finden? Wo angelegt? Wo waren Dokumente und Beweise? Wer konnte Auskunft geben?

Von Wilkens bisherigem Leben und Treiben war Brand recht wenig bekannt. Als ein reicher Nichtstuer hatte er gelebt, das war alles, was er wußte. Der einzige Mensch, der Auskunft geben konnte, war Rachau. Würde der dies tun, würde er sich uneigennützig hilfreich erweisen, oder lag es nicht vielleicht in seiner Hand, die Umstände zu benutzen, und bei dieser Gelegenheit für sich selbst zu sorgen? Sagte nicht Wilkens, daß Rachau nichts habe, daß er ihn aus Freundschaft bei sich halte und ihm durchhelfe? Behandelte er ihn nicht zuweilen mit der Rücksichtslosigkeit eines Herren, der keine Umstände mit einem abhängigen Gesellschafter macht?

Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke. »Die Kassette«, flüsterte er, »der große Kasten, wo ist er? Was hat er darin verschlossen? Darin ist sein Geld, Papiere, Banknoten, vielleicht alles.«

Er stand von dem Sessel auf und sah scheu umher nach dem Seitentisch. Das Zimmer, in welchem der Tote lag, war verschlossen worden, der Schlüssel lag auf jenem Tisch. Er schritt darauf zu und suchte ihn, es schien ihm, als wäre der Schlüssel fort, und eine Angst überkam ihn siedendheiß. Aber er lag noch auf derselben Stelle. Mit einem raschen Griff hielt er ihn in der Hand und blieb stehen. Die Tür zum Totenzimmer war fest und stark, das Schloß eines, das nicht leicht geöffnet werden konnte, allein wenn einer sich darauf verstand, wenn er Werkzeuge besaß, Gewandtheit und Geschicklichkeit – – Es fiel ihm ein, wie fingerfertig Rachau war, daß er alles verstand, daß er zur Unterhaltung Zauberkunststückchen getrieben hatte wie der beste Taschenspieler. Sein Mißtrauen wuchs, je mehr er nachsann, eine fieberhafte Unruhe setzte sein Blut in Bewegung.

»Es ist mein Recht«, murmelte er, »danach zu sehen. Morgen tut es das Gericht. Es muß, was da ist, unter Gerichtssiegel gelegt werden. Aber bis morgen kann manches geschehen. Der Kasten kann leer sein. Was dann? Wo ist ein Beweis? Wer weiß, was darin war?«

Er stand zögernd und besann sich, dann horchte er an der Tür – es rührte sich nichts im Hause. Er nahm das Licht vom Tisch, kehrte um und setzte es wieder nieder.

Während er leise vor sich hin sprach, sah er nach der Uhr. Mitternacht war vorüber. »Es wird nichts sein«, fuhr er mit sich selbst redend fort, »wir werden morgen erfahren, wie es damit steht.«

»Morgen«, wiederholte er langsam und kopfschüttelnd. Wie viele schon haben vergebens auf morgen gewartet. Hatte er selbst gestern gedacht, was ihm heute geschehen würde?

Nach einer Minute faßte er wiederum nach dem Schlüssel und überlegte, die Hand darüber gedeckt, bis er hastig zufaßte. Dann ging er in sein Schlafzimmer, entledigte sich seiner Stiefel und kehrte zurück in einem grauen Hausrock und weichen Hausschuhen. Behutsam barg er das Licht in einer kleinen Taschenlaterne, derer er sich bediente, wenn er aus der Stadt abends spät nach Haus zurückkehrte, und als alle diese Vorbereitungen beendet waren, trat er mit leisen Schritten in den Flur hinaus, horchend und spähend, geräuschlos schleichend und innehaltend, wenn unter dem Gewicht seines Körpers die Treppenstufen zu knarren begannen.

Ein Dieb, der mit der Blendlaterne eine gefährlich nächtliche Hausdurchsuchung beginnt, konnte nicht vorsichtiger sein. Er hatte Saragossa stürmen helfen, aber sein Herz hatte schwerlich dabei so heftig geschlagen, als es jetzt der Fall war in seinem eigenen Hause. Scham und geheime Furcht überkamen ihn bei dem Gedanken, daß jemand erwachen, ihn hören, ihm begegnen könne. Aber wer sollte das sein? Die Dienstleute schliefen weit ab im Untergeschoß, und wenn selbst einer in der Nähe gewesen wäre, er würde voller Entsetzen sich verkrochen haben, denn sicherlich hätte er um keinen Preis sich mit Geistern und Gespenstern eingelassen. Die Töchter des Majors hatten ihre Schlafzimmer ebenfalls nicht hier oben, es blieben somit nur Gottberg und Rachau übrig, doch auch diese beiden waren nicht so nahe, und jetzt nach mehreren Stunden, mitten in der Nacht, ließ sich von ihnen annehmen, daß sie im festen Schlaf lägen. Endlich aber blieb immer noch manche Ausrede übrig, denn unnatürlich schien es eben nicht, daß der Hausherr nach solchem traurigen Ereignis noch einmal überall nach dem Rechten sah.

Mit allen diesen Gründen stärkte der alte Soldat seinen Mut, der durch sein Verlangen nach Gewißheit und die aufkeimende Begier nach Geld und Gut noch mehr gefestigt wurde. Er empfand kein Grauen vor dem Anblick, der ihn erwartete. Den Tod hatte er in so vielen und schrecklichen Gestalten gesehen, daß der Gedanke an die Nähe dieses Leichnams ihn wenig anfechten konnte. Mit verhaltenem Atem und nach allen Seiten blickend, hatte er jetzt den oberen Vorflur erreicht, und zu seiner Genugtuung ließ die Treppe keinen Laut mehr hören. Das tiefe Schweigen der Nacht wurde nur von dem leisen Klappern eines Fensters unterbrochen, mit dessen losen Scheiben der Wind spielte. Durch einen schmalen Spalt der verschlossenen Laterne drang das Licht und zuckte über die nackten Wände hin, der Richtung folgend, welche ihm der schattenhafte Wanderer gab, bis es an der Tür im Hintergrund haftenblieb, über welcher sich das Bogengewölbe kreuzte.

Auf diese Tür ging der Major jetzt ohne Zögern los. Vorsichtig brachte er den Schlüssel in das Schloß, und da dasselbe, seit Wilkens dies Zimmer bewohnte, frisch geölt worden war, schloß es mit Leichtigkeit und ohne das geringste Geräusch zu machen. Ebenso leicht und leise öffnete sich die Tür, und das Licht fuhr in den düstern hohen Raum, ohne ihn erhellen zu können.

Brand blieb auf der Schwelle stehen, doch seine Hand zitterte nicht, als er die Klappe der Laterne öffnete und sie gegen das Bett richtete. Ein weites weißes Laken bedeckte dieses, unter der Hülle lag der tote Körper, dessen Formen da und dort deutlich wurden. Nachdem der Major einige Augenblicke lang darauf hingeblickt hatte, zog er die Tür leise hinter sich zu und näherte sich der Lagerstätte. Die Kleider des Unglücklichen lagen auf verschiedenen Stühlen, auf dem Tisch lag seine Uhr, der Ring, den er getragen, ein Geldtäschchen und was man an kleinen Gegenständen sonst bei ihm gefunden. Seine Koffer standen an der Wand, vergebens aber blickte der Erbe nach der Kassette umher, sie war nicht zu entdecken. Allein sie fand sich bald, denn sie stand unter dem Bett, und als er sie hervorgezogen, hingen des Majors Blicke mit solchem Verlangen an dem geheimnisvollen Kasten, als wollten sie den metallbeschlagenen Deckel zersprengen. Der Kasten war verschlossen. Er prüfte ihn nach allen Seiten, er hob ihn auf, er wog ihn in der Hand. Der Kasten fühlte sich leicht an. Hatte der Dieb schon sein Werk vollbracht? Der Major zitterte vor Furcht bei diesem Gedanken. Der Schlüssel! Wo war der Schlüssel? Hastig, in gieriger Angst suchte er danach auf dem Tische, in den umherliegenden Kleidern, unter den Geräten, nirgends war er zu finden. Seine Augen blieben an dem Lager des Toten hängen. Es fiel ihm ein, daß auch die anderen Schlüssel fehlten, und daß Wilkens alle zusammen an einem Stahlringe aufgereiht an seiner Weste getragen hatte.

Der Major faßte das Laken und schlug es zurück. Wilkens mußte diese Weste noch anhaben. Er hatte sich nicht getäuscht. Er hörte ein leises Klirren und hielt auch schon die Schlüssel in seiner Hand, die er schaudernd zurückzog; sie war mit den eisigen Fingern des Toten in Berührung geraten.

Das Streiflicht der Laterne flog über das starre, blaßgraue Gesicht, das mit offenen Augen zu ihm aufsah. »Du, der mir alles nehmen wollte«, sagte Brand halblaut zu dem Toten, »du wirst mich nicht mehr peinigen. Welche Qual für dich, daß nun du mir alles geben und lassen mußt.«

In dem Gewölbe klangen seine Worte hohl zurück. Er sah sich um, denn er glaubte ein Rauschen hinter sich zu hören, eine kalte Luft zu fühlen, die ihn anwehte. Ihm fiel die Gespenstersage von der spukenden Tante ein. Aber in der nächsten Minute hatte er die Anwandlung überwunden. »Und wenn sie hier erschiene«, sagte er, sich umschauend, »sie würde mir recht geben müssen. Ich würde ihr vorwerfen können, daß ihr schändliches Testament dies getan hat.«

Indem er sich niederbückte, steckte er den kleinen Schlüssel in das Schloß der Kassette, die mit einem Federdruck aufsprang. Voll der gespanntesten Erwartung schlug er den Deckel vollends zurück, hielt die Laterne darüber, schaute hinein, griff mit der Hand dem Lichtschein nach und fuhr überrascht in die Höhe. Erstaunen, Ärger und Enttäuschung malten sich in seinem Gesicht.

»Ist das möglich?« rief er unwillkürlich laut. »Ist das alles?«

»Alles!« antwortete eine Stimme.

Entsetzt prallte der Major zurück, eiskalter Schrecken drang ihm bis ins Mark. Er streckte die Hand mit der Laterne vor sich aus, in deren Schimmer er eine weiße schmale Gestalt an der Tür stehen sah.

»Wer da?« schrie der alte Soldat, seiner Natur folgend.

»Nichts ist darin«, antwortete die Gestalt, sich leise nähernd, »als diese Strickleiter und dieser Stock, der als Kurbel dienen kann, sowie diese kleine doppelläufige Pistole.«

»Rachau«, murmelte der Major mit einem tiefen Atemzug.

Rachau, in einem weißgrauen Morgenmantel, winkte ihm beruhigend zu. »Lassen Sie uns leise sprechen«, sagte er. »Ich konnte nicht schlafen und wurde durch ein Geräusch, das ich zu hören glaubte, hierher geführt. Leicht könnte es anderen ebenso gehen wie mir. Ich kann Ihnen über den Inhalt des Kastens einigen Aufschluß geben«, fuhr er fort, »denn wahrscheinlich sind Sie in der Absicht gekommen, diesen Behälter, in welchem Sie Sachen von besonderem Wert vermuteten, in Ihre Obhut zu nehmen?«

Diese Frage hatte einen so spöttischen Klang, daß Brand, dessen Bestürzung und Scham ohnehin groß genug waren, nur mit einem unverständlichen Gemurmel antwortete.

»Ihr Irrtum war ein sehr verzeihlicher«, sagte Rachau, »denn es gibt wenige, die nicht von diesem Kasten getäuscht worden sind. Die Sorgfalt, mit welcher unser verewigter Freund ihn behandelte, ihn nie von sich ließ, keine Reise ohne ihn antrat, mußte jedermann glauben machen, daß kostbare Dinge darin verborgen seien, dennoch hat er nie etwas anderes enthalten, als was Sie soeben gefunden haben.«

Brand hatte sich erholt und begriffen, daß er nichts Besseres tun könne, als einzugestehen, was Rachau voraussetzte. »Ich will nicht leugnen, daß Sie recht haben«, antwortete er. »Ich vermutete, daß Wilkens große Summen und wichtige Dokumente mit sich führte, und der Gedanke beunruhigte mich – nicht, wie ich gesollt, Vorsorge treffen –«

»Damit kein Unbefugter sich ihrer heimlich bemächtige«, fiel Rachau mit ironischem Lächeln ein. »Sie hatten nichts zu besorgen, mein Bester. Unser verewigter Freund war viel zu vorsichtig, um sich mit vielem Geld zu belasten. Dort auf dem Tische liegt sein Taschenbuch, worin Sie finden werden, was er an Barmitteln vorrätig hatte und welches allerdings besser bewahrt sein sollte. In jenem größeren Koffer aber befinden sich ein Schreib- und Reisekasten, welcher, soviel ich weiß, einen vollständigen Nachweis über das gesamte Vermögen des teuren Dahingeschiedenen enthält, nebst manchen anderen Papieren, die wichtig für Sie sein werden.«

Der Major beruhigte sich nur allmählich; dennoch mußte, was er vernahm, ihn dankbar stimmen und zugleich auch die Besorgnisse über diese nächtliche Begegnung aufheben. »Ich bin Ihnen sehr verbunden«, sagte er, »und werde gewiß Ihre freundschaftliche Teilnahme nicht vergessen.«

»Diese gütige Versicherung macht mich überaus glücklich«, versetzte Rachau, »ich werde Ihr Vertrauen zu verdienen suchen.«

Brand war von allem noch zu verwirrt und erregt, um die Ironie, mit der Rachau ihm geantwortet hatte, zur Kenntnis zu nehmen. »Gut, gut!« antwortete er deshalb zufriedengestellt, »so können wir diesen traurigen Raum verlassen. Aber, was zum Henker! hatte denn dieser Kasten mit Stricken und dem kleinen Knüppel eigentlich zu bedeuten?«

Rachau sah lächelnd auf den Kasten nieder und sagte dann: »Unser verewigter Freund war der furchtsamste und mißtrauischste Sterbliche, den es geben konnte. Beständig quälte er sich damit ab, welches Unheil und welche Gefahren ihn bedrohten. Er beschäftigte sich mit allen möglichen Unglücksfällen, die ihm begegnen konnten, ganz besondere Angst aber hatte er davor, zu verbrennen. So reiste er niemals ohne eine Strickleiter, um sich zum Fenster hinaus retten, zu können. Niemals wohnte er mehrere Treppen hoch, und jede Treppe von Holz erregte ihm schwere Bedenken. Auch mochte er kein Zimmer leiden, war es auch das schönste und beste, das mehr als eine Tür hatte, weil um so leichter dort Diebe einbrechen könnten. Die Eingangstür verschloß und verriegelte er stets sorgfältig, und wenn eine zweite Tür nicht zu vermeiden war, wie dies in Gasthöfen häufig oder fast immer der Fall ist, so dienten der Strick und der starke Knüttel dazu, einen Knebel an Klinke und Einfassung festzubinden und zu drehen, welcher jedes Eindringen verhinderte. Niemals schlief er mit einem anderen in demselben Zimmer, auch mit mir nicht, denn seine Furcht, im Schlaf überfallen zu werden, ließ dies nicht zu. Neben seinem Bett aber lag stets dies doppelläufige Terzerol, geladen und mit Zündhütchen versehen, um sogleich davon Gebrauch machen zu können.«

Rachau nahm das Terzerol heraus und sagte dabei: »Ich werde es behalten, es soll mir ein Andenken sein; überdies würde es auffallen, wenn es vorgefunden würde. Auch die Stricke lassen Sie uns beseitigen, wir können andere, gleichgültige Dinge dafür in den Kasten legen. Niemand braucht von dieser angstvollen Vorsicht etwas zu erfahren. Man könnte sich allerlei Fabeln davon zusammenreimen.«

»Er ist wirklich ein noch größerer Narr gewesen, als ich dachte«, versetzte der Major.

»Nicht nur das«, erwiderte Rachau, »er war ein herzloser eigennütziger Mensch. Sie haben dies kennengelernt.«

»Leider ja«, murmelte Brand.

»Er tat skrupellos alles, was ihm Vorteil versprach. Ohne Gefühl und Gewissen.«

»Das hat er bewiesen.«

»Ich kann mir Ihre Entrüstung vorstellen. Sein Betragen in Ihrem Hause war darauf berechnet, Ihnen Widerwillen einzuflößen. Aber sein Plan mußte Ihnen ja bald einleuchten. Anscheinend warb er um ein zärtliches Familienband, in Wahrheit hat er nie daran gedacht. Er wollte Ihr Geld, und wenn Sie den Mut gehabt hätten, ihm Luises Hand zuzusagen, würde er wahrscheinlich schmählich davongelaufen sein.«

»Der Niederträchtige!« rief der Major, indem er zornig auf den Leichnam blickte.

Die Unterredung war bisher von beiden im dumpfen Geflüster geführt worden, bei diesem lauten Ausruf legte Rachau dem anderen die Hand auf den Arm und winkte ihm zu schweigen. »Die allergrößte Vorsicht ist nötig, mein Bester. Leicht ist ein Verdacht aufgeweckt. Die Umstände sind allerdings derartig, daß man nicht wissen kann, was schon jetzt in den Köpfen spukt.«

»Welcher Verdacht?« fragte der Major mit unsicherer Stimme.

»Fallen Ihnen nicht alle Vorteile dieses plötzlichen Endes zu?«

»Das ist nicht meine Schuld.«

»Können Sie gewiß sein, daß nicht noch andere Leute wissen, was in dem Testament steht, dessen Abschrift dort im Koffer liegt, und was dieser kalte Mann hier beabsichtigte?«

»Herr von Rachau!« entgegnete der Major bebend.

»Still!« flüsterte Rachau. »Wissen Sie nicht, daß man Sie für jähzornig und erbarmungslos hält, daß die leichtgläubige Menge Ihnen böse Dinge nachsagt?«

»Ich – ich!« stammelte Brand, »wer wagt das? Ich verachte solche infamen Lügen!«

»Wenn es aber keine Lüge ist?«

»Was – was soll das heißen?«

Rachau blickte ihn starr an. Er griff nach der Laterne und faßte den Arm das Majors. Schweigend wandte er ihn dem Toten zu, schweigend faßte er in dessen Haar, teilte es nach beiden Seiten hin und deutete auf eine blutige kleine Vertiefung.

»Blicken Sie hierher«, flüsterte er fast unhörbar. »Das ist kein Dornenriß, das ist ein kleines, tiefes, viereckiges Loch. Es ist durch den Schädel bis ins Hirn gedrungen, es hat den augenblicklichen Tod herbeigeführt. Kein Gehirnschlag, wie der gescheite Arzt sagt, dies kleine Loch ist die Ursache.«

»Gerechter Gott!« stöhnte der Major.

»Und es ist entstanden durch ein feines und spitzes Instrument«, fuhr Rachau in derselben Weise fort. »Es sieht auf ein Haar so aus wie jenes Loch im Schädel des Pferdes.«

»Wahnsinn! Bei meiner Ehre! Nein – nein!« rief Brand fassungslos, heftig an seine Brust schlagend.

»Still, mein Lieber, beruhigen Sie sich! Um des Himmels willen, keinen Laut!« flüsterte Rachau. »Alles wäre verloren, wenn jemand Sie hörte, alles kommt darauf an, ewiges Schweigen darüber zu werfen. Ich spreche keine Gewißheit aus, ich beschuldige nicht, ich klage nicht an, aber fragen Sie sich selbst, was daraus entstehen würde. Daß dieser Schädel zerschmettert ist, würde jede Untersuchung leicht dartun. Daß, wie Sie selbst behaupten, niemand hier umher den feinen Hammer zu gebrauchen weiß als Sie allein, ist kein Geheimnis.«

»Himmel und Hölle! Ich – ein Mörder!« stammelte Brand mit erstickter Stimme.

»Das soll niemand sagen – niemand«, fiel ihm Rachau ins Wort. »Fort mit jedem so entehrenden Verdacht! Fort mit diesem Toten in seine Gruft! Er hat sein Schicksal zehnfach verdient, keine Träne wird um ihn fließen.«

»Aber ich«, stöhnte der Major, »ich – meine Ehre! Herrgott, meine Ehre!«

»Wer rührt daran?« flüsterte Rachau. »Ein Gehirnschlag ist sein Ende gewesen. Wenn er in der Erde ruht, ist alles vergessen, mein Lieber.«

»Ich darf es nicht zugeben – nein, ich werde es nicht zugeben!« sagte Brand mit Entschlossenheit. »Es wird sich erweisen, es muß sich erweisen –«

»Ja, denken Sie?« fiel ihm Rachau kalt und spöttisch ins Wort. »Wollen Sie es auf eine Untersuchung ankommen lassen? Ich rate Ihnen wohl zu bedenken, was Sie tun. Sie haben Zeit bis morgen, um darüber nachzudenken«, fuhr er fort, »bis jetzt bin ich der einzige, der das entdeckte, was Sie jetzt bemerken. Als ich den Leichnam mit Toni auffand, untersuchte ich seinen Kopf, weil Blut daraus hervorquoll, und mein Entsetzen war groß. Ich entfernte, was sich entfernen ließ, ich drückte die Hautwunde zusammen und strich das Haar darüber. – Wenn es zu einer Untersuchung kommt«, flüsterte er jetzt dicht am Ohre des Majors, »was wird die Folge sein? Welches Aufsehen muß dieser Prozeß machen – Ihre Familie – die Vorurteile der Menschen – die unglücklichen Umstände – dieses große Erbe – bedenken Sie das gut!«

Brand stand mit weit offenen Augen, zitternd drückte er seine Hände zusammen. »Meine Kinder!« stöhnte er, »mein Sohn!«

»Alle diese Schuldlosen würden darunter leiden müssen«, versetzte Rachau, »alle! Kein Wort mehr! Handeln Sie rasch und entschlossen, das allein kann vor Schmach und Verderben retten. Fort mit diesen Stricken – ich werde sie beseitigen. Die Papiere aus dem Koffer legen wir in den Kasten, die Testamentsabschrift nehmen Sie an sich.«

Er legte das Haar des Toten über die Wunde, warf die Hülle über den Körper, nahm den Schlüssel und öffnete den Koffer. Aus der Schreibmappe zog er Papiere und Briefe hervor und legte sie in den Kasten. Nach wenigen Minuten war alles geschehen, was er beabsichtigte.

»Hier ist die Testamentsabschrift«, sagte er zu Brand, »von dieser vergessenen Sache braucht niemand Notiz zu nehmen. Niemand darf sie aufrühren. Wir müssen, was irgend Verdacht erregen kann, sorgfältig unterdrücken. Stecken Sie es ein und verbrennen Sie es.«

Brand griff mechanisch nach dem Papier. Er hielt es in seinen Fingern ausgestreckt, als schwanke er, ob er es nehmen sollte. »Wenn ich es tue«, sagte er tonlos, »hat es nicht den Anschein, als ob ich – ich wirklich fürchten müßte – und Sie selbst – Sie könnten glauben – aber ich bin unschuldig!«

Bei den letzten Worten hatte er seine Stimme unwillkürlich erhoben. »Still, mein Freund«, fiel Rachau rasch ein, »sorgen Sie sich nicht. Was mich betrifft, so denke ich nur, daß nichts zu ändern ist, und glaube nur, daß es meine Pflicht ist, Ihnen beizustehen, wenn ich dies vermag.«

»Ich erkenne es dankbar«, antwortete der Major, ihm die Hand drückend, »die Klugheit mag es rechtfertigen, so zu handeln, aber dennoch – Herrgott! was soll ich tun? – Nein, ich will doch warten.«

»Worauf wollen Sie warten?« entgegnete Rachau in entschlossenem Ton. »Auf das Gefängnis, auf Kreuzverhöre, auf die Verzweiflung Ihrer Kinder? Sie sind unschuldig, das bezweifelt bis jetzt niemand, wozu aber erst Zweifel aufrühren? – Kommen Sie, wir haben hier nichts mehr zu tun. Lassen Sie morgen früh die Justiz kommen und den Sarg bestellen. Blumenkränze genug sind vorhanden, um diese Leiche zu schmücken. Gute Nacht, Herr von Brand. Ein Mann von solcher Tatkraft und solcher Lebenserfahrung wird seine Gewissensruhe zu bewahren wissen.«

Er nahm ihn bei der Hand und führte ihn der Tür zu. Der Major hielt sich krampfhaft an ihm fest. »So stehen Sie mir bei in dieser schweren Zeit«, bat er.

»Immer, darauf verlassen Sie sich«, versetzte Rachau, Sie werden in mir einen ergebenen Freund finden, der Sie nicht verlassen wird.«

Leise schlüpfte er in den Gang hinaus. Brand verbarg das Papier in seiner Tasche, verschloß vorsichtig die Tür und erreichte verstört und in größter Erregung sein Zimmer.

 

Die Beerdigung des Toten erfolgte vorschriftsmäßig am dritten Tag, nachdem alle Formalitäten erfüllt waren, in so glänzender Weise, wie es den Verhältnissen nach möglich war.

Die Gutsherrschaft besaß ein Erbbegräbnis; dort neben der verewigten Tante, deren eigensinniges Testament ihn zu seinem Schaden hierher geführt, wurde Eduard Wilkens zur Ruhe gebracht. Der erste Prediger der Stadt hielt ihm eine glorreiche Leichenrede, die Armen segneten ihn für die Geldsummen, die Brand verteilen ließ, und die vornehmen Leute, welche zum Leichenbegängnis eingeladen waren, zeigten sich voller Teilnahme und vermehrter Freundschaft. Der geschwätzige Arzt hatte dafür gesorgt, daß jedermann wußte, wie dieser kurzhalsige Vetter notwendigerweise umgekommen, aber es fehlte auch nicht an Gerüchten, daß er ein schönes Vermögen hinterlassen habe, welches nun der Familie Brand zufallen werde.

Es gab noch einige Leute in der Stadt, welche sich der vergangenen Umstände erinnerten, denn sie hatten den alten Wilkens beim Tod der Tante hier gesehen. Andere wußten von den Familienzerwürfnissen, welche damals stattfanden, aber die Zeit war darüber hingegangen, und der Major wurde nur um sein Glück beneidet, das ihm nicht allein damals Reichtum verschafft, sondern jetzt ihm unverhofft noch mehr zugeworfen.

Mancher machte sich daher heimlich lustig über den kummervollen Ernst dieses glücklichen Erben und über den Gram in seinem Gesicht, denn es war nicht zu leugnen, daß der Major sehr übel aussah. Seine sonst so stolzen festen Blicke waren gesenkt und niedergeschlagen, das kräftige volle Gesicht hatte gleichsam über Nacht Falten bekommen, und sein freimütiges soldatisches Wesen schien durch den plötzlichen Verlust dieses geliebten Verwandten so weit heruntergestimmt, daß alles an ihm weich geworden, sogar die Stimme. Die Wohlmeinenden nahmen diese Zeichen als Folge des Schreckens und der Aufregung, die anderen meinten spottend, man könne doch nicht lachen, wenn man einen reichen Vetter begrübe, es sei daher anständig, so gerührt als möglich zu erscheinen, alles weitere würde sich schon finden. Die neugierigen Blicke aber untersuchten nicht allein den Major, sondern auch seine Familie, und beschäftigten sich ganz besonders mit Luise. Daß der Verstorbene mit besonderen Absichten gekommen sei, schien den meisten sehr glaublich, und wenige gab es, die daran zweifelten, daß Vater wie Tochter nicht nein gesagt haben würden. Auf jeden Fall jedoch war der Tod rascher gewesen als der Bräutigam, und was nun wahr oder nicht wahr sei, was Luise gedacht oder gewollt habe, und ob sie jetzt traure oder sich freue, blieb eine ganze Woche lang den Untersuchungen aller Kaffeegesellschaften in der Stadt überlassen.

Übrigens ließ sich nichts Auffälliges bemerken. Die Familie war in Trauer, und Luise hatte mit gefalteten Händen und weinenden Augen dem Sarg nachgesehen, der mit Kränzen und Blumen geschmückt war. Auch der schlanke, zierliche Herr von Rachau, der Freund und Begleiter des Verstorbenen, schritt kummervoll einher, und über ihn und was aus ihm werden würde, ob er abreisen oder länger bleiben werde, machte man sich viel Kopfzerbrechen. Offenbar hatte er sich in dieser schreckensreichen Zeit der Familie sehr ergeben und nützlich erwiesen. Immer war er zu Rat und Hilfe bei der Hand, hatte mit dem Doktor Gottberg die Anstalten zum Begräbnis besorgt, ordnete an, unterstützte den betrübten Hausherrn, tröstete die Töchter und unterhielt die zahlreichen teilnehmenden Besucher mit der Erzählung der traurigen Tatsachen, welche er unverdrossen immer von neuem wiederholte.

Die liebevolle Aufmerksamkeit und Tätigkeit eines so ergebenen Freundes mußte überall Wohlgefallen erregen, und das ganze Benehmen Rachaus war ohnehin geeignet, günstig über ihn zu urteilen. Er war ohne Zweifel ein angenehmer und gewandter Mann, ebenso bescheiden wie klug, und mehr als ein Freund des Majors wurde von seiner Unterhaltung so eingenommen, daß er es als ein Glück pries, daß die Familie einen so treuen Beistand gefunden.

In der Tat bewährte sich dies auch fortgesetzt, denn Rachau betrieb mit unablässigem Eifer die Angelegenheiten, welche sich notwendig an das betrübende Ereignis knüpften. Das Gericht hatte, was Wilkens gehörte, in Beschlag genommen und Rachau das Verzeichnis aller Gegenstände, die seinem Freund gehörten, angefertigt. Da Brand zu niedergeschlagen war, um sich mit diesem Geschäft zu befassen, hatte Rachau es übernommen, den Tatbestand dem Richter dargelegt, die Effekten überliefert, die Schreiberei besorgt und von dem vorgefundenen Vermögensnachweis sich eine beglaubigte Abschrift verschafft.

Am Tage nach dem Begräbnis sprach er darüber mit dem Major, den er im Garten fand, wo er, die Hände auf dem Rücken, mit gesenktem Kopf und düsterem Blick auf und nieder ging. Der alte Soldat hatte offensichtlich aus seiner Verstörtheit noch nicht wieder zu sich selbst gefunden. Unablässig kreisten seine Gedanken um die Ereignisse der letzten Tage, eine geheime Scheu hinderte ihn, in der alten vertrauten Weise mit seinen Töchtern zu reden, und auch den forschend teilnehmenden Blicken Gottbergs wich er geflissentlich aus. Er hatte seinen Sohn in einem kurz gehaltenen Schreiben vom plötzlichen Tod des Vetters in Kenntnis gesetzt und ihm gleichzeitig bedeutet, daß seine Anwesenheit hier nicht erforderlich sei, vor allem auch im Hinblick auf die wichtigen dienstlichen Geschäfte, die denselben in der Hauptstadt festhalten mochten.

Rachau schien dagegen völlig unverändert, er hatte seine unbesorgte, lächelnde Miene wieder angenommen, und wenn etwas an ihm auffiel, so war es nur die vielleicht noch vermehrte Aufmerksamkeit, welche er seiner äußeren Erscheinung widmete. Er trug vortrefflich lackierte Stiefel, sein dünnes Bärtchen war sauber gekämmt, sein Rock vom modernsten Schnitt und mit Atlas gefüttert und seine schmalen weißen Hände in blaßgelbe Handschuhe gesteckt.

Er trat auf Brand zu und sagte sanft ermahnend: »Mein Freund, Sie müssen endlich aufhören, Ihren trüben Gedanken nachzuhängen. Wir haben jetzt, wie ich denke, unseren Herzensgefühlen genug getan, und können uns mit gutem Gewissen glücklicheren Empfindungen hingeben.«

»Mit gutem Gewissen«, murmelte der Major vor sich hin, »es ist mir so, als merkte ein jeder, daß ich ein schlechtes Gewissen habe.«

»Wer wird sich mit solchen Einbildungen quälen«, lächelte Rachau.

 


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