Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ausklang

Das verlorene Paradies

War der Traum zu Ende? oder spannen sich noch Fäden seines Gewebes in das Frührot der Wirklichkeit? Als ich zur Besinnung kam, als die unüberwindliche Täuschung des Ich-Gefühls mich wieder ergriff, erschien mir die Lage noch recht verwirrt, und ich war außer Stande, eine begreifliche Beziehung zur Umwelt herzustellen. Denn ich fühlte mich von den nämlichen Personen betreut, die mir noch kürzlich das Geleite gegeben hatten, und die ich gar nicht anders unterzubringen vermochte, als in der Vorzeit. Ich befand mich ausgestreckt auf einem Sofa, und um mich bemühten sich Aristipp und Lais, in Aussehen und Tracht nicht im geringsten unterschieden von den Figuren, die mir am Venustempel im auferstandenen Attika begegnet waren. Kein Zweifel, dieser war der Hedoniker aus Kyrene, jene die Hetäre aus Korinth, deren Romane in Ägina mich so stark beschäftigt hatten. Aber wie kamen die beiden in diese modern ausgestattete Räumlichkeit, die mir doch aus ganz anderem Zusammenhange bekannt war? Das war doch die Villa des Herrn Argelander, und dort auf dem Tisch lagen noch die Bücher, in denen wir, der Balte, seine Freundin Liane y Valla und ich an jenem Nachmittag zusammen geblättert hatten.

Ja, sie waren es wirklich, die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, mir zeitlich zugehörig und nur durch einen Zufall im Äußern verändert. In der soeben verflossenen Nacht – so erfuhr ich – hatte im Kasino der neuzyprischen Kolonie ein Kostümfest stattgefunden, eine stileinheitlich durchgeführte Belustigung, deren Teilnehmer programmgemäß zum Anlegen antiker Gewandung verpflichtet waren. Erst vor einer halben Stunde hatten die beiden als Aristipp und Lais Verkleideten das Kostümfest verlassen, abgerufen durch eine Meldung aus der Villa, wonach in dieser ein erschöpfter Mensch, angeblich ein Freund des Hausherrn, eingeliefert worden war.

– Nun werden Sie den Zusammenhang bald begreifen, erklärte Herr Argelander; – Sie sind wirklich in dem Euphorbien-Wäldchen gewesen, vor dessen Betreten ich Sie schon auf dem Dampfer Velox warnte. Ich sagte Ihnen damals, wer sich nicht an die örtlichen Luftbedingungen akklimatisiert hat, kann dort mit seinen Nerven argen Schaden erleiden. Und für Sie wäre die Sache sehr schlimm ausgegangen, wenn nicht ein mir befreundeter Stadtarzt, der Doktor Anthes, heut in aller Herrgottsfrühe einen Spaziergang quer durchs Gehölz unternommen hätte. Der fand Sie im Moose liegend, diagnostizierte augenblicklich Ihren Zustand, holte eiligst Traghilfe herbei und veranlaßte das Weitere . . .

»Aber weshalb schaffte er mich gerade hierher zu Ihnen?«

– Sehr erklärlich. Er besitzt ein gutes Physiognomiengedächtnis, und besann sich darauf, daß er uns beide auf der Promenade vor der Akademie in freundschaftlichem Gespräch gesehen hat. Vorhin im Dunstpark erkannte er Sie wieder, und da Sie im Rock keinerlei Ausweis bei sich führten, so beschloß er ganz zweckmäßig, Sie vorläufig bei mir abzuladen. Andernfalls nämlich hätte er Sie im städtischen Hospital einliefern müssen, wo Sie es, wie er richtig taxierte, nicht entfernt so behaglich gehabt hätten.

»Er hielt mich natürlich für ernsthaft erkrankt?«

– Keineswegs. Als er uns vor einer halben Stunde verließ, erklärte er sogar jede ärztliche Behandlung für ganz überflüssig; Sie würden noch heute vormittag frisch und wohlauf sein und das ganze nächtliche Abenteuer vergessen haben.

»Nächtliche Abenteuer? das ist doch wohl nicht der richtige Ausdruck. Nach alledem, was ich erlebt habe – – ich wage kaum, mich zu erkundigen, wie lange ich fort war. Sicherlich doch Wochen oder Monate.«

Liane lächelte: Aber was fällt Ihnen ein! Glauben Sie denn, man hätte Sie so lange vermißt, ohne nach Ihnen zu forschen? Gestern mittag spazierten Sie doch noch mit Lothar vor der Akademie, wo Sie beide dem Doktor Anthes begegneten!

»Ich werde Sie sofort widerlegen, Fräulein Liane; ich besinne mich jetzt nämlich auf diese Promenade und weiß, daß wir vom Herbstanfang sprachen, der auf diesen Tag fiel. Das war also am zweiundzwanzigsten September . . .«

Argelander ergänzte: stimmt vollkommen, und heute schreiben wir den dreiundzwanzigsten, was Sie mir aufs Wort glauben mögen – sonst, wenn Sie wollen, können Sie auch an jede beliebige Behörde telephonieren, die Ihnen das bestätigen wird. Nur noch eine Frage: um welche Tageszeit wohl gingen Sie in den Wald?

»Soweit mir erinnerlich, kurz vor Sonnenuntergang.«

– Dann haben wir also klare Rechnung: Ihre Abwesenheit hat alles in allem knapp zwölf Stunden gewährt. Aber ich vermute, Sie haben in der fatalen Atmosphäre des Parkes intensiv geträumt und unterliegen nachträglich einer Täuschung, wenn Sie nach der eingebildeten Länge des Traumes die wirkliche Zeit abschätzen. Die Hauptsache ist, daß Sie bereits den Eindruck eines ganz Erholten machen, deshalb beantrage ich, die Vollendung Ihrer Rekonvaleszenz nunmehr an unsern Frühstückstisch zu verlegen; und wenn es Sie nicht ermüdet, erzählen Sie uns dabei ein bißchen von Ihrer Träumerei, vorausgesetzt, daß Sie wirklich derlei Visionen hatten und daß Ihnen einiges in der Erinnerung verblieben ist.

Und ich begann zu erzählen, zuerst sehr fragmentarisch, allmählich zusammenhängender, und aus einzelnen Zügen wob sich das Bild, das freilich an diesem Tag des ersten Berichtes noch nicht bis zum zwanzigsten Teil des Erlebten reichte. Welche Situation! da saßen Menschen, in Figur, Haltung und Gewand wie lebende Illustrationen zu Athenäus und Plutarch, zwei Personen, die den Begebenheiten Form, Inhalt, Farbe, ja den Wortklang gegeben hatten, und ließen sich von mir erzählen, was sie doch eigentlich zum großen Teile mir mitgeteilt hatten! und waren trotzdem aufmerksame Zuhörer, mit gewissen Anzeichen gespannten Interesses, wenn auch nicht eigentlicher Überraschung. Und wenn ich eine Pause machte, war mir zumute, als könnten Liane und Argelander aus eigener Sachkunde die von mir vorgetragenen Ereignisse ergänzen. Der bürgerliche Kalender war richtig wiederhergestellt, aber Zeitflocken der Vorzeit wirbelten immer noch in die Gegenwart, und in unseren Seelen wirkte eine Gemeinsamkeit, die tief zurücktauchte in eine längst verflossene Existenz.

* * *

Als ich des Tempelwunders gedachte, griff die Täuschung noch einmal mit ganzer Kraft in mein Vorstellungsfeld. Wird da draußen in wüstem Schutt und Geröll immer noch geschaufelt und gegraben? Nein, das war nicht möglich. Zu klar stand der vollendete Prachtbau vor mir, als daß ich von dem Glauben an seine Wirklichkeit losgekonnt hatte. Und es bedurfte des Augenscheins, um meine hartnäckige Halluzination endgültig aus der Welt zu schaffen.

Wir wanderten auf die weite Arbeitsstätte und sahen nun allerdings die Mannschaften des Professors Borretius in unverminderter Tätigkeit. Nichts hatte sich geändert. Da streckten sich die unschönen Moränengebilde wie zuvor, die kleinen Schuttwagen wurden noch immer geschoben in einer wirren Trümmerwelt. Wo hatte die Göttin gestanden, die in Marmor Lebendige, deren Gnadenwink mir ein Reich erschloß? Der Ort nach geometrischer Lage war festzustellen – hier mußte ich die Apsis gesehen haben, hier den Altar, hier den Sockel, auf dem mir die steinerne Aphrodite mit dem Blütenstab das Zeichen gegeben hatte. Und ich wußte genau die Stelle herauszufinden, auf die sie damals deutete, die Stelle an der tatsächlich freigelegten Ostmauer, die als sechs Meter hohe Ruine aus dem zerwühlten Erdreich herauswitterte.

Ich wandte mich an Borretius und bat ihn um Auskunft: ob denn dieser Punkt des Gemäuers auch wirklich schon ganz genau erforscht sei, ob daran nicht etwas Besonderes, Auffälliges zum Vorschein gekommen wäre. Ich setzte ihm den Grund meiner Vermutung auseinander, berief mich auf mein Phantom, das zwar objektiv eine Beweiskraft nicht beanspruchen könne, aber für mich persönlich in Gültigkeit bliebe.

Der Professor nahm meinen Eifer nicht ernst. Es hätte gar keinen Sinn, da etwas Besonderes aufspüren zu wollen. Denn daß man da etwa einige verwitterte Buchstaben herauslesen könnte, das hätte nicht die geringste Bedeutung. Nicht einmal der Ansatz zu einer entzifferbaren Inschrift träte zutage.

»Aber immerhin doch Buchstaben,« opponierte ich. »Sie müssen mir schon erlauben, mich daran zu klammern. Über den Mauerpunkt selbst besteht für mich gar kein Zweifel, den habe ich mir nach dem Hinweis meiner Traumgestalt ganz bestimmt gemerkt. Also hier. Zwei Buchstaben sind doch ohne weiteres zu erkennen, ein Epsilon und ein Iota . . .«

– Wenn Sie in der Epigraphik Bescheid wüßten – was ja nicht zu verlangen – so würden Sie sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Diese zwei Buchstaben »Ει« sind auf griechischen Tempelwänden keine Seltenheit, schon Plutarch erwähnt sie; sie sind irgend eine priesterliche Abbreviatur, deren Sinn verloren gegangen ist, und an deren Aufklärung auch nichts liegt. Es wäre die pure Zeitverschwendung, sich bei dieser Bagatelle aufzuhalten.

Aber ich ließ nicht locker. Da ich beim Professor nichts ausrichtete, fing ich an, seinen Famulus, meinen alten Xaver Gregory zu bearbeiten. Und bei dem kam ich ein ganz klein wenig weiter.

– Es wäre möglich, sagte Xaver, daß hier vormals noch ein dritter Buchstabe gemeißelt war. Er ist fast gänzlich verloschen, unkenntlich, allein wenn er jemals vorhanden war, so könnte er, nach dieser fast unmerklichen Spur zu urteilen, ein Sigma gewesen sein. Aber wozu uns das verhelfen soll? nicht abzusehen!

»Nehmen wir an, Gregory, dieser dritte Buchstabe wäre erwiesen. Dann hätten wir nicht mehr die unauflösliche Silbe Ει, sondern das etwas aussichtsreichere Εισ, das doch vielleicht irgendeine Deutung zuläßt. Denn diese Silbe ist doch als Praefix denkbar zu einem längeren Wort, will mal sagen zu Εισοδος, was doch soviel als »Eingang« bedeutet.

Gregory stutzte: Weißt du noch genau, Alex, welche Bewegung deine Traumvenus mit ihrem Stab gemacht hat? ganz genau? Zeige mir das doch einmal mit deinem Spazierstock! Konzentriere deine Erinnerung, wie du nur kannst, und male das Zeichen in die Luft.

Ich war meiner Sache ganz sicher und gab ihm das Luftzeichen, wie es mir gegenwärtig war. Und in diesem Moment, als ich selbst nachahmend den Schwung ausführte, riefen wir beide unisono: »ein griechisches Theta!«

Also sie hatte damals ein »ϑ« mit dem Blütenstab gemalt. Damit fangen freilich tausende von Wörtern an, und wir hatten eine Auswahl von verwirrender Fülle. Das konnte ϑεα bedeuten, die Göttin, oder ϑαυμα, das Wunder, oder – – – und wieder vereinigte sich unser Ausruf auf die nämliche Sekunde: Thesauros – der Schatz!!

Jetzt zeigte das Buchstabenrätsel ein anderes Gesicht. Ein Schleier hob sich. Und soviel andere es noch verhüllten, die bloße, flatternde Vermutung, hier könnte eine Wortverbindung von »Eingang« – »Schatz« im Bereich der Denkbarkeit liegen, zwang uns in die Linie einer Hoffnung. Ein begreiflicher Optimismus flog den Tatsachen vorauf. Warum sollte nicht ein Tempelschatz vorhanden sein? Und wenn, warum sollte er nicht gerade an dieser Stelle verborgen liegen? In der Vermutung kristallisierte schon die Gewißheit. So innig verflocht sich das Traumhafte mit der vor Augen liegenden inschriftlichen Wirklichkeit, daß der Zweifel zum Einschlupf keine Masche mehr offen fand.

Aber Borretius blieb unbewegt. Was man denn eigentlich von ihm verlange! Auf ein ganz haltloses Indizium hin solle er diese Tempelmauer aufbrechen lassen? er wäre froh, daß er dieses Baufragment glücklich freigelegt habe, so eine Schändung wäre ihm nicht zuzumuten, nicht einen Schlag einer Spitzhacke würde er da gestatten oder gar anordnen. Wir beide, Gregory und ich, von Argelander und Liane unterstützt, erschöpften unsere Beredsamkeit gegen den Gelehrten, der sich so fest erwies, wie die Mauer in ihrer ungeheuerlichen Dicke. Zufällig war sein oberster Auftraggeber Kyprides in der Nähe, der sich Gründe und Gegengründe vortragen ließ und schließlich den Weg zu einem Kompromiß bahnte. Es wurde beschlossen, das Gemäuer von außen her akustisch zu untersuchen.

Mit dem einfachen Abklopfen war natürlich nichts getan. Diese Schälle wären dumpf und ergebnislos geblieben. Aber man besitzt heute resonatorische Apparate von ungeheurer Feinheit, mit denen man tatsächlich ins versteckteste Gefüge hineinhorchen kann. Ein Physiker der Akademie übernahm die Auskultation mit derartigen Instrumenten und gelangte schon beim ersten Versuch zu der Ansage, daß hier genau an der fraglichen Stelle eine akustische Auffälligkeit hervortrat. Hier mußte sich im Innern der immensen Quadern eine Höhlung befinden.

Gregory genoß bereits die Vorfreude eines Triumphes. Ihm ging es nicht um das Auffinden alter Reichtümer, von denen ihm doch keine Drachme, keine Obole zufallen konnte; nein, er wollte jetzt einmal Recht behalten gegen seinen Chef, nachdem er mit seiner anfänglichen Behauptung, hier müsse ein Minerva-Tempel zum Vorschein kommen, ins Unrecht geraten war. Denn in diesem Moment stand für ihn nichts so fest, als der Glaube, daß man sich zwischen den Trümmern eines Venustempels befände.

Schweren Herzens verstand sich Borretius zur Öffnung der kritischen Stelle an der Mauerfläche. Mit unsäglicher Vorsicht wurde hier von den geschicktesten Handwerkern angebohrt, hineingemeißelt, gelockert, und bald hatte Freund Gregory Anlaß an Herodot zu erinnern, der von dem beweglichen Stein der Schatzkammer des Ägypterkönigs Rhampsinit erzählt. Es gelang, eine Steinplatte abzuheben, und hinter dieser stieß man auf einen drehbaren Quader, dessen metallne Achse allem Jahrhundert-Rost zum Trotz wieder in Funktion gesetzt werden konnte. Nach vollzogener Drehung zeigte sich ein Hohlraum, der in ganzer Ausdehnung einen dünnen Kupferbeschlag aufwies und bis zu einem Viertel seiner Höhe mit Gold und Juwelen gefüllt war. Der Tempelschatz der Aphrodite, der ohne jene gewagte Epigraphik niemals entdeckt worden wäre.

Der Stadtkämmerer der Gemeinde Neu-Limisso nahm die Kostbarkeiten in vorläufige Verwahrung, äußerte indes sofort, daß es gar nicht so einfach sein würde, die Eigentumsbefugnisse korrekt abzugrenzen. Auf ersten juristischen Anhieb wäre allerdings zu erklären, der Schatz gehöre dem Fiskus als dem Eigentümer des Bodens. Es gäbe indes auch Paragraphen, die von einem Recht des ersten Entdeckers sprächen, und schließlich kämen noch die ortsgültigen Satzungen über Finderlohn in Betracht.

Ich durchschnitt diese Erwägungen mit der bestimmten Gegenerklärung, daß von Finderrechten gar keine Rede sein könnte, wenigstens soweit ich dabei etwa in Frage käme. Man dürfe keinen Findungsanspruch erheben, wo niemand etwas verloren hat, und mir genüge das Bewußtsein, eine wertvolle Spur geahnt zu haben; es genüge mir um so mehr, als ich mich noch unlängst in der Schuld fühlte, und ich wolle äußersten Falles mich von dieser Schuld nunmehr entlastet erachten.

Kyprides als eine der maßgebenden Persönlichkeiten trat auf mich zu und sagte: »Sehr schön, aber höchst unpraktisch. Sie sind imstande, Spuren zu ahnen und zu verfolgen, aber von der Verfolgung Ihres Vorteils haben Sie nicht die leiseste Ahnung.«

Der Abschied von Argelander und seiner Freundin fiel mir nicht leicht. Ich möchte mich von der banalen Redensart freihalten, ich hätte sie liebgewonnen. Wenn man über das Alter der raschen und unbedenklichen Freundschaftsschließung hinaus ist, findet man in sich nicht mehr die seelische Substanz, die nötig wäre, um solches Wort zu rechtfertigen. Unsere Beziehung, das spürte ich wohl, hielt sich in der angenehm lauwarmen Temperierung, die ihrem Charakter und ihrer Lebensart zukam. Aber wenn wir auch gegenseitig die Ausbrüche der Herzlichkeit weder erwarteten noch leisteten, so hatten sich doch geistige Fäden zwischen uns gesponnen, die über den Tag hinausreichten in ein Dämmerland zeitlicher Ferne. Und als ich, zur Abreise bereit, ihnen am Schiffskai die Hand drückte, waren sie mir die Vertreter eines Reiches, das sich mir phantastisch mit jenseitigen Menschen bevölkert hatte; mit Figuren, die man sonst nur als blasse Schatten in verstaubten Büchern antrifft, die ich aber leibhaftig und eindrucksvoll in lebendiger Gegenwart erfühlen konnte.

* * *

Es gehört zur Eigentümlichkeit abseitiger Erlebnisse, daß sie sich mit ihren inneren Eindrücken erst auswirken müssen. Sie scheinen sich in erster Folgezeit leicht verdrängen zu lassen und geben das Wahrnehmungsfeld frei für das augenblicklich Nächstliegende. Aber sie warten ihre Zeit ab und erspähen jede Lücke, um aus ihr aufzutauchen und das Bewußtsein wiederum vollkommen auszufüllen.

Während der Schiffsfahrt gab es keine derartige Lücke. Ich machte eine Menge neuer flüchtiger Bekanntschaften mit gleichgiltigen Personen, die mir nichts zu sagen hatten und deshalb außerordentlich gesprächig waren; und ich habe dem Plauderzwang gegenüber niemals viel Widerstandskraft besessen. Hier weniger denn je, denn ich empfand das inhaltslose Gerede wie eine Erholung nach manchen anstrengenden Denkprozessen. Der sogenannte Gedankenaustausch mit Herrn und Frau Jedermann gewährt immer eine gewisse Beruhigung, denn man stellt sich schnell genug auf die Geisteshöhe des anderen und braucht nicht zu besorgen, bei diesem Austausch ein schlechtes Geschäft zu machen. Schließlich war ja das Ganze für mich ursprünglich als Feriensache gedacht, und zur Wohltat der Ferien gehört das Gefühl einer leise beginnenden Verblödung. Man spürt im Gehirn den erfreulichen Übergang von der Dynamik zum statischen Gleichgewicht, zu einem Ideal der Ideenlosigkeit. Und dieses auf glattem Seespiegel hinstreichende Schiff mit seiner prätendierten Wichtigkeit törichter Zerstreuungen, mit seinen zwecklos gedehnten Tafelgenüssen, um die eine leere Konversation kreiste, war allerdings geeignet, jenen Inselstumpfsinn zu erzeugen, dessen hygienischer Wert von vielen Ärzten gerühmt wird.

Der Herbst hatte frostig, fast mit winterlichen Anflügen eingesetzt. In den kurzen Unterbrechungen meiner Bahnfahrt ab Brindisi wurde mir der Kontrast sehr fühlbar. Immer lichter, freundlicher spiegelte meine Erinnerung das entschwundene Bild von Neu-Amathus. Rom und Florenz erschien mir schon nordisch, der Südabhang der Alpen beinahe sibirisch. Und auf Minuten überschlich mich die beklemmende Frage: warum so schnell zurück? Freilich, es waren berufliche Arbeiten und Verpflichtungen, die mich heimwärts riefen, und ich versuchte mir auch ein gewisses Heimweh einzureden. Aber es mehrten sich die Augenblicke, in denen das Heimweh genau nach der entgegengesetzten Richtung wies, als Sehnsucht nach dem attischen Venuspark, der ein Phantom war, aber doch irgendwie mit der Gegenständlichkeit der zyprischen Landschaft zusammenhing.

Während der nächtlichen Gotthardfahrt war ich allein in einem Zugabteil; im Halbkupee, seit jeher für mich der einladendste Platz für das schöne Gefühl des Schlummerns in wahrgenommener Bewegung. Auf der Skala dieser Gelegenheiten steht mir zu unterst der bahnamtlich so bezeichnete Schlafwagen, der nach meiner Taxe nichts anderes ist als ein kategorisches Schlafverbot auf Rädern. Denn hier liegt das Bett transversal zur Fahrtrichtung, und diese Querstellung bewirkt im natürlichen Koordinatensystem des Menschen eine Zwangsdrehung, die den meisten nur deshalb nicht zum Bewußtsein kommt, weil ihnen das Organ für die Komponenten im Raume fehlt. Dagegen bietet die geschweifte Ecklehne bei Vorwärtsfahrt eine Möglichkeit höherer Ordnung, die sich sonst überhaupt nirgends wiederholt: und nur der ersessene Schlaf hat Wert, als der einzige, bei dem man weiß, daß man schläft und jede Schlafminute als eine besondere Köstlichkeit wahrnimmt. In ihm kommt der Eisenbahnrhythmus zur Geltung, die von Stahlinstrumenten vorgetragene Berceuse, das klingende Perpetuum mobile, dessen Magie die Aufmerksamkeit fesselt, ohne daß die Trägheit in ihren Rechten verkürzt wird. Solch ein Schlaf ist ein Organismus für sich, er besitzt Fühlfäden und Poren. Er verkriecht sich nicht dumpf abgeschlossen in sich selbst, verschnarcht sich nicht zu stupider Bewußtlosigkeit, nimmt vielmehr den Raum in sich auf und die vorbeifliegende Landschaft, die Grüße weißer Bergzinnen, die wallenden Nebelfäden über morgenduftenden Wiesen. Ein Zwischenzustand, der von der Derbheit des Wachens ablöst, die somnolente Entspannung bringt, dabei aber das Denken über der Schwelle der Verwirrung erhält.

Ich saß behaglich in meiner Ecke gelehnt und ließ die Kilometer durch mich hindurchströmen. Wußte trotz leiser Traumbewölkung: da draußen ist jetzt Como. Ein physikalischer Ort. Hier ist doch Galvani geboren – nein, nicht der Galvani, ein viel größerer, aber doch ein galvanischer – der Alexander Volta, der hat ja am Comer See sein Standbild. Mitbegründer der Elektrizitätslehre. Funken, Licht, Lichtstrahl als Zeitmesser. Was war mir denn kürzlich mit der Zeit passiert? Richtig, die hatte sich umgekehrt. Nur subjektiv, natürlich, objektiv ist das nicht möglich. Aber wie kann man eine Unmöglichkeit erleben? Und ich hatte sie doch erlebt, ja, mit welcher Deutlichkeit! Alles wogte wieder herauf, in den Wellenkämmen der Erinnerung begrenzten sich klare Umrisse, da waren die Symposien wieder mit Lais, Aristarch, Demokrit, Lukian, Aristoteles, Aspasia – da war ich doch dabei gewesen, und wenn mir einer mit dem Schlagwort Traumlüge dazwischen fährt, so will ich ihm sagen: Relativiere dich erst, Freund, und untersuche, ob du nicht in einer Welt der Wachlüge lebst.

Absolute Zeit – absoluter Raum – das waren doch noch unlängst äquivalente Begriffe. Aber der Raum hat sich doch schon umgekehrt, und die Zeit wird ihm folgen, wenn's auch ein bißchen schwer zu begreifen ist.

Wie ist denn das mit dem gebogenen Raum? Schade, daß Euklid nicht in der Gesellschaft bei der Lais war, der hätte sich vielleicht verwundert vor den neumodischen Anschauungen. Aber die neue Physik ist stärker als die durch Jahrtausende geübte Logik, und die Welt, die solange Euklidisch war, hat sich in eine Nicht-Euklidische verwandelt. Der Raum des Universums besitzt keine gerade Erstreckung, sondern ist gekrümmt; und die Zeit wird es auch werden. Dann braucht man ein Zurücktauchen wie das meinige in eine verstorbene Vorzeit nicht mehr als Mirakel aufzufassen.

Da draußen auf der Gotthard-Linie liegt jetzt Lugano, und nachher wird wohl Bellinzona fällig. Warum verfährt die Eisenbahn mit ihrem Geleise zwischen beiden Punkten nicht geradlinig? warum beschreibt sie Kurven? Weil die Gerade bahntechnisch unmöglich wäre. Aber der Weltraum besitzt auch eine Technik und vereinfacht sich den Betrieb zwischen gewissen Punkten durch Kurven. Er ist inhaltlich wie der Gotthard in Fläche, die gerade Linie will nicht in seine Struktur.

Das würde man merken, wenn man direkt ins Universum hinausreisen könnte, vom Sonnensystem fort ins Blaue hinein, auf ganz gerader Strecke, nach Ingenieur-Taxe. Da müßte man sich doch immer mehr von der Sonne entfernen, und um so weiter, je stärker das Fahrttempo. Aber das Betriebsreglement im Universum bestimmt es anders. Nach hundert Millionen Jahren – bei Reise mit Lichtgeschwindigkeit – kommt einem die Gegend wieder ganz bekannt vor. Man landet bei irgendeinem wohnlichen Punkt im Sonnensystem, man ist zum Ausgang zurückgekehrt, obschon man sich vermeintlich dauernd davon entfernte.

Wie nun, wenn die Zeit ähnlich organisiert wäre? gekrümmt? das ist doch noch eher vorstellbar, da die Zeit nur eine einzige Dimension besitzt, in linearer Erstreckung, die sich einer Biegung vielleicht besser anpaßt, als die komplizierten drei Dimensionen des Raumes. Dann aber fiele der weiteste Zukunftspunkt mit dem entlegensten Vergangenheitspunkt zusammen, der Zeitring schlösse sich, und die ewige Wiederkunft aller Geschehnisse wäre eine natürliche Tatsache. Und nicht bloß ein Zufallsreisender wie ich einer war, nein, die ganze Welt würde wiedererleben, was ihr schon vor Äonen beschieden war.

Nur daß sich doch im Traum so ein Abenteuer weit rascher und bequemer abwickelt. Und wer vermöchte zu sagen, ob nicht im Doppelleben des Menschen der Traum die wichtigere Phase darstellt? denn er gehört als Lebensanteil ganz dem Einzelnen, ist sein volles, unbegrenztes Eigentum, während ihm im wachen Dasein nur der winzige Bruchteil zukommt, den ihm die Millionenhorde der Menschheit übrig läßt.

Zwischen Bellinzona und Göschenen redete mich Einer an. Er war vom Korridor her in mein Kupee gekommen und fragte, ob er sich hier ein wenig ausruhen dürfe, da er vom vielen Umherfliegen ermüdet sei. Eine merkwürdige Erscheinung, äußerst elastisch in Bewegungen, mit dem Teint und den blitzenden Augen eines Jünglings, aber mit wehendem eisgrauen Bart, so wie in Marmorwerken Chronos abgebildet wird. Ja, er trug auch weiße Flügel, die er zusammenklappte, als er sich niedersetzte.

Ihre Müdigkeit, sagte ich, ist mir erklärlich. Sie sind doch der Herr Lumen, der geborene Flammarion, der sonst mit Überlichtgeschwindigkeit durch den Weltraum fliegt. Aber Sie wissen doch, daß Sie gar keine reale Existenz besitzen, seit Ihnen die neueste Physik den Garaus gemacht hat. Die Lichtgeschwindigkeit ist bekanntlich das Maximum, und eine Steigerung darüber hinaus mathematisch unmöglich.

– Und das glauben Sie? wo Sie doch selbst und jeder Sterbliche die Fähigkeit besitzen, Lumen oder Über-Lumen zu werden? Meine Flüge zeigen mir die Geschehnisse in umgekehrter Zeitfolge, durch einfache Überwindung der landläufigen Optik, und wenn irgendwer träumt, wachträumt, dichtet, sich über die Starre des bürgerlichen Daseins aufschwingt, so wiederholt er nur meinen Prozeß des Betrachtens und Erlebens.

»Aber die Physik, Herr Lumen . . .«

– . . . ist eben dabei, umzulernen und mir alle Daseinsrechte wiederzugeben. Heute schon rüttelt sie an den Grundpfeilern der Kausalität! Heute schon gelten wuchtige physikalische Stimmen, die über dem Kausalgesetz das gesetzlose Etwas verkünden, worin Ursache und Wirkung, Grund und Folge aufhören, die letzten Bestimmungen zu sein. Und diese Stimmen stehen in bestem Einklang zu den Wundern der Einsicht, die sich im Unterbewußtsein des Menschen aufhalten, bis wohin die Sklaverei der Kausalität überhaupt noch nie gedrungen ist. Sehen Sie doch einmal hinaus, Herr. Eben sind wir im Kanton Uri und fahren durch Altdorf, wo einstmals Wilhelm Tell den Apfel vom Haupte des Knaben schoß. Jedes Kind lernt in der Schule, daß dieser Schuß nichts anderes ist, als das phantastische Überbleibsel einer Wandersage, die über Dänemark, Island, Norwegen streifte, um sich hier poetisch zu verstärken und im Bronzestandbild Gestalt zu gewinnen. Aber dieser Bronze-Tell ist viel lebendiger und wirklicher, als der ganze Marktflecken Altdorf mit seinen umherwimmelnden Bewohnern. Der müßte schon eine ganz vertrocknete Seele haben, der sich beim Anschauen der Figur nicht gänzlich außerhalb der Kausalität stellt; denn diese führt von dem Grunde der Fabel, der Unwirklichkeit, zu der logischen Folge, daß dieses Bild lügt. Es spricht aber zu jedem sinnigen Beschauer mit einer Wahrheit, die stärker auftritt, als die verschwommenen Realitäten der Umwelt.

»Es wäre doch möglich, daß diese Legende eine sachliche Begründung hätte. Vielleicht wird das durch spätere Forschung einmal ermittelt. Könnte man hier um sechshundert Jahre zurückfliegen, so würde man vielleicht einem wirklichen Tell mit wirklichem Apfelschuß begegnen.«

– Ich werde das sofort konstatieren, sagte Herr Lumen. Ich brauche bloß in dieser Richtung – er wies nach dem Sternbild der Kassiopeia – mit zehnmilliardenfacher Lichtgeschwindigkeit davonzufliegen, so sehe ich in einer Minute und zwanzig Sekunden die Erde, wie sie vor sechshundert Jahren war. Und wenn der Tell damals wirklich geschossen hat, so kann er mir nicht entgehen. Finde ich ihn durch optischen Wahrheitsbeweis, so melde ich mich bald zurück und erstatte Ihnen Bericht. Bleibe ich fort, so dürfen Sie getrost annehmen, ich habe nichts gefunden, und dann bleibt es wieder bei der Legende, die keine historische Substanz zu haben braucht, um als Wahrheit zu wirken. Und er stand auf; klappte seine riesigen Fittiche auseinander, flog durchs Wagenfenster und blieb verschwunden. – – –

Hat man Luzern im Rücken, dann beginnt eine philosophische Bahnstrecke: Basel – Freiburg – Heidelberg – Frankfurt – Weimar, in jeder dieser Städte waren bedeutende Denker beheimatet. Der Wagen machte einen seltsamen, fahrplanwidrigen Umweg, hielt nicht im Bahnhof von Basel, sondern an einer Kirchhofsmauer, die den Totentanz zeigte. Befand sich nicht Erasmus unter diesen Figuren? das konnte ich in meinem Dämmerzustand nicht genau feststellen. Aber eine andere löste sich los und kam auf kurze Zeit in mein Kupee. Der Baseler Professor Friedrich Nietzsche. Wie ich eben merke, sagte er, bin ich hier falsch eingestiegen; wie man immer falsch einsteigt, wenn man in ein Fahrzeug gerät, das nach Norden will. Die Nordrichtung ist der Tod mit ihrer infamen Wirklichkeit.

»An dieser Fatalität, Herr Nietzsche, können Sie vorläufig nichts ändern. Also fahren Sie schon mit bis Frankfurt und besuchen Sie dort Ihren Halbbruder Schopenhauer. Mit dem werden Sie sich vortrefflich unterhalten.«

– Mit dem Nordländer? Nein; auf der nächsten Station kehre ich um, und dann nach dem Süden, nach meiner Landschaft, so fern vom vulgären Leben, so metaphysisch!

»Ach Herr Professor Zarathustra, da komme ich ja eben her, aus Zypern, und ich schlürfe noch die letzten Tropfen solchen metaphysischen Aufenthalts. Aber der Nektarkelch wird einem fortgezogen, und man muß sich wieder an den Maßkrug mit solidem Heimatsbräu gewöhnen.«

– Sie werden das nicht lange aushalten, und Ihr Vorsatz wird vor der Empfindung kapitulieren. Ob Amathus oder Portofino, das macht kaum einen Unterschied. Wissen Sie, wie mir dort zumute war?

»Ich glaube es zu wissen, höre es aber gerne in Wiederholung.«

– Und ich benütze ebensogern jeden Anlaß, um jene Seelensituation wieder heraufzubeschwören: »Wie wundervoll und neu und zugleich wie schauerlich und ironisch fühlte ich mich dort zum gesamten Dasein gestellt! Ich entdeckte für mich, daß die alte Mensch- und Tierheit, ja die gesamte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthaßt, fortschließt – ich bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewußtsein, daß ich eben träume und daß ich weiterträumen muß, um nicht zugrunde zu gehen; wie der Nachtwandler weiterträumen muß, um nicht hinabzustürzen . . .«

»Das entspricht so ziemlich meiner eigenen Lage; nur daß ich für die Deutung des Mysteriums einige andere Behelfe habe, als Sie, Mann der fröhlichen Wissenschaft. Denn ganz ohne physikalischen Vergleich kommt man da nicht aus, und die Physik hat Ihnen ja stets ferngelegen. Der Traum ist nämlich die einzige Vorstellungsform, welche die Endlichkeit der Welt überwindet. Träumend lebt jeder in seiner eigenen Welt, während der Wachzustand alle Menschen in ein und dieselbe Welt einsperrt, die zwar sehr groß ist, aber doch, wie wir heute aus der Allgemeinen Relativitätstheorie wissen, ein geschlossenes Raumkontinuum vorstellt. Und trotz aller Geräumigkeit des Aufenthalts lastet auf uns der fatale Gedanke: aus dieser Begrenztheit können wir niemals hinaus, nicht körperlich, nicht einmal geistig. Aber die Eigenwelt des Traumes verändert sich von Fall zu Fall, sie wechselt Raum- und Zeitbedingungen, jeder Traum setzt uns in ein neues Universum mit neuer Logik, neuer Kausalität. Messen wir diese unendlich variierenden Bedingungen mit dem Maßstab des Wachverstandes, so begehen wir einen ungeheuerlichen Fehler; denn nicht der Traum kann ad absurdum geführt werden, nur die Enge des Wachdenkens, das mit dem Zollstock der Endlichkeit am Unendlichen herumprobiert. Und hieraus erfließt auch, wie töricht alle Untersuchungen über die moralische Verfassung der Welt sind. Gar nicht zu reden von dem Leibnizischen Trugbild der ›besten aller Welten‹. Denn die eine, die Gemeinsamkeitswelt, bietet doch nur eine einzige Möglichkeit der Gestaltung, nur ein Los in der universalen Riesenlotterie mit unzähligen Nummern; alle anderen Lose liegen in den Traumwelten, und wenn überhaupt Preise der Güte, der Schönheit, der Wonne existieren, so müssen sie auf diese andern Lose entfallen. Deshalb sind Träume allein vermögend, uns die Herrlichkeiten der Schrankendurchbrechung zu gewähren, das Fliegenkönnen, die Wiederauferstehung der Toten, die Unsterblichkeit in Form der Seelenwanderung, die Freuden des Paradieses, das dem Wachenden verrammelt bleibt.«

Die Gesellschaften, mit denen mich diese Fahrt nach Norden beglückte, zeigten das gemeinsame Merkmal des plötzlichen Verschwindens. Nietzsche verhielt sich in dieser Hinsicht nicht viel anders, als kurz zuvor Herr Lumen; er flog zwar nicht davon, aber er war fort, gerade, als ich ihn zum Andenken an unsere Begegnung um ein Autogramm bitten wollte. Er mußte indes meinen Wunsch vorahnend erraten haben, denn auf seinem Platz lag ein Blatt mit der eigenhändigen Aufschrift: »Götzendämmerung, Kapitel vier«. Ich nahm das kostbare Schriftstück und legte es mit aller Sorgfalt in meine Brieftasche. Als ich es nach zwölf Stunden wiedersuchte, war es nicht mehr zu finden. Aber ich hatte mir die Aufschrift des Blattes gemerkt, und später konnte ich aus einem Druckexemplar der Götzendämmerung den Originalsatz feststellen: »Die wahre Welt« – eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!«

Dieser »wahren Welt« sauste ich jetzt entgegen. Die letzten Traumreste verdichteten sich mir im Bahngeratter bei Weimar zu dem Rhythmus: »das Land der Griechen mit der Seele suchend«. Dann umfing mich die blendende Tageshelle des völligen Wachtums.

Auf dem Bahnhof in Berlin erwartete mich ein Angehöriger meiner Familie mit einem Telegramm in der Hand. Vor einer Stunde eingetroffen. Die von Kyprides, Argelander und Liane unterzeichnete Drahtnachricht teilte mir einen Beschluß der Amathusischen Gemeinde mit: Nach Gutachten der Sachverständigen entfiele ein genau ausgerechneter Teil des Sachwertes aus dem Tempelschatz unweigerlich auf mich als den Spurfinder, und man würde es dort als Beleidigung erachten, wenn ich die telegraphisch an Bahnpost angewiesene Sendung refüsieren sollte. Sie können – so schloß die Drahtung – den Betrag gar nicht zweckentsprechender verwenden, als zu einer baldigen Wiederholung Ihrer Reise nach unserer gesegneten Kolonie.

Mein erster Gedanke war ein leises Nein, mein zweiter und dritter ein sehr scharf akzentuiertes Ja. Ich konnte doch beim zweiten Mal dem verhängnisvoll-phantastischen, Visionen erzeugenden Naturpark aus dem Wege gehen. Dazu gehörte nur ein energischer Entschluß. Ich faßte den entgegengesetzten. Und als ich mich am nächsten Tage im Südexpreß befand, hörte ich durch den Bahnlärm hindurch das Singen fernrauschender Wipfel, und es war mir, als vernähme ich in den Stimmen den Anruf des weisen Heraklit: Introite, nam et hic dii sunt –

Tretet ein, denn auch hier sind Götter!

 

Ende.

 


 << zurück