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Am Morgen darauf ging Herr von Brand in seinem Zimmer auf und ab. Die Pfeife wollte ihm nicht schmecken, sie war ihm mehrmals schon ausgegangen, und die große Kaffeetasse stand noch halb gefüllt auf dem Tisch, was sonst selten der Fall war. Es bewegten ihn Gedanken, die er nicht loswerden konnte, und angenehme schienen es nicht zu sein, das war aus seiner düstren Miene zu schließen. Von Zeit zu Zeit blieb er am Fenster stehen und blickte nach der Stadt hinaus auf die Landstraße. Er konnte nicht weit blicken, denn das Haus lag hinter einem Vorhof, den eine Mauer umgab. Es schien jedoch, als ob er jemand erwartete und als ob seine Unruhe sich vermehrte, je länger er nichts entdecken konnte.

Die Zimmertür öffnete sich, und ein großes schlankes Mädchen trat ein, das ihm freundlich einen Guten Morgen bot.

»Guten Morgen, Luise«, erwiderte der Vater. »Wo ist der Doktor?«

»Er sitzt mit Toni am Klavier. Soll ich ihn rufen?«

»Laß ihn sitzen«, sagte Herr von Brand.

»Er gibt sich viel Mühe mit ihr«, fuhr die Tochter fort, »und sie macht recht gute Fortschritte.«

»Er gibt sich überhaupt viele Mühe«, antwortete er übelgelaunt. »Wie lange ist er jetzt hier?«

»Es wird fast ein Jahr sein. Aber du hast deinen Kaffee noch nicht ausgetrunken, lieber Vater!«

»Er schmeckt mir nicht, er taugt nichts.«

»Aber ich habe ihn selbst zubereitet«, erwiderte sie lächelnd.

Herr von Brand ging auf diesen Gegenstand nicht weiter ein. Er ging weiter unruhig auf und ab. »Wann denkt der Doktor uns zu verlassen?« fragte er plötzlich unvermittelt.

»Will er uns denn verlassen?« entgegnete Luise überrascht.

»Ich weiß es nicht«, rief er in gereiztem Ton, »warum bleibt er überhaupt bei uns?« Er blieb vor seiner Tochter stehen und sah sie an. »Er ist deines Bruders Freund«, fuhr er fort, »er hat ihn zu uns gebracht, damit er sich nach seiner Krankheit auskuriere. Jetzt fehlt ihm nichts mehr. Ein Mann von seinen Kenntnissen gehört an eine Schule, an eine Universität. Ein Mädchen von zwölf Jahren zu unterrichten und mit einem von zwanzig Jahren Musik zu machen, Bücher zu lesen und spazierenzugehen, dazu ist er nicht bestimmt.«

»Würdest du ihn nicht auch sehr vermissen, wenn er uns verläßt?« fragte Luise, deren Gesicht sich allmählich immer deutlicher gerötet hatte.

»Allerdings, wir würden ihn alle vermissen«, sagte Herr von Brand, »aber es muß sein. Was hast du schon bei ihm gelernt?«

»Französisch und Englisch«, antwortete Luise, der jetzt die helle Röte ins Gesicht gestiegen war.

»Und andere Torheiten«, rief der Vater rauh und laut.

»Lieber Vater«, sagte Luise freundlich, aber nicht ohne Nachdruck, »Doktor Gottberg ist, soweit ich ihn kenne, ein sehr achtenswerter Mann, der keinen Torheiten anhängt. Wir haben ihn stets verständig und gut gefunden, und du selbst hast mir erst gestern gesagt, wie du dich freust, ihn im Haus zu haben. Wie kommt es denn nun –«

»Da ist er!« rief Herr von Brand, sie unterbrechend, und trat rasch vom Fenster zurück.

»Der Doktor?« fragte Luise, aber sie merkte sogleich, daß ihr Vater einen anderen meinte.

Am Tor waren die beiden Fremden aus dem Gasthaus erschienen, welche sich jetzt, miteinander sprechend und das Haus betrachtend, näherten. Luise wußte nichts von dem, was am Abend zuvor im Gastzimmer des »Roten Bären« vorgefallen war, denn weder Herr von Brand noch der Doktor Gottberg hatten darüber gesprochen, und so war sie nicht imstande zu erraten, wer die beiden sein könnten und was sie wollten. Sie warf einen Blick auf sie und fragte: »Kennst du die Herren, Vater?«

»Führe sie nur herein«, antwortete er hastig. »Sie sind mir nicht unbekannt, ich habe ihren Besuch erwartet. Mehr davon nachher, mein Kind. Geh ihnen entgegen, zeige ihnen, wo ich zu finden bin. Halt – und noch eins! Laß das rote Zimmer aufschließen und die Betten in Ordnung bringen!«

»Das rote Zimmer? Für die beiden Besucher?«

»Du verstehst mich doch! Ich spreche deutlich genug«, entgegnete Herr von Brand gereizt.

Luise hörte es wohl, verstand es aber doch nicht. Das rote Zimmer war das beste von allen. Warum sollten diese beiden Fremden so ausgezeichnet werden? Sie langte im Flur des Hauses an, eben als die Fremden eintraten.

»Wünschen Sie meinen Vater zu sehen?« erwiderte sie deren Gruß.

»Fräulein von Brand?« antwortete der größere der beiden, indem er sie anstarrte und das aufgedunsene Gesicht zu einem Lächeln verzog.

»Mein Vater ist in seinem Zimmer, ich werde Sie zu ihm führen«, sagte Luise und ging den Gästen voran.

»Hübsch!« sagte Herr Wilkens seinem Freund ins Ohr. »Sie gefällt mir.«

»Mir auch«, antwortete Rachau, »aber wahrscheinlich geht's anderen Leuten ebenso.«

Herr von Brand machte die Tür auf und kam seiner Tochter entgegen. »Herr Wilkens!« rief er. »Ich konnte es mir denken. Treten Sie herein, seien Sie mir willkommen.«

»Sie sagten gestern«, antwortete Wilkens, indem er näher trat, »es könne Sie ein jeder finden, und so habe ich mir die Freiheit genommen, Sie zu suchen.«

»Sie heißen also Wilkens?« fragte der Major.

»Eduard Wilkens.«

»Und sind der Sohn des Herrn Emanuel Wilkens.«

»So steht es in meinem Taufschein, den ich mitgebracht habe.«

»Lassen Sie ihn stecken«, erwiderte Herr von Brand, »ich sehe es an der Ähnlichkeit. Gestern konnte ich mich nicht gleich darauf besinnen, an wen mich diese Ähnlichkeit erinnerte. Nachdem ich Ihren Namen gehört hatte, fiel es mir ein.«

»Oho«, sagte Eduard Wilkens, seine kalten Augen auf sein Gegenüber heftend, indem er lachte. »Sie erinnern sich da an alte Geschichten!«

Das Antlitz des Majors rötete sich. »Dieser Herr«, fragte er, ohne auf die Bemerkung einzugehen, »ist ein Verwandter?«

»Nein, mein lieber Herr von Brand, oder mein lieber Vetter, sollte ich eigentlich sagen, dies ist mein bester Freund. Ich stelle Ihnen Herrn von Rachau vor, Philipp von Rachau, vor dem ich keine Geheimnisse habe.«

Der Major verbeugte sich und deutete auf das Sofa. »Nehmen Sie Platz, meine Herren, es ist mir eine Freude, Sie bei mir zu sehen.«

»Das ist nicht wahr«, flüsterte Wilkens, während der Major zur Klingelschnur ging und einige Male schellte. »Mir ist es aber gleichgültig!«

Der Major ließ Wein und Speisen bringen, setzte sich zu seinen Gästen und hatte bald eine lebhafte Unterhaltung in Gang gebracht, zu der die Gläser klangen. Er war kein Mann von langen Umschweifen, und so kam er denn auch bald dahin, wo er sein wollte. Nach manchen allgemeinen Fragen, auf welche er vernommen hatte, daß Herr Eduard Wilkens mehrere Jahre im Ausland gelebt, daß er seinen Freund Rachau in Paris kennengelernt und den Sommer über in seiner Gesellschaft verschiedene Bäder bereist hatte, daß er Homburg jedoch allen anderen Bädern vorziehe, weil es da am vergnüglichsten zugehe, stellte der Major fest, aus all dem lasse sich schließen, daß Herr Wilkens, wie dessen Anwesenheit in seinem Hause beweise, doch nun wohl zu der Ansicht gekommen sei, es lasse sich mit der Heimat nichts vergleichen.

»O nein«, erwiderte Wilkens, »mir schmeckt das bunte Leben besser. Sie würden doch wohl auch lieber in Paris oder Baden-Baden leben, als hier in diesem abgeschiedenen Winkel!«

»Obwohl ich weit in der Welt herumgekommen bin«, entgegnete der Major, »möchte ich diesen Winkel nie mehr verlassen. Jetzt gilt mir dieses Fleckchen Erde mehr als alle Buntheit der Welt.«

»Darin denken wir anders«, lachte Eduard Wilkens. »Ich wäre noch länger fortgeblieben, aber ich mußte nach Haus zurück. Sie haben noch nicht nach meinem Vater gefragt.«

Der Major hatte dies allerdings nicht getan, obwohl eine höfliche Erkundigung nahegelegen hätte. Auch jetzt, wo er geradezu daran erinnert wurde, schien es ihm schwer zu werden, denn er antwortete nur mit einem stummen kalten Neigen seines Kopfes.

»Nun, mein Vater ist tot«, sagte Wilkens.

»Tot!« wiederholte der Major überrascht, doch ohne besondere Teilnahme.

»Vor zwei Monaten schon. Es ging schnell mit ihm, ein paar Tage nur war er krank. Ich bekam ein Telegramm in Homburg, mußte also Hals über Kopf nach Hause.«

»Sie fanden ihn nicht mehr am Leben?«

»Nein, alles versiegelt und verriegelt, ich hatte Not, in mein eigenes Haus zu kommen. Nun, es regelte sich alles. Geschwister habe ich nicht, nahe Verwandte auch nicht, Streit um die Erbschaft konnte es also nicht geben. Es ist mir gestern abend eingefallen, und ich sagte es auch zu Rachau, daß Sie eigentlich mein nächster Verwandter sind.«

»Ich bin nicht so gut informiert«, sagte der Major, »indes würde in diesem Fall nicht ich, sondern würden meine Kinder Ihre Erben sein.«

»Oho! In welchem Fall?« fragte Eduard Wilkens.

»Ich meine, im Falle Ihres Todes.«

»Meines Todes!« Sein schlaffes Gesicht wurde noch blasser, er schüttelte sich widerwillig. »Wie können Sie auf meinen –«, er konnte das Wort nicht aussprechen. »Ich bin sehr gesund, lieber Vetter!«

Den Major schien die Furchtsamkeit seines Verwandten zu belustigen. »Der Tod kommt zuweilen, ehe man es denkt«, sagte er.

»Wir aber wollen leben!« rief Wilkens, sein Glas erhebend. »Stoßen Sie an, lieber Vetter. Es stimmt, Ihre Kinder würden erben, das heißt, wenn ich jetzt so hinwegmüßte. Inzwischen hoffe ich, daß ich noch Zeit genug habe.«

»Das wollen wir wünschen.«

»Und daß ich selbst noch für Erben sorge! Oho – dann ist es mit Ihrer Erbschaft aus,« fuhr er fort, den Major mit seinen grauwässerigen Augen dreist und unverschämt anblickend, »und ich gedenke schon, dafür zu sorgen, wenn es mir gefällt.«

Herr von Brand antwortete nicht darauf, er trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

»Mein lieber Vetter, ich denke, Sie verstehen, was ich sagen will«, fuhr Wilkens weiter fort.

»Ich kann kaum annehmen, daß Sie zu mir gekommen sind, um mir das zu sagen«, erwiderte der Major kalt.

»Zu Ihnen gekommen? Nun, im Grunde ja«, sagte Wilkens, »ich bin gekommen –«, er stockte und blickte sein Gegenüber prüfend an, »ich habe von dem Testament eigentlich nichts gewußt, aber als ich mit Rachau meines Vaters Papiere ordnete, fanden wir die Abschrift, das heißt die gerichtlich beglaubigte Abschrift, an der nichts abzuleugnen ist.«

Die Miene des Majors verdüsterte sich. »Glauben Sie, daß ich etwas ableugnen will?« fragte er scharf.

Wilkens erschrak vor dem Ton und den Blicken. »Nein, nein«, versetzte er eilig, »aber wir brauchen uns doch nicht zu ereifern!«

Philipp von Rachau war bis jetzt ein schweigsamer Zuhörer gewesen, als er jedoch sah, daß sich die Miene des Majors noch mehr verfinsterte, mischte er sich ein. »Vergeben Sie mir«, begann er höflich und gewandt, »wenn ich für meinen Freund das Wort nehme, der von den besten Absichten geleitet wird, wie ich Ihnen versichern darf. Der Gegenstand ist allerdings dem Anschein nach peinlich, allein, die Schuld liegt nicht bei ihm, und was ich von der ganzen Angelegenheit weiß –«

»Erlauben Sie mir«, unterbrach ihn Herr von Brand, »daß ich Ihnen beiden aufrichtig und einfach mitteile, wie sich alles verhält, und Ihnen zugleich meine Ehre verpfände, daß kein unwahres Wort darin ist. – Ich bin hier in der Nähe geboren und kam nach den Kriegen, an denen ich teilgenommen habe, hierher zurück und verheiratete mich.«

»Mit meiner Kusine Johanna Werder, welche die Gesellschafterin und Pflegerin meiner Tante Rotenbaum war, der das Gut hier gehörte und die überhaupt ein ansehnliches Vermögen besaß«, fiel Wilkens ein.

»Wenn Sie erzählen wollen, so kann ich schweigen«, sagte der Major unmutig.

»Du würdest wohl tun, Herrn von Brand ruhig anzuhören«, fügte Rachau hinzu.

So zurechtgewiesen, lehnte sich Wilkens in die Polster, kreuzte seine Arme über der Brust und ließ den Major fortfahren.

»Die Tante meiner Frau war eine sehr eigenwillige alte Dame, mit der schwer auszukommen war, und ich kann versichern, daß ich bis an ihr Ende nichts vom genauen Inhalt ihres Testamentes wußte. Sie hatte es mehrmals umgestoßen und erneuerte es noch kurz vor ihrem Tode. Hätte ich gewußt, wie sie es abgeändert hat, so hätte ich alles getan, um sie davon abzubringen.«

Wilkens machte ein höhnisches Gesicht, sagte jedoch nichts.

»Die Tante besaß einen näheren Erben als meine Frau«, fuhr Herr von Brand fort, »einen Bruder –«

»Meinen Vater«, murmelte Wilkens.

»– mit dem sie jedoch seit langer Zeit sich entzweit und verfeindet hatte. Der reiche Mann besaß ein großes Geschäft. Sie hatten sich lange nicht mehr gesehen und alle Verbindungen abgebrochen. Die Tante behauptete, von ihm in Vermögenssachen übervorteilt worden zu sein.«

»Das ist nicht wahr!« rief Wilkens mit seiner hohen Stimme.

»Ich weiß es nicht, doch jedenfalls war dies die Ursache ihrer Feindschaft. Stellen Sie sich nun mein Erstaunen vor, als sich bei der Testamentseröffnung herausstellte, daß meiner Frau und meinen Kindern zwar das gesamte Vermögen zufallen sollte, dabei jedoch die Bedingung angehängt war, daß meine Tochter Luise den Sohn des Herrn Emanuel Wilkens heiraten sollte, im Falle sich dieser vor ihrem zurückgelegten zwanzigsten Jahr als Freier meldete und ihre Hand begehrte. Bei Verweigerung von ihrer oder meiner Seite aber sollte ihm aus der Erbschaftsmasse ein Kapital von zwanzigtausend Talern ausgezahlt werden.«

»Ihre Mitteilung stimmt vollkommen mit dem Inhalt der Testamentsabschrift überein«, sagte Rachau. »Ein Punkt nur bleibt ungewiß, nämlich der, ob infolge dieses sonderbaren Testaments die ausgeworfene Entschädigungssumme gerichtlich sichergestellt wurde?«

»Dies ist nicht der Fall gewesen«, erwiderte der Major. »Was bedeutet Ihre Frage?«

»Sie hat lediglich den Grund, daß in dem Testament darüber nichts enthalten ist«, sagte Rachau in seiner verbindlichen Weise.

Der heftige alte Soldat antwortete darauf ruhiger: »Es wurde nicht nötig, eine Frage daraus zu machen, denn als Herr Emanuel Wilkens damals hier anlangte, war er über diese Testamentsklausel so aufgebracht und sein Benehmen so übermäßig heftig, daß wir arg aneinandergeraten sind.«

»Das war nicht sehr klug von ihm«, lächelte Philipp von Rachau.

»Er beleidigte uns in der empörendsten Weise«, fuhr Brand fort, sich noch in der Erinnerung erhitzend. »Er beschimpfte sowohl die Tante wie auch meine Frau, er verleumdete uns als Erbschleicher und verschwor sich, daß sein Sohn von diesem verfluchten Testament niemals Gebrauch machen werde, lieber –« Er hielt inne und sagte gelassen: »So reiste er denn wieder fort, und ich habe kaum mehr von ihm gehört. Alles geriet in Vergessenheit.«

Es entstand eine Pause. Rachau schlürfte den Wein aus seinem Glas und sagte dann verbindlich und freundlich wie immer: »Wie alt ist jetzt Ihr Fräulein Tochter?«

»Es fehlen ihr einige Monate an zwanzig Jahren.«

»Es ist somit ein eigentümliches Zusammentreffen, daß Eduard Wilkens durch seines Vaters Tod eben jetzt zurückgerufen wurde und die Abschrift dieses sonderbaren Testaments finden mußte, von dem er nichts wußte, denn der alte Herr hat in der Tat darüber geschwiegen.«

»Seltsam, allerdings seltsam«, murmelte der Major.

»Ich glaube an solche Vorbestimmungen«, fuhr Rachau fort, »und hier finde ich ein ganz besonderes Schicksalswalten darin, da mir scheint, daß eine versöhnende Macht hier tätig ist. Eben dadurch auch wurde mein Freund Wilkens so lebhaft angetrieben, Ihnen seinen Besuch zu machen.«

»Und was ist Ihre Absicht dabei, Herr Wilkens?« fragte der Major in seiner gradlinigen Weise.

»Meine Absicht! Lieber Vetter, bei Gott – ich habe die besten Absichten«, antwortete Wilkens, ihm die Hand hinstreckend.

Der alte Soldat ergriff die Hand, die ihm geboten wurde, und in der Erregung des Augenblicks vergaß er alles Vergangene.

»Sie wollen also meine Tochter kennenlernen und wollen, wenn es sein kann das Testament wahrmachen?«

»Das will ich, wenn ich nicht abgewiesen werde.«

»Gut«, sagte Brand, »versuchen Sie, was sich tun läßt, ich will und kann Sie nicht hindern. Ich habe mir schon während der Nacht eine Menge Gedanken um alles dies gemacht. Aber Luise weiß so wenig von dem, was Ihre Tante sich ausgedacht hat, wie Sie davon gewußt haben. Es würde ihr bange davor geworden sein. Schweigen wir somit alle darüber. Sie soll Sie als Verwandten begrüßen, und alles weitere mag der Himmel fügen.«

»Ich hoffe, daß ich bald gut Freund mit ihr bin. Es war doch Luise, die uns empfangen hat? Sie sieht ganz reizend aus.«

»Lernen Sie sie kennen, und Sie werden eine Menge vorzüglicher Eigenschaften an ihr entdecken«, antwortete der Major mit väterlichem Stolz. »Zunächst aber müssen wir Sie einquartieren, denn Sie wohnen natürlich bei uns, das Haus bietet genügend Raum. Also keine Umstände, meine Herren, und jetzt noch ein Glas auf gute Hausgenossenschaft.

 

Im Laufe des Tages wurden alle nötigen Anstalten getroffen, um die Gäste unterzubringen, und der Major Brand war mit dem Gang der Dinge nicht ganz unzufrieden. Im geheimen hatte er oft an die fatale Bestimmung im Testament der alten Tante gedacht und an den unerfreulichen Auftritt mit dem alten Wilkens. Zuletzt jedoch hatte er beides fast völlig vergessen und vor allem nicht geglaubt, daß jemals in diesem Zusammenhang Ansprüche erhoben werden würden. Er hatte mit Recht angenommen, daß Emanuel Wilkens niemals seinen Sohn senden würde, um sich seiner Tochter anzutragen, denn nicht allein, daß er reich und hochmütig genug war, um bessere Partien für seine Erben zu verlangen, so war auch ihre Trennung nach der Testamentseröffnung unter solchen Umständen erfolgt, daß keiner sich nach einer Annäherung sehnen konnte. Nun hatten sich die Umstände verändert, und wenn Eduard Wilkens wirklich Luise heiratete, so sah Brand zunächst nichts darin, was ihm besonders unangenehm gewesen wäre. Eduard Wilkens war ein reicher Müßiggänger und hatte ein Leben geführt, das ihm keinerlei Verpflichtungen auferlegte. Wenn Wilkens auch mitgeteilt hatte, daß sein Vater sich manche vergebliche Mühe gemacht habe, ihn zu einem Handels- und Kaufmann zu erziehen, so schien es dem Major doch nicht unmöglich, daß unter dem Einfluß einer klugen Frau, wie Luise es ohne Zweifel war, Wilkens auch zu überzeugen sein würde, eine nützliche Tätigkeit aufzunehmen. Es war allerdings nicht zu übersehen, daß seinem Benehmen und seinem ganzen Wesen etwas Anmaßendes und Grobes anhaftete. Was aber der Wirt vom »Roten Bären« von den Seltsamkeiten seines Gastes erzählte, das wiederholte sich im Beisein des Majors, als er seine Gäste in ihr Zimmer führen wollte. Wilkens trug den bewußten Kasten eigenhändig ins Haus, das nun freilich kein Gebäude von Holz, sondern ein altes festes Gemäuer war. Eine Steintreppe ging von unten bis hinauf ins Giebelgeschoß, worüber Wilkens sich besonders zu freuen schien, aber mit dem Zimmer gab es dieselbe Not wie im »Roten Bären«. Das rote Staatszimmer hatte zwei Türen, wogegen der Gast entschiedene Einwände erhob und sich auch hier lieber mit einem weit schlechteren Zimmer an der Hinterseite des Hauses begnügte; dies hatte jedoch überall feste Wände und eine starke Doppeltür mit großen Riegeln, welche Wilkens wohlgefällig prüfte.

»Nun«, lachte Brand, »hier werden Sie gewiß sicher schlafen, obwohl das Zimmer eigentlich in Verruf ist.«

»Wieso in Verruf?« fragte Wilkens.

»Es war seinerzeit das Vorratszimmer der Tante, ihr Lieblingsaufenthalt, und man will noch heute zuweilen ihr Rumoren und ihre klappernden Pantoffeln darin hören.«

»Wenn's weiter nichts ist«, erwiderte Wilkens unerschrocken, »dann habe ich keine Furcht. An Gespenster glaubt kein vernünftiger Mensch mehr, aber Diebe, Mörder und Einbrecher sind wirklich gefährlich. Das Haus liegt einsam genug, um solche Gesellen anzulocken.«

Der alte Soldat zog ein bedenkliches Gesicht, unter welchem er seinen Spott verbarg. »Eine Kehle ist freilich bald abgeschnitten«, sagte er ernsthaft, »und solche verwegenen Burschen machen gewöhnlich keine langen Umstände.«

»Kommt das hier zuweilen vor?« fragte Wilkens erschrocken.

»Dergleichen kommt überall vor.«

»Aber was tut man dagegen?«

»Dagegen läßt sich nichts tun«, sagte Brand, »als denjenigen, die uns ans Leben wollen, selbst an die Kehle zu springen. Dem Burschen, den Sie gestern abend im Wirtshaus sahen, ist es auch so ergangen. Ich bin Ihnen darüber noch eine Aufklärung schuldig.«

»Ich habe schon allerlei darüber gehört«, unterbrach ihn Wilkens, »er ist ein Wilddieb.«

»Ich schoß ihn nieder, ehe er mich niederschießen konnte.«

»Aber er leugnet, daß er solche Absichten gehabt hat.«

»Mein lieber Vetter«, versetzte der Major, »in solcher Lage muß man sich rasch entscheiden. Wenn mir jemand gegenübersteht, der die Mittel besitzt, mich zu vernichten, so warte ich nicht ab, bis er es tut, sondern ich vernichte ihn, solange noch Zeit dazu ist. Das habe ich getan und würde es immer wieder tun, mag's Recht genannt werden oder Unrecht. Wo es auf Selbsterhaltung ankommt, haben alle Zweifel ein Ende.«

Als Brand dies sagte, war der Hauslehrer mit den beiden Töchtern des Majors eben eingetreten, und es schien beinahe, als richtete er diese Verteidigung mehr gegen den Doktor und seine Kinder als gegen seinen Gast.

Doktor Gottberg wurde den Gästen vorgestellt. Eduard Wilkens aber beschäftigte sich kaum mit ihm, er suchte die Gesellschaft seiner beiden Kusinen, die ihm besser zu behagen schienen. Philipp von Rachau unterhielt sich mit Gottberg und fand, daß dieser ein sehr bescheidener junger Mann sei. Rachau verstand eine interessante Unterhaltung in Gang zu bringen, in deren Verlauf er erfuhr, daß der Doktor sich mit Naturwissenschaften beschäftige, in diesem Fache auch einige Zeit an einer Schule der Hauptstadt unterrichtet habe, daß er aber infolge einer Krankheit seine Tätigkeit habe aufgeben müssen, während seiner Erholungszeit auf dem Brandschen Gute aber seine Studien fortgesetzt habe und in den Wäldern und Wiesen der Umgebung manche Ausbeute für pflanzenkundliche Untersuchungen habe machen können. Diese Mitteilungen gaben Gelegenheit, über Natur und Reisen weiterzuplaudern, und Rachau offenbarte ein besonderes Talent für Naturschilderungen und Szenerien aus den Alpen und Pyrenäen, die er auf einer Reise, welche ihn bis Algier führte, durchquert hatte. Seine Berichte über die Zustände in der großen französischen Kolonie und die dort geführten Kriegszüge, brachten die Erinnerungen des Majors hinreichend in Fluß, um lebhaft von den Zeiten zu sprechen, wo er den französischen Fahnen bis in die Sierra Nevada gefolgt war. Das ländliche Einerlei wurde auf diese Weise durch die Gegenwart der Gäste angenehm unterbrochen.

Auch Eduard Wilkens zeigte sich in seiner Art beflissen, für sich eine günstige Meinung zu erwecken, obwohl er dies am wenigsten vermochte. Er war jedoch eitel genug, einem so hübschen Mädchen wie Luise Brand gefallen zu wollen. Die vertrauliche Weise jedoch, in welcher er sich ihr näherte, schien auszudrücken, daß er es nicht für nötig halte, einem Landmädchen gegenüber, dessen Schicksal er in seiner Hand hatte, mehr Rücksichtnahme und Höflichkeit zu zeigen. Luise trug vielleicht auch dazu bei, seine zudringliche Sicherheit zu vermehren, denn ihr einfaches, ruhiges Wesen, ihre gleichbleibende Freundlichkeit und Sanftmut und die besonnene Art, in der sie mit ihm sprach, blieben unverändert auch bei seinen anmaßendsten Anspielungen.

Beim Mittagsmahl erhielt Eduard Wilkens seinen Platz neben Luise, ihre zwölfjährige Schwester Toni wurde zwischen Rachau und den Doktor gesetzt. Es war ein vergnügliches Mahl, denn die ländliche Küche sagte den Gästen in hohem Maße zu, und Wilkens hörte wohlgefällig den Major Luises häusliche Fähigkeiten preisen und wie sie nach dem Tode der Mutter, obwohl noch sehr jung, doch gleich die Leitung des Haushalts übernommen habe.

»Das lobe ich mir, das gefällt mir«; rief Wilkens, »praktisch muß jeder Mensch sein, die praktischsten Frauen sind die allerbesten!« Er erhob sein Glas und fuhr fort: »Darauf wollen wir anstoßen, auf die vollkommenen Frauen, die uns das Leben versüßen!«

»Ich habe keine Ansprüche auf Vollkommenheit zu machen«, erwiderte Luise mit freundlicher Zurückhaltung.

»Ich bin ein Kenner, Luischen«, sagte er, indem er nach ihrer Hand faßte, »ich kenne die Welt. Da ich aber auch nicht vollkommen bin, so passen wir beide prächtig zusammen!«

Bei diesen Worten begann Toni an der anderen Seite des Tisches ein mächtiges Gelächter. Wilkens wandte sich dem kleinen Naseweis zu und sah, daß auch der Hauslehrer lächelte.

Der hagere, ernsthafte Mensch hatte ihm schon gestern mißfallen, und was Rachau über ihn geäußert, blieb in seinem Gedächtnis. »Warum lachst du, Toni? Du glaubst das wohl nicht?« fragte er schärfer, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.

Das Kind lachte unbekümmert weiter. »Nein, ich glaube es nicht, daß du und Luise zusammenpassen!« rief sie, »das ist zu komisch!«

»Warum ist das komisch?«

»Weil du eben nicht zu ihr paßt!«

»Du magst mich wohl gar nicht?«

Diese Frage machte das aufrichtige Kind nicht verlegen. Sie schüttelte mit unschuldiger Fröhlichkeit den Kopf und schlug dabei auf des Doktors Hand, welche sie festhielt. »Den hab ich lieb!« rief sie, »denn der ist gut und weiß mehr, als wir alle wissen!«

Das Lachen war allgemein, und Eduard Wilkens lachte am lautesten von allen. Seine grellen Augen bekamen aber einen boshaften Schimmer, und seine Stimme wurde noch höher und unangenehmer. »Was die Weisheit nicht alles tut!« lachte er, »aber du sollst sehen, kleine Toni, daß ich auch sehr weise sein kann, wenn ich gleich kein Doktor bin und gar nichts weiß!«

Er sah dabei Gottberg mit spöttischen Blicken an, allein dieser schien kein Gefühl dafür zu haben. Er unterhielt sich weiter mit Toni, die in das Gespräch der Tischgesellschaft ab und an ihre naiv fröhlichen Bemerkungen streute und, als die Rede darauf kam, daß Luise eine recht gute Klavierspielerin sei und auch der Doktor diese Kunst wohl beherrsche, laut und triumphierend Wilkens zurief: »Die passen zusammen!«

Der Major zog bei dieser Äußerung seiner verwöhnten Jüngsten ein finsteres Gesicht, aber sie wurde halb überhört, denn Eduard Wilkens schrie im selben Augenblick: »Das ist ja herrlich, schönstes Kusinchen, lauter neue Entdeckungen! Ich liebe die Musik leidenschaftlich!«

»Und sind wohl selbst gar Musiker?« fragte Luise.

»Ein schlechter Musikant, aber ich lasse mir gerne etwas vorspielen und höre es an, wenn es mir gefällt. Sie sollen sehen, wie dankbar ich bin, wenn es mir gefällt!«

Er küßte bei diesen Worten ihre Hand und betrachtete sie mit so stieren, sonderbaren Blicken, daß eine glühende Hitze über Luise hinflog. Eine Ahnung überkam sie, der jäh ein Gefühl des Grauens nachfolgte.

»Das ist mir lieb, daß Sie die Musik lieben, Vetter Wilkens«, sagte Brand. »Wir haben hier nicht viel Abwechslung, das werden Sie bald merken. Sie sind an andere Dinge gewöhnt. In den großen Städten gibt es Theater, Bälle und vieles andere. Wir haben außer unserer eigenen Geselligkeit nichts als den »Roten Bären« und das Montagskränzchen beim Apotheker.«

»Aber den Garten und den Wald draußen, Vater«, rief Toni, »wo die schönsten Erdbeeren wachsen und Heidelbeeren und Brombeeren und wo so viele Vögel wohnen!«

»Und Hasen und Rehe«, fügte Wilkens hinzu.

»Und Blumen«, fuhr Toni fort.

»Die der Doktor in seine Botanisiertrommel steckt«, neckte Rachau.

»Und wo der nichtswürdige Mathis mit seiner Flinte umherschleicht«, sagte Wilkens spöttisch.

»O der arme Mathis, der schleicht nicht mehr umher«, seufzte das Kind.

Luise unterbrach sie sogleich. »Gewiß«, sagte sie, »mein Vater hat recht, wir werden Mühe haben, auch nur auf wenige Tage die Langeweile von Ihnen fernzuhalten. Sie werden sich bald genug wieder von hier fortsehnen.«

»Wer weiß, liebe Luise«, erwiderte Wilkens, »zunächst gefällt es mir ganz ausgezeichnet bei Ihnen, und es kann ja sein, daß es mir immer so gefällt.«

»Ich will es wünschen«, sagte sie mit leisem Erschrecken.

Der gute Wein des Majors wirkte auf Wilkens heitere Stimmung und entschuldigte seine zunehmende Zwanglosigkeit bei dem Hausherrn besser als bei dessen Töchtern. Indessen ging doch alles noch gut ab, vornehmlich weil Rachau seinen vermittelnden Einfluß geltend machte und die übermütige Laune seines Freundes zügelte. Wilkens' Spöttereien gegen den Doktor wiederholten sich mehr als einmal, ohne daß dessen Gelassenheit darunter gelitten hätte. Nur wenn Wilkens' Späße mit seiner Kusine gar zu plump ausfielen und es den Anschein hatte, als sei er hier in seinem Eigentum und Luise gehöre dazu, sah ihn der Doktor streng und nachdenklich an.

Der Kaffee wurde im Garten getrunken, und als die Tageshitze vorüber war, ein Spaziergang in den Wald vorgeschlagen, wo es einige besonders schöne Stellen und Fernsichten auf das Flußtal geben sollte, die man den Gästen zu zeigen gedachte. Eduard Wilkens bot Luise seinen Arm und überließ Rachau den Doktor, an dessen Arm sich die kleine Toni hing, während Brand den Weg voran durch das Gehölz zeigte.

Bald waren beide Teile der Gesellschaft weit voneinander entfernt, denn Toni lief nach Blumen und Gräsern und brachte sie dem Doktor. Viele kannte sie aus Gottbergs Unterricht sogar mit ihrem lateinischen Namen, einige weniger bekannte wußte er ihr in Erinnerung zu rufen, indem er auf eine höchst angenehme Weise von den Lebensumständen der Pflanzen und ihrer Verwendungsfähigkeit für den Menschen erzählte. Rachau mischte Berichte über seltene Pflanzen und Gewächse ein, die er auf seinen Reisen gesehen hatte und ging zuweilen selbst vom Pfad ab, um Toni beim Suchen zu helfen. Bei solchen Gelegenheiten blieb Gottberg stehen, blickte durch die Bäume hin, wo kaum noch ein Schimmer von Luises hellem Kleid zu sehen war, und überließ sich seinen Gedanken. Als er eben wieder in dieser Weise auf seine Begleiter wartete, kam Toni atemlos allein angelaufen.

»Wo ist Herr von Rachau?« fragte Gottberg.

»Das ist ein Wagehals!« lachte sie lustig.

»Was hat er denn gewagt?«

»Ich denke doch, er hat eigentlich ziemlich dünne Beine«, antwortete Toni, »aber du wirst es nicht glauben er ist damit über den Graben gesprungen!«

Gottberg war erstaunt. Ein sumpfiger Abzugsgraben lief durch das Gehölz, der ziemlich breit und tief war. »Hast du es selbst gesehen?« fragte er.

»Er sprang hinüber, als hätte er sich meinen Gummiball unter seine Füße gebunden«, erwiderte Toni.

»Das erfordert mehr Kraft und Geschicklichkeit, als ich ihm zugetraut hätte«, sagte Gottberg. »Aber warum sprang er denn über den Graben?«

»Weil drüben der Mathis unter einem Baum sitzt.«

»Was tut er dort?«

»Er hat sich Weidenruten geschnitten.«

»Das sollte er nicht. Wenn dein Vater ihn findet, jagt er ihn fort und macht ihm Scherereien.«

»Ach, laß ihn doch die paar armseligen Weidenruten nehmen und Körbe flechten«, antwortete Toni. »Der Herr Rachau meint es auch gut mit ihm. Als er ihn sah, rief er gleich: ›Da sitzt einer, dem bin ich Geld schuldig!‹ – und dann machte er den Sprung über den Graben. Woher kennt er den Mathis?«

»Er hat ihn wohl gestern schon gesehen.«

»Das mag ich gern, daß er dem armen Mathis Gutes tut«, sagte das kleine Mädchen. »Überhaupt gefällt er mir viel besser als der Herr Vetter, der wie ein Kanarienvogel pfeift und sich aufbläst wie unser Truthahn.«

»Das darfst du nicht sagen, und du darfst auch nicht über ihn lachen«, warnte der Doktor.

»Ich muß lachen, ob ich will oder nicht. Und wenn er zu Luise irgend etwas besonders Schönes sagen will, möcht ich beinahe schreien! Weißt du, was ich glaube?«

Der Doktor antwortete nicht und ging weiter, jedoch Toni umklammerte seinen Arm und flüsterte ihm zu: »Heiraten möchte er sie, das kannst du mir glauben. Aber ich möchte ihn nicht, und Luise will ihn auch nicht.«

Der Doktor machte so lange Schritte, daß Toni kaum mitkam, und tat, als achte er auf das Geplauder des Kindes nicht. »Wir müssen uns nach dem Herrn von Rachau umsehen«, sagte er.

»Da kommt er schon!« rief die Kleine, »und siehst du wohl, der Mathis hinkt mit seinen Weidenruten fort, er wäre ja auch närrisch, wenn er warten wollte, bis du kommst und ihm wieder Vorhaltungen machst. Sicher hat er ein schönes Stück Geld gekriegt, hör nur mal, wie lustig er pfeift!«

Gottberg erwartete Rachau, dem Toni entgegenlief und mit ihm schalt, weil er hätte in den Graben fallen können. Zum Jubel des Mädchens sprang und lief Rachau mit ihr um die Wette, ließ sich von ihr besiegen, und während die kleine Gruppe so den anderen nachstrebte, hatte der Major mit seinen Begleitern schon den Platz erreicht, wo sie gemeinsam rasten wollten.

Es war im Grunde nicht allzuviel dort zu sehen. Eine Waldmatte bildete einen grünen Raum, an dessen Rande ein Hügel aufstieg, von dem aus man über Tal und Stadt blicken konnte. Auf dem Hügel standen eine einfache Bank und ein Holztisch.

Eduard Wilkens setzte sich sogleich nieder und wischte seine Stirn ab. Er schien ermüdet und erhitzt vom Gehen und vom Sprechen, denn er hatte unentwegt das Wort geführt, indem er seinen Verwandten allerlei über seine Lebens- und Vermögensverhältnisse mitgeteilt hatte. Alles, was er dazu sagte, trug zwar ebenfalls den Stempel anmaßender Selbstgefälligkeit, jedoch waren die Tatsachen an sich recht erfreulich und blieben nicht ohne Einfluß auf die geheimen Überlegungen des Majors. Er war bei aller verhältnismäßigen Einfachheit seines Lebensstils doch nicht unempfindlich gegen den Reiz des Geldes. Die Abneigung, welche ihm manche Eigenschaften Wilkens einflößten, wurde durch dessen offensichtlichen Reichtum gemildert. So verfolgte er auch nicht ohne ein gewisses Wohlbehagen, was Eduard Wilkens über das prächtige Landhaus berichtete, das er von seinem Vater unter anderem geerbt hatte.

»In dem Park meines Landhauses gibt es ein paar Aussichten, mein liebes Luischen«, sagte er, noch immer schnaufend, »die besser sind als diese hier. Sie sind noch niemals dort gewesen?«

»Meine größte Reise hat nicht mehr als vier Meilen betragen«, antwortete sie, indem sie ebenfalls auf der Bank Platz nahm.

»Das ist ja lächerlich«, sagte er, »Sie müssen künftig viel mehr reisen, es wird Ihnen gefallen.«

»Wird man besser und glücklicher dadurch?« fragte sie lächelnd.

»Was heißt besser, klüger wird man, und das ist die Hauptsache.«

»Ihr Freund Rachau scheint auch viel gereist zu sein«, fiel der Major ein.

»Ja, der hat das Leben und die halbe Welt kennengelernt. Wo steckt er denn mit dem Herrn Doktor?«

»Sie sind zurückgeblieben, aber sie können nicht weit sein«, erwiderte Luise.

»Hat Herr von Rachau ein Amt?« fragte der Major.

»Weder Amt noch Charakter«, lachte Wilkens, »keins von beiden, mein lieber Vetter, Er lebt seinem Vergnügen und seinen Neigungen. Er hat nichts zu verlieren, also hat er mich begleitet.«

»Er gefällt mir sehr gut«, sagte der Major.

»Wie gefällt er Ihnen, liebe Kusine?«

»Ich finde ihn recht unterhaltend«, antwortete Luise.

»Oh! Finden Sie? Ja, er versteht's, aber es fehlt ihm eins, das alle Mädchen gern mögen: Geld! Geld! Ohne Geld hilft alle Tugend nichts und alle Unterhaltsamkeit!« Er faßte nach ihrer Hand. Die seine war kalt und feucht, und sein dickes Gesicht näherte sich ihr so zudringlich, daß Luise rasch aufstand, denn ein unaussprechlich widerwilliges Gefühl erfaßte sie.

Der Major war schon vorher aufgestanden, um nach dem fehlenden Teil der Gesellschaft Ausschau zu halten, und Luise folgte ihm nach, als wolle sie sich unter seinem Schutz in Sicherheit bringen. Auf Wilkens aber schien ihre Flucht nur belustigend zu wirken. Mit boshaftem Ausdruck hefteten sich seine Blicke an ihre anziehende Gestalt, und er rieb seine Finger vergnügt aneinander, während Brand ein lautes Hallo! durch den Wald schallen ließ.

Die Antwort kam aus der Nähe. Nach wenigen Minuten waren die Verlorenen zur Stelle, aber sie kamen nicht allein, sondern brachten den Gärtner des Hauses mit, der ein Unglück zu melden hatte, das Toni ihrem Vater schon von weitem ankündigte.

»O Vater!« schrie sie, »Vater! Das arme Tier! Der arme Hans!«

»Was ist geschehen?« fragte der Major, dem der Gärtner aufgeregt berichtete, daß ein Pferd, das vor einen Wagen gespannt war, um Holz herbeizuschaffen, beim Einbiegen in den Hof gestürzt sei und wahrscheinlich den Fuß gebrochen habe.

Brand antwortete mit einem kräftigen Fluch, aber es blieb nichts übrig, als zurückzukehren, um selbst nach dem Schaden zu sehen. Der Spaziergang war somit unerwartet unterbrochen worden, und Eduard Wilkens war der einzige, welcher sich darüber freute und dies auch nicht verbarg.

»Wir hatten eigentlich nichts weiter hier zu schaffen«, sagte er, »denn die Aussicht hatten wir genossen, und ich gehöre nicht zu denen, die sich lange an solchen Herrlichkeiten erfreuen können.«

»Aber wir werden Ihnen nichts anderes zu bieten haben«, sagte Luise, an welche er sich wandte.

»Ich bin bei Ihnen, schönste Kusine, das ist mir immer neu und angenehm«, antwortete er, wiederum ihren Arm nehmend, mit einem Seitenblick auf den schweigsamen Doktor, der ihnen nachfolgte.

»Natürlich wäre ich gern länger geblieben, falls es sich etwa um Ihr Lieblingsplätzchen handelte«, nahm Wilkens wieder das Wort. »Wenn das der Fall ist, so wollen wir bald wiederkommen und eine der allerschönsten Stunden zusammen feiern. Wollen Sie?«

Luise schwieg und antwortete erst nach einer Weile zurückhaltend: »Ich hoffe, wir werden diesen Platz noch öfter sehen.«

»Und nicht wieder gestört werden«, rief er mit seiner hohen Fistelstimme laut. »Wahrhaftig, wir wollen uns nicht stören lassen, von wem es auch sein möge. Aber Sie sehen ganz betrübt aus, liebe Luise. Ein Pferd ist allerdings ein Gegenstand von einigem Wert.«

»Es ist ein armes altes Tier, das keinen großen Wert hat«, antwortete sie, »aber sein Unglück geht mir nahe.«

Wilkens lachte. »Was sind Sie zartfühlend!« rief er, »was müssen Sie erst empfinden, wenn ein Mensch leidet! Ich könnte beinahe wünschen, daß ich selbst ein Bein bräche, nur um dann von Ihnen bemitleidet zu werden!«

»Das könnte er meinetwegen – beide Beine und den Hals dazu«, flüsterte Toni dem Doktor zu, »das machte mir gar nichts aus. Aber der arme alte Hans! Ich habe ihn heute morgen noch gestreichelt und ein großes Stück Semmel zugesteckt. Wenn ich Luise wäre, liefe ich dem dicken Vetter davon. Aber wirklich – sie tut es schon! Sie tut es schon!«

Luise verdoppelte wirklich ihre Schritte und ließ Wilkens ein erhebliches Stück hinter sich zurück, was Toni mit fröhlichem Gelächter bejubelte. So erreichten sie das Haus und standen bald bei dem verunglückten Tier, um welches sich die Hausbewohner versammelt hatten, die durcheinanderschreiend das Ereignis erörterten.

Das Pferd saß auf seinen Hinterbeinen, stemmte die Vorderfüße auf und richtete seine großen traurigen Augen auf das Kind, das es klagend und weinend streichelte und beim Namen nannte.

Der Major hieß die Mädchen sich entfernen und stellte dann eine Untersuchung an, bei welcher Rachau ihm half und sich dabei so geschickt und erfahren zeigte, daß Brand sich anerkennend über seine Kenntnisse äußerte.

»Obwohl ich gar nichts davon verstehe«, erwiderte Rachau bescheiden, »habe ich doch auf meinen Reisen viel mit Pferden zu tun gehabt. In diesem Falle aber scheint es mir gewiß, daß der alte Bursche den Röhrenknochen durchbrochen hat.«

»Es ist ihm nicht zu helfen«, sagte der Major, den Kopf hebend.

»So muß man zum Schinder schicken!« rief Wilkens.

»Das würde seine Leiden um viele Stunden verlängern«, sagte Brand.

»Was kann man aber tun?«

»Ich werde es Ihnen gleich zeigen, warten Sie einen Augenblick.« Mit diesen Worten ging der Major ins Haus und kam nach wenigen Minuten zurück. In seiner Hand schimmerte etwas Blitzendes, das Wilkens für den Lauf einer Pistole hielt.

»Totschießen wollen Sie ihn? Da mache ich mich schnellstens aus dem Staube, das Knallen ist mir fatal, Blut überhaupt«, sagte Wilkens, »ich habe einen Abscheu vor Blut.«

»Was zum Henker!« erwiderte Brand, »ein Mann, und kann kein Blut sehen, kann's nicht knallen hören! Aber beruhigen Sie sich, Ihre Nerven sollen nicht strapaziert werden. Sehen Sie her: Das Ding knallt nicht.« Er zeigte dabei auf den Gegenstand, den er in der Hand trug.

Es war ein kleiner Hammer von poliertem Stahl mit kurzem Griff, der Kopf an der einen Seite breit, an der anderen in eine lange Spitze auslaufend. Das ganze hatte ein so unschuldiges Aussehen wie ein Kinderspielzeug.

Eduard Wilkens nahm daher auch von dem Spott des Majors keine Notiz, er lachte dazu und sagte: »Das lasse ich mir gefallen, damit kann man sich keinen Schaden tun.«

»Nicht?« erwiderte Brand, indem er ihn anblickte und den kleinen Hammer in seiner Hand wiegte. »Sie würden freilich nichts damit ausrichten können, aber wer die Sache versteht – geben Sie acht! –«

Er trat zu dem leidenden Pferd, richtete die Spitze des Hammers auf dessen Stirn, schwenkte ihn dann an dem kurzen Griff und ließ ihn, anscheinend ohne besonderen Kraftaufwand blitzartig niederfallen. Das Pferd zuckte zusammen, stürzte zur Seite und streckte sich aus. Es war tot. Das Verfahren war so überraschend, der Erfolg so überzeugend, daß die Zuschauer bestürzt darauf hinblickten.

»Das ist merkwürdig«, sagte Rachau.

»Schrecklich, schauderhaft«, rief Wilkens, indem er unwillkürlich nach seinem Kopf faßte, »man sieht es nicht einmal!«

Die anderen, Gottberg, der Gärtner und eine ganze Schar von Dienstleuten des Gutes sowie von Neugierigen, die seit dem Sturz des Pferdes sich versammelt hatten, schwiegen. Der Punkt, auf welchen der tödliche Schlag niedergegangen war, wurde in der Tat nur durch einen Blutstropfen angedeutet.

»Ich bin erstaunt darüber, wie das möglich ist«, sagte Rachau. »Wie kann man den festen Schädel mit diesem unbedeutenden Instrument und obenein ohne alle Anstrengung zerschmettern?«

»Wer es nicht versteht, sollte es auch bleiben lassen«, erwiderte der Major nicht ohne eine gewisse Genugtuung. »Es kann einer zehnmal schlagen, ohne großen Schaden zu tun. Man muß mit dem rechten Schwung die rechte Stelle treffen, so dringt die Spitze des Hammers bis ins Gehirn und verursacht einen augenblicklichen und schmerzlosen Tod.«

»Ist diese Art der Tötung hier gebräuchlich?« fragte Rachau.

»Nein, hier versteht niemand etwas davon, aber in Spanien macht man es so, und unsere Regimenter haben es von dort übernommen. Ich habe im Krieg manch armes Tier mit diesem kleinen Hammer von großen Leiden befreit. – Und jetzt schafft das Pferd fort«, wandte sich Brand an seine Dienstleute. »Ihm ist jedenfalls geholfen.«

Er steckte das Gerät ohne viele Umstände in die Tasche und ging mit seinen Gästen ins Haus. Das Ereignis beherrschte die Gespräche während des ganzen Abends, und besonders zeigte sich Wilkens beklommen und nicht mehr in seiner früheren Laune und überließ es seinem munteren Begleiter, die Unterhaltung zu führen. Bald nach dem Abendessen zog er sich, begleitet von Rachau, dann auch zurück.

 


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