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Der Tisch stand gedeckt, aber das Speisezimmer war leer, im Hause herrschten Ruhe und Stille. Der Major kam soeben aus der Stadt zurück, wohin er sich geflüchtet hatte, um Wilkens aus dem Weg zu gehen. Er kam jedoch mit demselben verdrießlichen Gesicht, mit welchem er gegangen war. Kaum hatte er seinen Garten betreten, so sprang Toni ihm entgegen, indem sie ihren großen Ball in die Luft schleuderte.

»Fang ihn, Vater!« rief sie, aber der Major hatte keine Lust zum Spielen.

»Wo ist Luise?« fragte er.

»Eben ist sie nach Hause gekommen«, erwiderte Toni. »Der Doktor sitzt und schreibt wie besessen, und der Vetter piept dort hinten in der Laube dem lustigen Herrn Rachau etwas vor. Der hätte gern mit mir Ball gespielt, aber der Vetter verbot es ihm, und griff ihn beim Arm und schleppte ihn fort. Jetzt erzählt er ihm sicherlich die schreckliche Geschichte.«

»Welche schreckliche Geschichte?« fragte Brand.

»Höre, Vater«, sagte Toni, »er ist ein Hasenfuß, weiter nichts, der Doktor hat ihn zur Tür hinausgewiesen. Ich habe alles mit angesehen, denn ich saß in dem Zimmer nebenan vor dem Bücherspind. Es war zum Totlachen!«

»Das hat er getan?« fragte der Major, seine Stirn furchend.

»Du wirst doch den Doktor nicht schelten wollen«, fiel das kleine Mädchen ein. »Denke dir, Vater, der Vetter sagte, er werde Luise heiraten, dazu wäre er hierher gekommen, und er tat, als ob das für uns eine besondere Ehre wäre! Und es ist doch gewiß nicht wahr, denn Luise mag ihn nicht, und du gibst es nicht zu! Mach, daß er fortgeht, Vater!« Brand hörte schweigend zu, aber sein Gesicht wurde dabei noch düsterer, während seine Mienen gleichzeitig eine gewisse Zustimmung zu dem ausdrückten, was Toni vorbrachte.

»Du bist noch ein Kind und solltest lieber über solche Dinge schweigen«, sagte er ernst.

»Du willst es wohl nicht glauben?« rief die Kleine gekränkt. »Frage, wen du willst, am besten Luise selbst. Da kommt sie schon, sie kann dir auf der Stelle antworten!«

Toni lief der Schwester entgegen, während der Vater ihr langsam nachfolgte. »Sage gleich die Wahrheit«, rief das Kind, »möchtest du den Vetter Wilkens heiraten oder nicht?«

Luise hielt ihr den Mund mit der Hand zu, der Vater stand mit ernster Miene vor beiden.

»Geh hinein und erwarte uns«, sagte Luise zu der Schwester, »das sind Dinge, von denen du noch nichts verstehst.«

Toni ging, wenn man ihr auch ansah, wie ungern sie es tat.

»Wir wollen unsere Gäste zu Tisch rufen«, fuhr Luise fort.

Der Vater streckte seine Hand nach ihr aus und sagte: »Wenn ich Tonis Frage wiederhole, Luise, was dann?«

»Dann, Vater«, antwortete sie, die klaren Augen auf ihn heftend, »muß ich nein sagen.«

»Das ist dein Wille?«

»Mein fester Wille.«

Es entstand ein kurzes Schweigen. Der Major blickte vor sich hin. »Er ist reich«, murmelte er, ohne Luise anzusehen, »und wir haben zu bedenken – es ist eine ernsthafte Sache – du mußt bedenken –«

»Ich habe nichts zu bedenken, lieber Vater«, fiel sie ein. »Du wirst mich nicht zwingen wollen, einen Mann zu nehmen –«

»Den du nicht magst«, sagte er lebhaft, als habe er einen endgültigen Entschluß gefaßt, der sein Herz erleichterte. »Nein, mein Kind, ich zwinge dich nicht. Mir gefällt er – weiß Gott! – ebensowenig! Aber – der Teufel hat ihn hergeführt«, setzte er mit Heftigkeit hinzu, »und ich weiß nicht, wie wir ihn wieder loswerden.«

»Ich hoffe, der Vetter wird von selbst gehen«, erwiderte Luise. »Heute vormittag hatte ich mit Herrn von Rachau ein Gespräch, als ich mit ihm auf einem Spaziergang zusammentraf. Er suchte meine Meinung über seinen Freund auszuforschen, diese Gelegenheit nahm ich wahr, ihm unverhohlen zu sagen, daß ich keine Bewerbung des Vetters annehmen werde.«

»Das war gut«, sagte Brand, indem er sie zufrieden ansah, und wiederholte noch einmal: »Das war sehr gut! Er wird es ihm wiedersagen.«

»Ich habe ihn sogar darum gebeten.«

»Hat er es übernommen?«

»Er wird wahrscheinlich gerade dabei sein.«

»Dieser Rachau ist aus besserem Holz gemacht als der Vetter«, sagte der Major erfreut.

»Er hat versichert, mein ergebener Freund zu sein«, meinte Luise lächelnd. »Bei aller seiner Höflichkeit und Freundlichkeit ist doch nicht zu vergessen, daß er in engen Beziehungen zu Wilkens, man möchte fast sagen in dessen Diensten steht.«

»Wir wollen ihm dankbar sein, Kind, wenn er uns beisteht«, rief Brand, »im übrigen bin ich froh, wenn wir sie beide los sind, und ich sage dir, Luise, ich fühle es jetzt eben so recht, bei allen Umständen, die vorhanden sind –« Er brach ab und blickte sie an. »Unser guter Doktor«, fuhr er fort, »wird auch froh sein. Es wird alles gut werden, wenn wir diesen Vetter nur erst überstanden haben.«

»Ruhig, Vater, sie kommen«, sagte Luise. »Sei freundlich und geduldig.«

Sie hörten hinter dem Weinspalier Eduard Wilkens' scharfe Stimme und schwiegen still.

»Ich habe wahrhaftig nichts dagegen, wenn sie nicht anders wollen«, ließ er sich vernehmen. »Was zum Henker! Was ich tun muß, weiß ich selbst, dazu brauche ich deinen guten Rat nicht! Gehöriges kaltes Blut ist die Hauptsache, das hab ich.«

Als die beiden Freunde um die Ecke bogen, sahen sie den Major, der ihnen, seine Tochter am Arm, entgegenkam, und obgleich Wilkens gewiß sein konnte, daß seine Worte gehört worden waren, nahm er keine Notiz davon. Er streckte ihnen seine Arme entgegen und rief: »Da ist ja mein vortrefflicher Vetter und die liebenswürdige Kusine, endlich sehen wir uns! Das Landleben ist herrlich, diese Luft nicht mit Geld zu bezahlen. Man kann hier hundert Jahre alt werden, und merkt nichts davon!«

»Hoffentlich machen Sie diese Prophezeiung wahr«, erwiderte der Major.

»Ich will es wahrmachen«, lachte Wilkens, »verlassen Sie sich darauf. Mein Appetit ist für mehrere Jahrhunderte eingerichtet.«

»Und der Tisch ist gedeckt«, antwortete Luise.

»Und der ist ein Narr, der nicht frisch tafelt, was ihm geboten wird«, rief Wilkens. »Ich bin kein Kostverächter, schönste Kusine. Ich nehme mit allem vorlieb und frage nicht lange.«

Mit übermütiger Gebärde reichte er ihr seinen Arm und führte sie dem Hause zu, der Major folgte mit Rachau nach, und wenige Minuten nachher waren sie im Speisezimmer, wo auch der Doktor gleich darauf mit Toni sich einstellte.

Eduard Wilkens sah ihn so vergnügt an, wie es noch niemals der Fall gewesen. »Nun, mein gelehrtester Herr Doktor«, sagte er, »haben Sie Ihre Arbeiten vollendet?«

Gottberg verneigte sich mit seiner gewöhnlichen Zurückhaltung ohne weitere Antwort.

»Sie müssen ein Glas Wein mit mir trinken«, fuhr Wilkens fort. »Ich trinke auf Ihr Wohl, auf Ihre Zukunft, die reich an Freuden aller Art sein möge!«

Gottberg konnte nichts weiter tun, als höflich sein Glas zu erheben.

»Weisheit ist das Ziel alles menschlichen Strebens«, fuhr Wilkens fort. »Als mein Vater mich in die Welt entließ, gab er mir eine ausgezeichnete Lehre mit. ›Mein Junge‹, sagte er, ›jetzt merk auf, was ich dir anbefehle: Sei immer klug und weise und vor allem, habe Geld!‹ – Weisheit, schönste Kusine, und Geld! Darauf wollen wir anstoßen!«

»Sie haben diese Lehre gewiß niemals vergessen«, antwortete Luise.

»Niemals vergessen!« beteuerte Wilkens. »Sie sollen bald sehen, daß ich sie niemals vergessen habe. Aber mein vortrefflicher Vetter, Sie müssen ebenfalls mit mir anstoßen. Ich fühle mich in Ihrem Hause so wohl, wie ich es gar nicht sagen kann. Ich bin so glücklich, ich kann den Gedanken gar nicht fassen, mich davon zu trennen. Es gefällt mir alles so ausnehmend, daß ich meine Tage hier beschließen möchte. Auf Ehre! das möchte ich. Ich möchte dies Gut besitzen, wenn Sie es mir abtreten wollten.«

»Ich habe keinen Grund dazu«, antwortete Brand.

»Nicht? Gut, ich bin auch so zufrieden, ich bin immer ein zufriedener Mensch. Nur in fremde Hände soll meiner Tante Eigentum nicht kommen, das meine ich, weiter nichts. So wünsche ich Ihnen viele frohe Tage, glückliche Zeiten, Freude an Kindern und Kindeskindern. Alles, was man einem liebenswürdigen Vater nur wünschen kann. Weise Schwiegersöhne und Schwiegertöchter!«

Er lachte unverschämt dazu, und seine grellen Augen musterten vergnüglich das finstere Gesicht des alten Soldaten. Es mochte seine Absicht sein, dessen Zorn zu erregen, aber Luise machte ihrem Vater Zeichen, die ihn ermahnten, nicht die Geduld zu verlieren, und der Major bezwang sich und dankte heimlich dem guten Rachau, der sich bemühte, ihm beizustehen.

»Ich habe gehört«, sagte dieser mit seiner schmeichelnden Höflichkeit, daß Ihr Herr Sohn schon Justizrat ist und in das Ministerium berufen werden soll und daß ihm vielleicht eine glänzende Zukunft bevorsteht. So schließe auch ich mich den vielen guten Wünschen an.«

Der Major war stolz auf seinen Sohn. »Haben Sie Dank, mein lieber Herr von Rachau«, sagte er ihm zunickend. »Ich habe meinem Sohn keine andere Lehre mit auf den Weg gegeben, als die: Wo du Unrecht siehst, leid's nicht. Daran hat er festgehalten. Der Minister scheint ihn zu schätzen, obwohl er gegen manche Mängel in der Justiz geschrieben und gesprochen hat.«

»Ein Brand im Justizministerium!« schrie Wilkens, »dann ist das goldene Zeitalter gekommen! Recht und Gerechtigkeit sind keine leeren Phrasen mehr! Stoßen wir alle darauf an!«

Wie widerlich übertrieben auch die Scherze waren, welche Wilkens weiter daran knüpfte, so mußte ihm doch gewillfahrt werden. Er war sehr aufgeregt, trank viel Wein, lachte und schwatzte in der herausforderndsten Weise, und sein dickes blasses Gesicht färbte sich nach und nach röter. Der Major war mehr als einmal nahe daran, aufzufahren, meinte aber im stillen, daß dies Folgen der Mitteilungen seien, welche Rachau dem Vetter gemacht hatte. Wilkens war ohne Zweifel dadurch in seiner Eitelkeit beleidigt und nicht großmütig und feinfühlend genug, um die Ablehnung seiner Werbung mit Anstand und Haltung hinzunehmen. Brand wurde dadurch noch mehr bewogen, nachsichtig allerlei Spott und Grobheit zu ertragen, er nahm sich aber vor, daß dies der letzte Auftritt dieser Art sein sollte. Er faßte den Entschluß, eine kurze und bestimmte Aussprache mit dem Gast gleich nach Tisch zu führen, aber es kam doch noch, ehe das Mahl ganz beendet war, zu einer unangenehmen Szene.

Als Wilkens seine boshaften Scherze immer weiter fortsetzte und auch mit anzüglichen Bemerkungen im Hinblick auf das Verhältnis Gottbergs zu seinen beiden Schülerinnen nicht sparte, verlor der Major die Geduld. Er warf das Tellertuch auf den Tisch und stand mit solcher Heftigkeit auf, daß Wilkens erschrak. Die furchtsame Seite seines Charakters erhielt die Oberhand über seine Unverschämtheit, doch stellte der genossene Wein das Gleichgewicht wieder her.

»Was ist denn geschehen?« rief er. »Sie wollen mir doch nichts übelnehmen?«

»Es ist nichts geschehen«, antwortete der Major mit so vieler Ruhe, als er aufzubringen vermochte, »aber es soll auch nichts weiter geschehen. Laß den Kaffee in den Garten bringen, Luise. Wir müssen diesen Dingen ein Ende machen.«

Er entfernte sich, aber Wilkens rief ihm nach: »Dann noch ein Glas auf das gute Ende, verehrter Vetter! Und jetzt bin ich bereit, schönste Kusine, allen Torheiten abzuschwören.«

In dieser Beteuerung lag etwas Wahres, denn Wilkens suchte sich nun einen höflicheren Anstrich zu geben, und als der Kaffee erschien und der Major mit dem Zigarrenkästchen kam, schien alles ausgeglichen zu sein und sich versöhnlicher zu gestalten. Wilkens pries die Zigarren, lobte den Kaffee, wandte sich mit gefälligen Worten bald an Brand, bald an Luise, bald an seinen Freund Rachau, und bedauerte, daß der Doktor sich schon wieder entfernt hatte. Dann beklagte er, daß irdisches Wohlbehagen nicht ewig dauern könne, und nach manchen ähnlichen Bemerkungen, die nicht erwidert wurden, schlug er selbst einen Spaziergang vor zu den schönen Waldhügeln, wo es ihm so herrlich gefallen habe.

»Ich glaube wirklich, daß ich Ihrem vortrefflichen Wein zuviel Verehrung bezeigt habe, mein teuerster Vetter«, sagte er. »Mein Kopf ist schwer wie Blei, und da Weintrinken sonst nicht meine Sache ist, bin ich um so unvorsichtiger gewesen.«

»Ein Glas zuviel schadet nicht«, erwiderte der Major, »wenn nur sonst der Kopf auf dem rechten Fleck sitzt. Ich habe zunächst einen Gang nach der Mühle zu machen. Wollen Sie mich begleiten, so treffen wir später mit den anderen wieder zusammen.«

»Ich gehe mit Ihnen«, sagte Wilkens. »Wir haben Stoff genug, uns zu unterhalten. Ist es nicht wahr?« Er griff dem Major lachend unter den Arm und schwenkte seinen Hut vor Luise. »Auf Wiedersehen also, schönste Kusine, zürnen Sie mir nicht, wenn ich Sie treulos verlasse.«

So entfernte er sich mit seinem Begleiter, aber seine scharfe Stimme war noch lange zu hören. Es schien Herrn Eduard Wilkens behaglich zumute zu sein. Er lachte und scherzte weiter, pries den kühlen Waldschatten und dankte dem schweigsamen alten Soldaten für die große Geduld, welche er ihm bezeige.

»Geduld«, rief er dann, ihn lustig anblinzelnd, »ist aber auch die allerchristlichste Tugend! Sanftmut ziert jeden Menschen! Man muß niemals zornig werden, ich hasse nichts mehr als Zorn. Zornige Menschen verkümmern sich das Leben und werden niemals alt. Also alles ohne Leidenschaft, mein bester Vetter!«

»Sie haben recht«, antwortete Brand, »wir müssen ohne Leidenschaft uns aussprechen.«

»Also wir wollen uns aussprechen. Gut, das ist meine Absicht.«

»Die meinige ebenfalls.«

»Sie wollen also eigentlich gar nicht nach der Mühle gehen?«

»Allerdings. Aber ich wollte mich zunächst in passender Weise Ihnen erklären.«

»Herrlich, teuerster Vetter«, rief Wilkens, »auch meine Zeit drängt, und unsere Angelegenheit ist von so eigentümlicher Art, daß ich danach verlange, je eher, je lieber zum Abschluß zu kommen.«

»Ich verarge es Ihnen nichts erwiderte Brand. »Meine Meinung ist –«, er stockte und ging schweigend weiter auf dem Pfad in den Wald hinein. »Es wird mir schwer, für das, was ich Ihnen mitteilen muß, den richtigen Anfang zu finden.«

»Lassen Sie sich Zeit«, versetzte Wilkens verbindlich. »Sind wir denn hier auf dem richtigen Wege?«

»Der richtige Weg«, antwortete der Major, »ist doch immer der gerade und offene. So sage ich Ihnen denn geradeheraus, daß ich – daß es mir leid tut, aber –«, er hielt wieder inne und besann sich.

»Sie sind vom richtigen Wege abgekommen«, lachte Wilkens.

»Sie haben recht«, erwiderte Brand. »Besser ist es, wenn ich Sie selbst frage, ob schon Absichten – zum Henker! mit einem Worte denn«, unterbrach er sich ungeduldig, »ob Sie Luise lieben?«

»Lieben?« Eduard Wilkens lächelte. »Dies ist eine eigentümliche Frage, bester Vetter. Ich bin entzückt von ihrer Liebenswürdigkeit. Beim Lieben aber ist zu bedenken, was man überhaupt unter Liebe versteht.«

»Ich weiß nicht, was Sie darunter verstehen«, sagte Brand, »aber – wollen Sie meine Tochter heiraten?«

»Gewiß. Wenn ich so glücklich sein kann.«

»Noch jetzt?« fragte der Major.

»Warum nicht, mein bester Vetter?«

»Ich denke – hat Ihnen Rachau nichts mitgeteilt?«

»Das hat er.«

»Und Sie können noch immer diese Absicht hegen?«

»Meine liebenswürdige Kusine zu meiner Frau zu machen? Immer bin ich dazu bereit!« rief Wilkens.

»Wenn ein Mädchen sich derartig ausspricht, wie Luise es getan hat«, sagte der Major streng und laut, »so glaube ich, daß ein Mann von Ehre seine Hoffnungen aufgeben muß.«

»Das ist ganz natürlich, mein teuerster Vetter, und ich bin weitab davon, mich meiner grausamen Kusine aufzudrängen«, versetzte Eduard Wilkens. »Ich bedaure es innigst, keine Gnade gefunden zu haben, meine Absichten waren die besten.«

Der Major fühlte sich versöhnt. »Ich hoffe«, erwiderte er, Wilkens seine Hand bietend, »Sie tragen uns darum keinen Groll nach.«

»Befürchten Sie das nicht«, entgegnete Wilkens, ihm die Hand schüttelnd, »mir ist alle Rachsucht fremd. Den Neigungen des Herzens kann niemand befehlen. Möge meine liebe Kusine unbehindert ihren Neigungen folgen, sie treffen ohne Zweifel einen würdigeren Gegenstand, als ich es bin.«

»Sie sind gereizt«, sagte der Major, »es sollte mir leid tun, wenn Sie uns gekränkt verließen.«

»Gewiß nicht«, beteuerte Wilkens. »Morgen werde ich reisen.«

»Bleiben Sie noch einige Tage.«

»Das geht nicht an. Ich habe nichts mehr hier zu tun. Aber ich werde immer mit freundlichen Gefühlen zurückdenken und sehr erfreut sein, wenn ich höre, daß es Ihnen wohlgeht.«

»Ich danke Ihnen, lieber Vetter«, antwortete Brand mit mehr Herzlichkeit, als er bisher jemals seinem Gast zugewandt hatte. »Wenn es so sein muß, so reisen Sie morgen, aber kehren Sie bald einmal zu uns zurück.«

»Wer weiß«, sagte Wilkens. »Im nächsten Jahr möchte ich nach Italien gehen. Inzwischen haben Sie Zeit, unsere Angelegenheit ganz, wie Sie es wünschen, zu regeln.«

»Was meinen Sie?« fragte der Major.

»Nehmen Sie sich Zeit ganz nach Ihrem Belieben. Es hat, wenn Sie wollen, bis Neujahr Zeit.«

Der Major blickte ihn starr an. »Oder wenn es Ihnen lieber ist«, fuhr Wilkens unbefangen fort, »und wenn Sie können und wollen es, so machen wir es kurz ab. Ich bleibe dann bis übermorgen.«

»Ich verstehe Sie noch immer nicht. Wollen Sie etwa auf die Testamentsbestimmung dringen?«

»Gewiß, mein bester Vetter, das ist doch wohl meine Pflicht«, lächelte Wilkens.

»Ist das Ihr Ernst?« rief Brand, dunkelrot im Gesicht.

»Ich sollte meinen, mit zwanzigtausend Talern spaßt man nicht«, antwortete Wilkens.

Der Major schien völlig überrascht. Er stand still und suchte sich zu besänftigen. »Ich leugne nicht«, begann er dann, »daß Sie diese Forderung machen können – in wenigen Wochen wäre es nicht mehr der Fall gewesen. Ihr Vater hat nie daran gedacht. Niemand hat denken können, daß die verrückte Bestimmung jemals Folgen haben würde.«

»Es ist mit Testamenten eine sonderbare Sache«, fiel Wilkens ein.

»Können Sie es vor sich selbst verantworten, können Sie unter den Verhältnissen, welche Sie kennen, das Geld fordern?«

»Es tut mir leid«, sagte Wilkens, »aber ich sehe nicht ein, warum Sie Großmut von mir verlangen.«

»Großmut?« brauste der heftige Mann auf. »Bei Gott nein! Aber Scham und Schande über Sie! Das war von Anfang an Ihre Absicht!«

»Mäßigung, mein verehrter Vetter, ohne Leidenschaft, das ist die Hauptsache«, sagte Wilkens mit arglistiger Sanftmut, die ihn noch abstoßender machte. »Ich bin noch immer ganz zu Ihren Diensten, noch immer bereit, meine liebenswürdige Kusine zu heiraten, wie es das Testament vorschreibt.« Er streckte seine Hand aus.

»Heiraten!« rief der Major mit flammenden Augen. »Luise will Sie nicht!«

»So befehlen Sie es ihr.«

»Sie sind ein Elender!« schrie Brand in höchstem Zorn.

»Weil ich von einer Erbschaft, die von Rechts wegen mir allein gehörte, einen Teil mir wenigstens nicht entreißen lassen will, nicht wahr?« versetzte Eduard Wilkens mit kaltem Hohn. »Da kommt's hinaus?«

»Verlassen Sie mich jetzt«, sagte der Major, »ich könnte sonst –«

Wilkens sprang hastig zurück. »Lahm will ich mich nicht machen lassen«, erwiderte er, »totschlagen auch nicht, aber mein Geld will ich haben – mein Geld!«

Seine Worte machten auf den jähzornigen Mann einen furchtbaren Eindruck. Einige Augenblicke blieb er sprachlos, dann sagte er, so kalt und verächtlich es ihm möglich war: »Sie sollen haben, was Ihnen gebührt. Gehen Sie jetzt. Ich werde Mittel und Wege finden, Sie zu befriedigen.«

Mit diesen Worten Verließ er ihn. Wilkens blieb stehen und blickte ihm nach, dann lachte er leise und sah sich nach allen Seiten um. »Nun, so haben wir ja, was wir wollen!« rief er lustig. »Lauf zum Teufel, Alter! Sehe jeder, wo er bleibe!«

 

Erst nach einigen Stunden, als die Gesellschaft längst auf dem Waldhügel gewartet hatte, sah Luise ihren Vater kommen, aber von einer anderen Seite als dort, wo es zur Mühle hinabging. Er kam mitten durch das Gehölz hinter den Hügeln, und mit Freudengeschrei flog ihm Toni entgegen, mit Blumenkränzen geschmückt und eine lange Blumenkette in ihren Händen, mit welcher sie ihn zu umwinden suchte.

»Du bist mein Gefangener, Vater! Zur Strafe mußt du gefesselt werden!«

»Was habe ich denn verbrochen?« fragte er.

»Du hast uns so lange warten lassen, daß es Luise ganz angst und bange geworden ist.« Luise hatte sich inzwischen ebenfalls genähert. »Wo ist Herr Wilkens?« fragte sie.

»Ist er nicht hier?« antwortete der Major. Er blickte sich um und sah nur den Doktor und auf dem Hügel am Tisch Rachau, der sich mit einem Berg Feldblumen beschäftigte. »Dann ist er nach Haus gegangen«, fügte er hinzu, »er hat mich nicht weit begleitet.«

»Aber wir haben ihn nicht gesehen«, sagte Luise, »obwohl wir weit später gingen, als ich dachte. Es kam ein Händler aus der Stadt, der mich aufhielt. Und Herrn von Rachau ist er auch nicht begegnet.«

»So wird er seine eigenen Wege gegangen sein. Laß ihn, Kind, es ist gut so, und«, er lächelte mit einem Ausdruck von Zufriedenheit, »er hat vielleicht einige Gründe, nicht hier zu sein«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wie habt ihr euch unterhalten?«

»Wir haben uns ganz herrlich unterhalten, Vater!« rief Toni. »Der Herr Rachau versteht die prächtigsten Spiele, auch Kränze kann er flechten, Kunststücke kann er machen, und du wirst staunen, wie gut er zeichnet und was für schöne Bilder er mit Luises Stickschere aus Papier geschnitten hat!«

»Er ist ein Tausendkünstler, der alles versteht«, lachte der Major, »wir wollen alle bei ihm in die Schule gehen.«

Während die Kleine plauderte, waren sie den Hügel hinaufgegangen, wo Rachau noch immer Blumen flocht und in seiner gewinnenden Weise den Major begrüßte. »Ich habe auf meinem Weg hierher den ganzen Wald geplündert«, sagte er lachend, »um unser Abschiedsfest zu einem Blumenfest zu machen.«

»Also munter«, rief Brand, indem er ihm die Hand schüttelte. »Gibt es nicht etwas zu trinken hier? Ich habe Durst mitgebracht!«

Er begrüßte auch Gottberg, der sich wie immer still und bescheiden im Hintergrund hielt, setzte sich dann auf die Bank, nahm seinen Hut ab und griff nach dem gefüllten Glas, das ihm gereicht wurde. Dabei erzählte er, daß er in der Mühle gewesen sei, daß der Müller ihm seine Not geklagt habe über die Beeinträchtigung, welche ihm durch das Wehr der neuen städtischen Mühle zugefügt werde, und daß er selbst bis dorthin gegangen sei, um sich von der Wahrheit zu überzeugen.

»Und hast du es so gefunden?« fragte Luise.

»Allerdings«, erwiderte er, »es ist widerrechtlich, und ich werde es nicht dulden, da ich auch nicht zu denen gehöre, die sich geduldig ausplündern lassen. Noch ein Glas Wein, Kind, es tut mir gut!«

Toni lief mit der Flasche herbei. »O weh!« rief das Kind, als ihm der Vater das Glas reichte, »was ist denn das? Das ist ja Blut! Wo kommt das Blut her?«

»Es kommt von meiner Hand«, sagte der Major, und indem er seine Finger betrachtete, setzte er hinzu: »Da ist ein kleiner Riß, ich habe mich an einem Dorn geritzt.«

»Sitzt er noch drin, Vater?«

»Nein, Kind, Dornen muß man ausreißen, damit sie nicht noch einmal stechen.«

Toni widmete sich wieder den Blumen und Kränzen, während sie mit Rachau die lustigsten Possen trieb, und ihre kindliche Freude war ansteckend genug, um eine geraume Zeit fröhlich vergehen zu lassen. Der Major war lange nicht so heiter gewesen. Seine mächtige Stimme schallte weit durch den Wald, aller Mißmut, der ihn bedrückt, schien verschwunden. Er sprach mit vieler Lebhaftigkeit, bald mit Rachau, bald mit dem Doktor, trank noch mehr als ein Glas dabei leer, was wenig mit seinen Gewohnheiten übereinstimmte, und schien zu vergessen, daß die Zeit verging und die Baumspitzen sich rot färbten.

Endlich mahnte Luise zum Aufbruch, weil der Abend schon fortgeschritten sei und weil, setzte sie hinzu, man doch den Vetter, der durchaus nicht kommen wolle, nicht länger einsam lassen könne.

»Richtig«, sagte Brand, »wir müssen nach ihm ausschauen, wenn er auch in seiner Einsamkeit gut aufgehoben ist. Alles muß ein Ende haben. Packt zusammen, Kinder, wir wollen nach Hause.«

Luise benutzte einen Augenblick, wo der Vater neben ihr stand, zu einer leisen Frage. »Wie war es?« flüsterte sie.

»Alles gut, mein Kind.«

»Du hast dich ihm erklärt?«

»Er wird dich nicht mehr belästigen.«

»Wie nahm er es auf?«

»Du sollst alles erfahren. Was es auch kosten mag, wir sind ihn los. Ich habe die Last abgeschüttelt, darum ist mir so wohl.« Er drückte ihr zärtlich die Hand.

Die anderen kamen herbei. Rachau nahm Luise das Körbchen fort, Toni stritt sich mit ihm darum und lief ihm nach, um ihn zu fangen. Ihr fröhliches Rufen und ihr Gelächter schallte durch den abendlichen Wald.

Der Major hatte seinen Arm in des Doktors Arm geschoben, an seiner anderen Seite ging Luise, so folgten sie den beiden nach.

»Der ist wie ein Hirsch auf seinen Beinen«, sagte Brand schmunzelnd, »mit dem kommen auch Sie nicht mit, Doktor!«

»Ich habe es noch nicht versucht«, erwiderte Gottberg.

»Wenn er fort sein wird, werden wir ihn vermissen. Er ist ein guter Gesellschafter.«

»Das bin ich nicht, und darum –«, der Doktor schwieg, und der Major sah ihn an.

»Nun, was darum? Was meinen Sie, Doktor?«

»Ich habe den Satz nicht richtig begonnen«, fuhr Gottberg fort. »Ich wollte sagen, daß, wenn ich auch kein guter Gesellschafter bin, ich dennoch hoffe, Ihrer Güte für mich niemals unwert gewesen zu sein.«

»Unwert, Doktor? Was sind das für steife Worte? Was soll das bedeuten?«

»Daß ich hoffe, wenn ich nicht mehr – wenn ich fort von Ihnen bin – Ihr Wohlwollen nicht zu verlieren.«

»Sie wollen uns doch nicht verlassen?« rief der Major.

»Ich glaube, daß es nötig ist«, antwortete Gottberg.

»Alle Donner! Wie kommen Sie darauf?«

»Sie haben mich so herzlich, so väterlich aufgenommen«, fuhr Gottberg fort.

»Und ist das etwa ein Grund für Sie zu gehen?« unterbrach ihn Brand.

»Käme es auf mich an, dann – dann wüßte ich nicht, wann dieser Tag anbrechen würde, allein –« Gottbergs Stimme wurde unsicher, er stockte. »Meine Überzeugung sagt mir«, fuhr er dann ruhiger fort, »daß ich meinem Lebensberuf folgen muß, an dem meine Zukunft hängt.«

»Sie haben also etwas Bestimmtes vor?« fragte der Major, nachdem er einige Minuten lang geschwiegen.

»Ich denke, in die Hauptstadt zurückzukehren und mich um eine Lehrstelle zu bewerben.«

»Dazu wird noch immer Zeit sein«, sagte Brand. »Ich glaube, daß Sie zu solchem Schulwesen nicht passen. Mein Sohn hat mir erst neulich darüber geschrieben. Gottberg, schreibt er, muß nicht in Schulstuben eingepfercht werden. Er muß an eine Universität, muß für die Wissenschaft wirken, aber behaltet ihn noch bei euch und laßt ihn nicht fort, bis die richtige Stellung für ihn gefunden ist.«

»Um diese Stellung handelt es sich eben«, erwiderte der Doktor.

»Gut. So werden Sie sie suchen. Aber bis sie gefunden ist, bleiben Sie bei uns.«

Sie gingen schweigend weiter. Dann sagte Gottberg mit entschlossener Stimme: »Das darf ich nicht annehmen.«

»Sie dürfen nicht?« fragte der Major. »Alle Wetter, warum dürfen Sie nicht? Sehnen Sie sich denn fort von uns? Ruft Sie etwa ein anderer Kreis von Menschen, die Ihnen näher stehen?«

»Sie wissen«, erwiderte Gottberg, »daß ich weder Eltern noch nahe Verwandte habe.«

»Dann sind es vielleicht Verhältnisse, die ich nicht kenne?«

»Ich bin von keinen Verhältnissen bedrängt, aber da ich kein Vermögen besitze, auch nichts, was mich unterstützte, Ansprüche zu erheben, oder was mich ermutigen könnte, dem Zufall zu vertrauen, so muß ich um so besonnener meine Lage bedenken.«

»Oho!« rief Brand, »ich verstehe. Sie wollen sich nicht in Gefahren begeben!« Er sah ihn mit wohlgefälligem Lachen an. »Was sagst du dazu, Luise?«

»Ein Mann muß wissen, wie er Gefahren behandelt.«

»Bravo, meine Tochter«, rief Brand, »er muß ihnen tapfer entgegengehen, so wird er sie besiegen. Heda, Doktor! man muß nicht davonlaufen!«

»Es kann Fälle geben«, antwortete Gottberg düster, »wo es ehrenhafter ist, davonzulaufen, als zu bleiben.«

»Nichts da!« rief der Major. »Sturm gelaufen, bis der Feind sich ergibt! Donner und Schlag! Ist denn keine Hilfe da? Wenn es wahr ist, was Sie sagen, Gottberg, wenn ich es wie ein Vater mit Ihnen meine, so müssen Sie auch Vertrauen haben.«

»Sie sehen mich überrascht«, erwiderte Gottberg, »es schien mir gerade in der letzten Zeit –« Er hielt inne und atmete tief. Dann richtete er seine Augen fest auf den Major und sagte bewegt: »Wenn es also ein Irrtum von mir ist – wenn ich sagen darf –«

»Vorwärts, Doktor, heraus mit der Sprache«, unterbrach ihn Brand, indem er ihm mit herzlicher Miene seine Hand reichte.

In diesem Augenblick jedoch durchdrang ein fürchterlicher Schrei den Wald.

»Was ist das? Das ist Toni! Wo ist sie? Toni!« riefen Luise und ihr Vater abwechselnd erschreckt, während der Doktor schon mit großen Schritten in die Richtung eilte, aus welcher der Schreckensruf gekommen war. Das gellende Schreien des Kindes kam von den buschigen Hügeln zur Rechten. Dorthin wandte sich Gottberg, und die anderen folgten ihm eiligst.

In diesem Augenblick kam ihnen Toni mit weit ausgestreckten Armen entgegen. »Vater! Vater!« schrie sie atemlos und bleich. »Schnell – schnell!«

»Wohin? Warum?« rief Brand.

»Er ist tot! Er liegt tot!« schrie das kleine Mädchen, das jetzt seinen Vater erreicht hatte und ihn angstvoll umklammerte.

»Wer?« fragte er entsetzt. »Rachau?«

Toni hatte sich schon aufgerafft und flog vor ihnen her. In wenigen Minuten erreichten sie alle den Schauplatz.

Es war eine kleine Einsenkung zwischen den Hügeln, umringt von hohen Waldbäumen. Ein schmaler Pfad lief quer darüber hin, der Rasen grünte üppig, von Wiesenblumen durchstickt, zwischen denen da und dort Buschwerk von wilden Rosen aufwucherte. An einem Strauch dicht bei dem Pfad lag eine menschliche Gestalt, lang ausgestreckt und unbeweglich, eine andere kniete an deren Seite und schien mit ihr beschäftigt. Sie hob den niedergebeugten Kopf auf, als sie die Stimmen hörte, und Brand erkannte sogleich, daß es Rachau war.

»Nun, Gott sei Dank!« rief er aus, » – aber was ist das?« »Sehen Sie selbst«, sagte Rachau, indem er aufstand und sich schmerzvoll abwandte.

»Heiliger Gott!« schrie der Major. »Wilkens!«

»Er ist tot«, sagte Rachau.

»Tot? Schafft Hilfe herbei! Ruft Menschen, Gottberg! Holt den Arzt aus der Stadt! Luise – schafft Leute!«

Luise sah aus, als habe sie nichts verstanden. Totenbleich wankte sie auf ihren Füßen. Plötzlich fiel sie ihrem Vater um den Hals und rief mit erstickter Stimme: »Es kann nicht sein! Es kann nicht so sein!«

»Eine Ohnmacht – vielleicht nur eine tiefe Ohnmacht!« stöhnte der Major.

Gottberg war neben dem Leichnam nochmals niedergekniet. Langsam zog er seine Hand zurück und stand auf. »Er ist kalt«, sagte er tonlos. »Das Leben muß ihn seit mehreren Stunden verlassen haben. Wo trennten Sie sich von ihm?«

»Keinen Büchsenschuß von hier, dort oben, wo die drei Schwarztannen stehen.«

»Dann ist er kurze Zeit darauf hier niedergefallen. Sein Tod muß augenblicklich erfolgt sein.«

»Sein Tod? Ist er denn tot?« rief der Major. »Das ist schrecklich!«

»Daran ist leider kaum noch zu zweifeln.«

»Und plötzlich – plötzlich, glauben Sie?« fragte Luise.

»Ohne Zweifel«, sagte jetzt Rachau. »Sehen Sie doch, er ist mit dem Kopf in die Dornen des Strauches gefallen.«

Das graubleiche Gesicht des Toten zeigte an mehreren Stellen blutige Spuren. Seine Augen standen weit offen, es war ein schrecklicher Anblick. Luise deckte krampfhaft schluchzend die Hände über ihr Gesicht.

»Ich habe es längst befürchtet«, sagte Rachau. »Er hatte alle Anlagen dazu, eines jähen Todes zu sterben. Wer ihn kannte, mußte zu solchen Gedanken kommen.«

»Ein Herzschlag, meinen Sie?« fragte Luise.

»Was kann es anderes sein? Bedenken Sie, wie aufgeregt er war, heute besonders, wo er viel Wein getrunken. Längst hatten die Ärzte ihm aufregende Getränke verboten, er war auch sonst ängstlich besorgt um seine Gesundheit, aß abends niemals mehr als eine Suppe, aus Furcht, es könnte ihm schaden. Hier hat er alle Vorsicht vergessen, und sein Schicksal hat ihn ereilt, wo er es am wenigsten erwartete.«

»Sie haben recht«, sagte der Major, »so muß es geschehen sein, so kann es nur geschehen sein!«

»Dieser Unglücksfall«, meinte Rachau, »wird allerdings vieles verändern.«

»Vor allen Dingen«, wandte Gottberg ein, »müssen wir ärztliche Hilfe herbeischaffen, wie wenig auch davon zu erwarten ist.«

»Recht«, fiel Brand ein, »es muß festgestellt werden, wodurch sein Tod erfolgte. Schließlich liegt er auf meinem Grund und Boden.«

»Und Sie sind sein nächster Verwandter«, schaltete sich Rachau ein.

»Wir müssen ihn nach Haus bringen, müssen alles tun, was die Umstände erfordern. Es hilft nichts, Luise«, wandte sich Brand an seine Tochter, »er ist hin. Ich habe manchen sterben sehen, der es nicht dachte, jung und lebensfrisch, und dieser hier, unser armer Vetter – es tut mir leid, daß es ihm so gehen muß – aber – aber –« Was der alte Soldat in seiner Aufrichtigkeit sagen wollte, blieb ihm in der Kehle stecken, und es war gut, daß in diesem Augenblick Toni wieder herbeirannte, der mehrere Leute folgten.

Das Kind hatte entschlossener gehandelt als alle anderen. Es war bis in den Garten des Gutes gelaufen und fand dort den Gärtner mit einigen anderen Männern, welche es mitbrachte. So war die erste Hilfe denn rascher bei der Hand, als man es dachte. Die Männer ergriffen den schweren Körper, hoben ihn auf und trugen ihn fort, wobei die Gewißheit sich befestigte, daß das Leben in ihm längst erloschen sei. Als der Trauerzug sich dem Hause näherte, kamen die Mägde und eine Menge anderer Leute, die sich dort gesammelt hatten, ihnen aufgeregt entgegen. Der Major schrie nach dem Wagen, um den Arzt zu holen, alle Hände regten sich jetzt, die etwas tun zu können meinten, und es wurden verschiedene Versuche gemacht, um mit Reiben und Bürsten und mit kräftigen Essenzen den erloschenen Lebensfunken anzufachen. Es blieb jedoch alles vergebens.

Der Arzt sah sofort, wie es stand. Er war am Tage zuvor erst im Hause gewesen, ließ sich den Fall erzählen, betastete den Toten an Hals, Leib und Kopf und sagte dann achselzuckend: »Als ich ihn gestern sah, den kurzen Hals, den dicken Kopf, die, die vorgedrängten Schultern, das bleiche dicke Gesicht, erkannte ich auf der Stelle die Gefahr, in welcher der gute Herr Wilkens sich befand, und wußte im voraus, welches Ende es mit ihm nehmen würde. Es saß jeden Tag seit langem schon der Tod an seiner Seite bei Tische. Ein gutes Diner, eine feurige Flasche Wein und dazu diese enge Halsbinde, das konnte nicht gut gehen.«

»Er hat allerdings heute mittag ziemlich viel getrunken«, sagte der Major.

»Und die Halsbinde trug er immer straff angezogen«, fügte Rachau hinzu.

»Nun, meine Herren, so dürfen Sie sich auch auf keinen Fall über dieses Unglück wundern. Ich bin überzeugt, Herr Wilkens könnte sich selbst nicht darüber verwundern, wenn es ihm möglich wäre.«

»Was ist es also gewesen?« fragte Brand.

»Nichts weiter als ein Gehirnschlag, ein ganz entschiedener Gehirnschlag. Sehen Sie hier die Blutspuren an der Nase. Die Zeichen sind unverkennbar. Es ist sehr betrübend, aber dagegen haben wir noch kein Mittel. Leider kommen viele solcher Fälle vor. Ich warne jeden Herrn mit dickem Hals, keine feste Halsbinde umzubinden! Merken Sie sich das, meine Herren! Jetzt bleibt nichts übrig, als ihn zu begraben; das ist ein Geschäft, das den Lebendigen immer zufällt. Es ist schlimm, aber es bleibt doch nichts weiter übrig, denn die Toten haben ein unfehlbares Mittel, die Lebendigen dazu zu nötigen, und dieser gute dicke Herr Wilkens wird nicht ermangeln, es recht bald anzuwenden.«

Niemand antwortete darauf. Der Arzt stieg wieder die Treppe hinab in die Wohnräume. Die Leiche des unglücklichen Vetters blieb auf dem Bett des düsteren gewölbten Zimmers liegen, das er so eifrig für sich ausgesucht hatte.

Unten warteten die anderen auf Nachricht, und der Arzt setzte ihnen auseinander, warum Wilkens notwendig sterben mußte, und da er sich mit Wein erfrischte und auf sein Befragen erfuhr, daß dieser von derselben Art sei, welcher dem Verewigten so gut gemundet, rief er mit dem Stolz seiner wissenschaftlichen Unfehlbarkeit: »Da haben wir's ja, dieser Rheinwein, dies Gift, dieser Sechsundvierziger mit seiner Glut kann ganz andere Adern sprengen! Das ist so gut, als hätte er den Vesuv im Leibe, wenn er eine Flasche davon ausleerte. Und dazu die enge Halsbinde! Es ist lächerlich, wenn man denkt, es hätte anders kommen können. Wenn ich dabei gewesen wäre, lebte er noch, denn ich hätte es nicht gelitten, und wenn ich selbst hätte die Flasche austrinken sollen!« Dabei schenkte sich der Arzt ein neues Glas ein, erzählte weiter von verschiedenen ähnlichen Fällen in seiner Praxis und hörte nicht eher auf, bis die Flasche leer war. Dann ging er mit allerlei Trostworten, sich in Unvermeidliches zu fügen, und versprach, den Totenschein gleich morgen auszustellen.

Das Ereignis, das so plötzlich und grauenvoll hereingebrochen war, hinterließ bei allen eine tiefe Beklemmung, und manche Umstände trugen dazu bei, die bedrückten Gemüter noch nachdenklicher und verschlossener zu machen.

Nachdem der Arzt das Haus verlassen, hatte sich Gottberg zurückgezogen; Luise traf verstört einige notwendige Anordnungen, wobei Toni, blaß und erregt, nicht von ihrer Seite wich.

Im Zimmer des Majors saßen sich Brand und Rachau eine Weile stumm gegenüber. Die Gedanken des Hausherrn kreisten ruhelos um seine Auseinandersetzung mit Wilkens bei ihrem gemeinsamen Gang durch den Wald. Konnte er Luise und den anderen mitteilen, welcher Art dieses Gespräch gewesen sei?

»So sind Sie also der letzte gewesen, der meinen teuren Freund lebend gesehen hat«, unterbrach jetzt Rachau das Schweigen, »wie bedauerlich, daß er sich von Ihnen trennte.«

Brand fühlte seinen Kopf plötzlich glühend heiß werden und warf einen scheuen Blick auf den Sprecher, der ihn aufmerksamer als sonst zu betrachten schien, wenngleich seine Miene die gewohnte freundliche Verbindlichkeit ausdrückte. Ein fürchterlicher Gedanke durchzuckte den Major. Er zwang sich zur Ruhe und wiederholte dann, daß Wilkens sich von ihm getrennt habe, weil er gefunden, daß der Weg doch für ihn zu anstrengend werde, und dies sei an den drei Schwarztannen geschehen. Dort habe er Abschied genommen, umgesehen habe er sich nicht, auch nicht den geringsten Laut oder Ruf gehört.

»Es ist also kein Zweifel«, erwiderte Rachau, »daß mein unglücklicher Freund keine Zeit behielt, einen Schrei auszustoßen. Bei allen seinen Eigenheiten wird er mir doch unvergeßlich bleiben, und ich werde sein Andenken bewahren. Wir werden und können ihn wohl alle nicht vergessen, so auch Sie, verehrter Herr von Brand, Ihnen stand er nahe, und seine Hoffnungen führten ihn hierher. Er achtete und schätzte Sie, ich hörte nie, daß er irgendeinen Menschen höher achtete.«

Unruhig rückte der alte Soldat auf seinem Stuhl, und seine Wahrheitsliebe konnte sich nicht enthalten, eine einschränkende Antwort zu geben. »Ich weiß nicht, ob Sie recht haben«, antwortete er, »ich habe wenigstens nicht viel davon gemerkt.«

»Brechen wir ab davon«, entgegnete Rachau sanft und höflich, »er hatte manche treffliche Eigenschaften, und Ihre Erinnerung an ihn wird um so nachhaltiger sein, da Sie jedenfalls der nächste Verwandte sind.«

Bei diesen bedeutungsvollen Worten stand Brand erregt auf und ging mit raschen Schritten durch das Zimmer. »Wollte Gott!« rief er aus, »ich hätte ihn nie gesehen und nie von ihm gehört! Ich würde niemals das Geringste begehrt haben. Und auch jetzt nicht! Auch jetzt nicht!«

Es entstand ein kurzes Schweigen, während der Major weiter auf und ab ging, dann sagte Rachau: »Sein Vermögen muß bedeutend sein.«

»Lassen wir das«, antwortete Brand ungestüm. »Geld! Das verfluchte Metall! Wohin bringt es die Menschen? Alle Schlechtigkeit steckt darin.«

Der Rest des Abends verlief stumm und ernst. Niemand wagte mehr den Gegenstand zu erörtern. Der Major hätte damit beginnen müssen, sein düsteres Schweigen verschloß den anderen die Lippen, und endlich entfernten sich alle, um sich ihrem Nachdenken und dem Vergessen bringenden Schlaf zu überlassen.

Zuletzt machte Toni noch einen Versuch, ihren bekümmerten Vater zu trösten. Sie setzte sich auf seine Knie, schlang beide Arme um ihn und sagte: »Du mußt es dir nicht so sehr zu Herzen nehmen. Es ist zwar schrecklich, daß er nun da oben in der Spukstube liegt, und ich habe es ihm wohl gesagt, daß er nicht dort wohnen sollte, weil es Unglück bringt, aber er hat mich ausgelacht. Aber, Vater, er war doch kein guter Mensch. Er sah oft so höhnisch aus, als hätte er recht etwas Böses im Sinn, und im Grunde kann ich mich nicht so sehr betrüben. Denn nun braucht ihn Luise ganz gewiß nicht zu heiraten, und er kann uns allen nichts mehr zuleide tun.«

Der Major ließ sie nicht enden. Er schob sie hastig von sich und sagte rauh: »Geh zu Bett und hüte deine kindliche Zunge vor solch albernen Worten! Fort mit dir!«

 


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