Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

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Lichter und Schatten

Die nächsten Tage wurden der ersten Orientierung gewidmet, die ich mir verschaffte, ohne meine Bekanntschaften in Anspruch zu nehmen. Ich habe keine Veranlassung, das Landschaftliche ausführlich zu schildern und begnüge mich mit dem Hinweis, daß die zuvor empfangenen Andeutungen ungefähr dem tatsächlichen Bilde entsprachen, auch in Hinsicht des Zusammenklingens natürlicher und weltlicher Reize. Zweifellos befand man sich hier auf erhöhter Lebensstufe, den Kolonisten von Limisso-Amathus, wie den Fremden wurde sehr viel geboten, und man merkte die Wirksamkeit einer Verwaltung, die sich anstrengte, das utile cum dulci in reichen Variationen bereitzustellen. Im Zentrum der Vergnügungen stand der große Spielpalast, der zugleich eine der Quellen darstellte, aus denen die künstlerischen und wissenschaftlichen Einrichtungen gespeist wurden. Denn der gewaltige Reingewinn dieses Ultra-Montecarlo fließt fast restlos in das breite Finanzbett der Kulturabteilung, das noch außerdem durch den bereits erwähnten Krösus Kyprides opulent subventioniert wird. Dergestalt werden gewisse Veranstaltungen zu allerdings hohen, aber für die Meisten doch erschwinglichen Eintrittspreisen in Szene gesetzt, während bei andern die Erhebung eines Entgelts überhaupt nicht stattfindet. So durfte ich mir gleich am ersten Abend den Genuß einer Sophokleischen Aufführung gestatten, Oedipus in der Ursprache, gegeben im Kasinotheater, und ich schwelge noch heut in der Erinnerung. Das war allerdings ein Tauchen in klassische Atmosphäre, das die moderne Umwelt völlig vergessen ließ. Nie zuvor hätte ich solche Durchdringung antiker Kunst mit den Darstellungsmitteln heutlebender Schauspieler für möglich gehalten. Eine andere Sehens- und Hörenswürdigkeit mußte ich mir freilich entgehen lassen. Das Unikum einer Experimental-Oper in der dortigen Arena. Man gab »Carmen« mit einer echten Corrida im vierten Akt, zu der die berühmtesten Stierkämpfer aus Madrid engagiert waren, an ihrer Spitze der Torero Escarpuentes, der nicht nur über den furchtbarsten Degen der Welt, sondern über einen phänomenalen Baßbaryton verfügte. Das war allerdings keine zarte Kunstnote, vielmehr ein schriller Fanfarenstoß, aber erst dieser gestaltet Carmen – an sich schon nach Nietzsche die Oper aller Opern – zu der szenischen Sensation, die sie zu sein verdient; mit einem Helden, der aus der Niederung eines renommierenden Buffo aufsteigt zur Höhe eines Espada, der das Meisterwerk mit Stierblut tauft; so sagte mir ein Besucher, der expreß aus Melbourne nach Zypern gekommen war, um dieses Wunder zu erleben; eines unter vielen, die in ihrer Vereinigung für die Großzügigkeit der Vergnügungsdirektion Zeugnis ablegen.

In der Akademie war noch manches im Werden, allein schon ein flüchtiger Umblick ließ erkennen, daß sich hier die res severa, – in der Amathusischen Kolonie eng verschwistert mit dem Gaudium – in den besten Händen befand. Die enorme Bibliothek war durch ein sinnreiches System ineinandergreifender Kataloge derart der Übersicht erschlossen, daß in dem abgründigen Wissensschacht alle Schätze offen vor dem Beschauer lagen. Für die Naturkunde standen Experimentiersäle bereit, deren Apparatur in Physik, Chemie und Biologie alles umfaßte, was man sonst auf Universitäten nur vereinzelt antrifft. Die Einrichtung der Sternwarte vermochte den Vergleich mit den neukalifornischen Observatorien auszuhalten. Der Bestand an fest angestellten Forschern war allerdings noch dünn; allein, wo solche Lehr- und Lernmittel gegeben, konnte die Vervollständigung des lebenden Inventars nur eine Frage der Zeit sein. Ich persönlich halte es für wahrscheinlich, daß dieser gesamte Komplex der Wissenschaften in absehbaren Jahrzehnten einen Rang einnehmen wird, wie einst die Platonische Hochschule im Umkreis der damaligen Kulturwelt.

Von den jungen Zöglingen war vorläufig für mich nicht viel zu sehen. Sie befanden sich teils auf Ferien in ihren Heimatsorten, teils waren sie von Spezialstudien beschlagnahmt, die mir ganz fernlagen. Nur mit einigen Wenigen konnte ich Fühlung nehmen, probeweise, um mich selbst zu prüfen, ob ich imstande sein würde, irgendwelche fruchtverheißende Dialoge mit ihnen zu führen, dem Programm gemäß, das mir Professor Borretius entwickelt hatte. Die Lokalität behagte mir, denn wir waren nicht auf Hör- oder Konferenzsäle angewiesen, sondern hatten eine Stoa zur Verfügung, in der wir peripatetisch über freigewählte Themen plaudern und disputieren konnten. Allein, ich muß offen gestehen, daß dabei nichts Befriedigendes herauskam. Die Schuld lag wohl in mir und meinem systemlosen Verfahren, das vielleicht imstande war, hier und da einen interessanten Punkt hervorspringen zu lassen, nicht aber, zwischen diesen Punkten die für Lehrzwecke geeignete Linie zu finden. So gelangte ich bald zu dem Ergebnis, den jungen Herren anzuraten, ihre Zeit bei methodisch veranlagten Magistern besser anzuwenden, wenn ich mir auch gestehen mußte, daß damit der eigentliche Zweck meines Aufenthalts im Sinne meiner Auftraggeber verloren ging.

Nur bei einem einzigen Zögling schien mir für ganz kurze Zeit eine gewisse Hoffnung aufzudämmern. Das war ein junger sprachgewandter Armenier aus gutem aber unbegüterten Hause, der sich hier trotz des teuren Pflasters zu Studienzwecken angesiedelt hatte. Stephan Akrelian war Kostgänger eines Akademie-Stipendiums, und da ihn auch dies nicht ganz über Wasser hielt, so hatte er Wege gefunden, um sich durch ehrenwörtliche Verbindlichkeit bei Geldverleihern einigen Kredit zu verschaffen. Ich erfuhr dies so nebenbei im Anschluß an eine ganz belanglose Frage nach den Lebensverhältnissen der Studenten, während unser eigentliches Gesprächsthema selbstverständlich auf ganz anderem Gebiete lag. Und hier stieß ich bei Stephan Akrelian auf eine Begabung, die mich sekundenweis mit der Stärke der Genialität berührte.

Das war höchst eigentümlich. Seine positiven Vorkenntnisse in Philosophie erwiesen sich als ziemlich gering, um so erstaunlicher zeigte sich seine Fähigkeit des intuitiven Einfühlens, wenn man ihn auf eine gedankliche Fährte setzte. So erläuterte ich ihm in kürzesten Zügen, ganz oberflächlich, die Quantenhypothese, wonach gewisse Energien eine atomistische Struktur besitzen. Blitzartig brach es aus ihm heraus, daß man dann wohl dieses Prinzip verallgemeinern könnte, um zu der Idee zu gelangen, nicht die Stetigkeit, sondern die Unstetigkeit regiere im Universum; er könne sich vorstellen, daß sogar das menschliche Vermögen der Wahrnehmung und Auffassung, der gesamten Perzeption, atomistisch konstruiert sei, gleichsam kinematographisch, und daß sich nur aus lückenhaften Bildern zusammensetzte, was uns im Ablauf der Eindrücke als einheitlich und lückenlos erscheint; so daß man eigentlich zu untersuchen hätte, ob denn überhaupt eine zusammenhängende Wirklichkeit existiere oder ob sie in unendlich viele Wirklichkeiten zerfiele, die uns die Einheitlichkeit des Weltbildes vortäuschten. Er ahnte gar nicht, wie weit er mit diesem plötzlichen Einfall in die allermodernste Erkenntniskritik vorstieß, und daß er damit Ergebnisse vorwegnahm, zu denen er sonst nur in einem langwierigen Kursus hätte gelangen können. Leider merkte ich bald, daß seine eigene Intuition nur stoßweise funktionierte, mit auffälligen Unterbrechungen, in denen sein Denken völlig aussetzte. Es ergaben sich Pausen trübsinniger Zerstreutheit, in denen er keiner Anregung folgte; er glich dann einer Maschine ohne Triebmaterial, und es war nichts mit ihm anzufangen. Schließlich offenbarte mir Stephan Akrelian, daß er an einem Kummer trage, der ab und zu über ihn hereinbräche und gegen den jeder Vorsatz gedanklichen Konzentrierens machtlos wäre. Mitten im philosophischen Gespräch müsse er an ganz andere heillose Dinge denken, und es widerstrebe ihm deshalb, weiterhin Mißbrauch mit meiner Zeit zu treiben; er bäte mich vielmehr, abzubrechen und ihn seinem Schicksal zu überlassen.

Ob er mir nicht vielleicht anvertrauen wollte, was ihn quäle, fragte ich vorsichtig; vielleicht könnte man ihm helfen, oder wenigstens mit Rat beistehen.

Nein, das wäre unmöglich. Denn mit der bloßen Angabe, daß da eine Frau im Spiele sei – das wolle er allenfalls zugeben – wäre nichts erklärt. Sein Fall läge verwickelt und hoffnungslos. Vor zwei Monaten habe er versucht, sich seinem Geschick durch die Flucht zu entziehen, nach seiner Heimat Armenien. Das sei mißglückt. Wie mit eisernen Ketten habe es ihn wieder hierher zurückgezogen. Immer wieder strenge er sich an, in Studienarbeit Ablenkung oder Betäubung zu finden. Das gelänge ihm aber nur ruckweise, auf Viertelstunden, dann verfiele er unaufhaltsam dem Banne seiner Leidenschaft, die ihm das zyprische Paradies zur Hölle mache.

Mehr war nicht zu erfahren. Er sah bei diesen abgerissenen Eröffnungen ohne begreiflichen Sinn ganz verstört aus, und es verbot sich, weiter in ihn zu dringen.

* * *

In der Villa des Herrn Lothar Argelander verlebte ich eine hübsche Stunde, die mir besonders dadurch erfreulich wurde, daß ich nun endlich die Dame Liane y Valla leibhaftig kennen lernte. Wäre ich ein richtiger Romanschreiber, so hätte ich hier die beste Gelegenheit, in Verhimmelung zu fallen, und ständen mir die Darstellungsmittel des Expressionismus zu Gebote, so würde ich mir aus der Schwierigkeit der Schilderung durch sinnreich gehäufte Ausrufungszeichen helfen. Da beide Annahmen bei mir nicht zutreffen, muß ich wieder auf die bereits erwähnte Ähnlichkeit mit den zwei Bildern im Vatikan zurückgreifen. Ja, so war sie wirklich, als ob sie dem Raffael zur Sappho und zur Vorderfigur in der Transfiguration Modell gestanden hatte. Sie trug sich ganz einfach, ländlich, ohne die Spur einer städtischen Aufmachung, und als mir der Begriff »Kokotte« durch den Kopf fuhr, hatte ich Mühe, die Erscheinung mit der Kategorie in Einklang zu bringen. Man hätte ihr in jedem Salon den Rang einer vollendeten Dame zugewiesen, und vielleicht an eine Tullia d'Aragona denken dürfen, die sich sogar im akademischen Zirkel mit Würde behauptete. Ich will eine leise Einschränkung des Lobes nicht verhehlen; sie war sehr beflissen, dem Gesprächspartner die geistige Seite zuzukehren und legte es dabei, nach meinem Gefühl ein wenig zu absichtlich, aufs Brillieren an. Aber die intellektuellen Brillanten waren auch wirklich vorhanden. Herr Argelander war bei meinem ersten Besuch nicht ganz in Form, er hielt sich zurück und begnügte sich damit, der Freundin die Stichworte zu liefern, die sie mit ersichtlichem Behagen auffing. Sehr reizvoll waren ihre Gesten während sie sprach, gleichsam klingende Bewegungen, im Spiel der Schultern und der Arme, wie sie in ihren besten Tagen Sarah Bernhardt als melodiösen Kommentar zu den Worten gefügt hatte.

Sie hatten zusammen gelesen, als ich eintrat, und die aufgeschlagenen Bücher auf dem Tische luden mich ein, ihrer Beschäftigung der letzten Stunde nachzuspüren. Diese konnte nun allerdings nicht sehr einheitlich gewesen sein, wie der Augenschein zeigte. Da lag aufgeklappt der analytische Traktat von Laplace und daneben das Gedenkbuch in Briefen der Ninon de l'Enclos. Sie stutzen mit Recht, sagte Liane, unsere Lektüre ist ziemlich kunterbunt. Aber wir Beide machen uns nicht viel aus Programmen, wir glauben sogar, daß Studium wie Genuß keinen schlimmeren Feind haben als das einheitliche Programm.

»Zugegeben, gnädiges Fräulein, aber immerhin, Laplace und Ninon haben doch überhaupt nicht die geringste Berührung.«

– Sie könnten gar nicht weit genug auseinanderliegen. Dann wäre es gerade ein Vergnügen, trotz alledem die Gemeinsamkeiten herauszumerken, etwa in der Vorurteilslosigkeit des Denkens, die beide Persönlichkeiten verbindet. Aber davon abgesehen: jedes Zickzack ist gesund, und ich halte es geradezu für eine Aufgabe der modernen Kultur, die Korrektheiten zu durchbrechen, die so viele Beschäftigungen pedantisch verlangweiligen.

»Mit dieser Ansicht würden Sie speziell bei uns in Deutschland auf starken Widerspruch stoßen. Wir lieben es, bei der Stange zu bleiben, oder wie man es gerne ausdrückt, im Rahmen eines Studiums, im Rahmen eines Buches, einer Debatte oder einer Kunstveranstaltung. Es gehört bei uns zum kritischen ABC, Stileinheit zu fordern und jeden Seitensprung scharf zu tadeln.«

– Das heißt, Sie unterscheiden nicht zwischen dem Kunstwerk an sich, das allerdings geschlossenen Stil beansprucht, und den Varietäten, aus denen sich ein künstlerisch geformtes Leben zusammensetzt. Mir sind Ihre Programme bekannt, Sie kommen von der Schulmeisterei nicht los. Sie leben unter der Tyrannei des roten Fadens. Ein Leitmotiv für eine Vortragsreihe – sämtliche Werke eines Autors in dem nämlichen Zyklus – sieben Sonaten, zwanzig Fugen hintereinander in einem Konzert – das ist ungefähr Ihr Vorzugsschema.

»Sie übertreiben zwar ein wenig, mein Fräulein, aber ihr Einwand trifft tatsächlich einen wunden Punkt. Wir gehen zu weit in dem Trieb nach kausaler Ordnung und übersehen dabei, daß die Kunst selbst auf der Loslösung vom Kausalgesetz beruht. Es wäre ganz gut, wenn wir uns von der Formel befreiten: irgend ein Werk sei an sich schätzbar, aber es paßte nicht ins Programm. Wen oder was soll der Tadel treffen? War das Werk wirklich wertvoll, dann um so schlimmer für das Programm, wenn es nicht paßte. In jener stehenden Redensart steckt die Überordnung des Rahmens über den Inhalt – Sie sehen, mein Fräulein, ich komme Ihnen entgegen.«

– Es freut mich, daß wir uns verständigen. Wirklich, ich hätte beinahe Lust, mich mit Ihnen über Laplace und Ninon de l'Enclos gleichzeitig zu unterhalten.

– Aber nicht heute! unterbrach Argelander. Räume lieber den Tisch ab und sorge ein bißchen für Erfrischungen, das wäre jetzt mein Programm.

– Wie du befiehlst, mein hoher Herr, sagte Liane, indem sie sich anschickte, die Tafelfläche zu verändern. Dabei fiel mein Blick auf einen der aufgeklappten Bände, und zufällig auf eine blauangestrichene Stelle; ich las das Epigramm, das Saint-Evremond der berühmten Sünderin als Votivtafel gestiftet hat:

In Ninons Seele hat uns die Natur
Ihr größtes Meisterwerk gesandt,
Da sie in ihr die Lust des Epikur
Mit Catos Tugend eng verband!

– Sie haben einen guten Griff, meinte Argelander; diese Stelle ist tatsächlich ein blendendes Unikum, ein Moralkristall des ancien régime, dem in der Neuzeit nichts mehr entspricht.

Der Takt verbot mir, diesen Gedanken mündlich weiterzuspinnen. Aus Höflichkeit hätte ich vielleicht ergänzen dürfen, daß wohl auch die Dame Liane eine ähnliche Huldigung in Versen verdiene; denn es erschien mir nicht widersinnig, die Anmut, Bildung und lächelnde Menschengüte zu einem Tugendbegriff zu vereinigen. Aber die Berufung auf Cato war mir doch zu gewagt. Schließlich gehörte sie doch zur bewußten Kategorie, und eine »catonische Kokotte« – nein, diese Denk-Akrobatik war mir noch nicht geläufig. –

Übrigens war aus dem Idyll zu zweien, wie es mir Argelander auf dem Schiffe flüchtig angedeutet hatte, nichts geworden. Sie wohnten getrennt, er auf seiner kleinen Landbesitzung, sie in der Stadt, und es verblieb bei der stillen Gewohnheit, wonach sie sich täglich für einige Stunden auf der Villa zusammenfanden; in offenkundiger Seelen-Intimität, aber ohne den Anspruch auf Ausschließlichkeit darüber hinaus. Da er an jedem Morgen in aller Herrgottsfrühe ausritt und auf ausgiebige Nachtruhe hielt, so waren ihr die Abende größtenteils freigegeben, und diese sind lang in einer Kolonie mit Fremdenbetrieb und weitschichtigem Vergnügungsapparat. Die Kompetenzen waren also gut verteilt, und ich habe schon sehr viele Verliebte gesehen, die von allen Treuepanzern umgürtet den Plagen der Eifersucht weit stärker ausgesetzt waren als diese Beiden. –

* * *

Einige Male befand ich mich mit dem Professor Borretius und seinem Adlatus Xaver Gregory auf den Ausgrabungsfeldern, von denen ich späterhin noch ausführlich zu reden haben werde, im Anschluß an ein folgenschweres Erlebnis, das mich dort erwartete; ich nehme voraus, daß sich aus diesem Abenteuer das Hauptmotiv der vorliegenden Schrift entwickelt hat.

Am zweiten Sonntag meines Aufenthalts führte mich Borretius bei Herrn Kyprides ein, dem Inselkrösus, dem ich ohnehin eine Dankvisite schuldig war. Mir war unbehaglich dabei zumute, denn der Finanzherr hatte ja ziemlich tief in seine Tasche gegriffen, um mir, einem ihm gänzlich Unbekannten, die Reise zu ermöglichen, und nun stand ich vor ihm mit dem sauren Bekenntnis, daß nach aller Voraussicht meine Gegenleistung ausbleiben würde. Was hier der Tag selbst bei bescheidenen Ansprüchen verschlang, zuzüglich der Fahrtkosten für Hin und Her, das stellte in meinen Augen eine Unerschwinglichkeit dar; ich erklärte daher, daß ich schon in den allernächsten Tagen heimreisen würde, mit einem peinlichen Debet beladen, aber doch mit dem Vorsatz, meine Schuld später abzutragen, falls ich dazu jemals imstande sein sollte.

Kyprides wollte davon gar nichts hören. Ohne im mindesten protzig aufzutreten, aber doch mit dem jovialen Anflug der Mäzenaten-Eitelkeit, meinte er, das wäre eine Bagatelle, nicht der Rede wert: Während ich mich hier mit Ihnen unterhalte, in der einen Viertelstunde, schwankt mein Wertbesitz ohne daß ich davon Notiz nehme, in Plus und Minus um das Zehnfache dessen, was sie da äußersten Falls herausrechnen. Also denken sie nicht weiter daran, bleiben Sie vielmehr solange es Ihnen gefällt, und versäumen Sie nicht etwa die großen Attraktionen der nächsten Wochen, die Regatta, den Blumenkorso und das Monstre-Feuerwerk, bei dem wir einen künstlichen Vulkanausbruch in Vesuvischem Format zeigen werden. Wie? das lockt Sie nicht? dann komme ich mit einer Bitte: am Ersten kommenden Monats gebe ich eine Gesellschaft und rechne auf Ihre Anwesenheit. Das ist doch ein annehmbares Limitum, und schließlich, eine Gefälligkeit ist der anderen wert.

Ich sagte nicht ja, nicht nein, wiederholte meinen Dank und empfahl mich.

Der Tag war sehr warm, und ich schmeichelte mir mit der Aussicht auf eine Tages-Siesta in meinem Hotelzimmer. Dort warf ich mich halb ausgekleidet aufs Lager, nahm zur Beschleunigung des Vorgangs irgendein Buch vor die Augen, und war eben dabei, meiner Schlafmüdigkeit nachzugeben, als von der Nachbarschaft her kräftige Töne herüber klangen. Jemand spielte Klavier, mit großer Fertigkeit, sogar bravourös, aber das Stück behagte mir nicht, oder vielmehr die Improvisation, denn der Vortrag klang ganz zerfahren und strotzte von Willkür. Ich ergriff verärgert den erstbesten harten Gegenstand und schlug vehement gegen die Wand, erzielte auch damit eine Pause; leider nur für einige Sekunden, dann meldete sich die Störung wieder, und bald war ein Duett im Zuge zwischen meinem Wandgehämmer und den klavieristischen Explosionen des Wüterichs von nebenan. Ich behielt die Oberhand, der Nachbar verstummte, um mich bald desto nachdrücklicher heimzusuchen; in der Tür nach dem Korridor, die ich abzuschließen versäumt hatte, erschien er selbst. Ein südlicher Typ, nicht unschön, tiefbrünett, mit Hakennase, unstet flackernden Augen und mephistophelisch vorstechendem Spitzbart; die ganze Figur Ausdruck einer Persönlichkeit, der ein ätzendes Temperament aus allen Poren spritzte.

– Einer von uns beiden wird sich zu entschuldigen haben, sagte er auf italienisch, während er näher trat und dieselbe Phrase auf französisch wiederholte.

»Gewiß«, entgegnete ich, indem ich mich aus der Horizontallage aufrichtete: »und da Sie hier ungebeten eindringen, so kann kein Zweifel bestehen, wer dieser Eine sein wird, noch dazu, da Sie mit dem Lärm angefangen haben.«

– Dieser Lärm gehört zu meinem Beruf!

»Ah so, Sie sind Musiker? dann wäre es sehr menschenfreundlich, wenn Sie sich für Ihre Übungen ein anderes Manöverfeld aussuchten, die Welt ist ja groß.«

– Für mich ist sie zu klein. Ich kann es anfangen wie ich will, überall stoße ich auf Widerstände . . .

»Bevor wir weiterreden, mein Herr, wäre es wohl geeignet, wenn Sie sich wenigstens vorstellten.«

– Rapagna; Ettore Rapagna.

»Und Sie wollen Musiker sein? Ich las doch Ihren Namen auf mehreren Kunstausstellungen als Signatur zu Bildern und Bildhauereien?«

– Ganz recht. Ich habe mehrere Berufe, sogar viele. Eben aber war ich Tonkünstler und wünsche diese Tätigkeit respektiert zu sehen.

»Das werde ich ganz bestimmt tun, wenn Sie mich damit in Frieden lassen. In wenigen Tagen verlasse ich überhaupt das Hotel und bis dahin müßte ich Sie ersuchen, Ihren übrigen Berufen zu huldigen.«

– Wenn es sich nur um so kurze Zeit handelt, können wir uns vielleicht verständigen. Unter einer Bedingung. Ich möchte mich mit Ihnen aussprechen.

»Warum denn gerade mit mir? Ich bin Ihnen doch gänzlich fremd?«

– Nur von Person. Aber ich fand Sie in der Fremdenliste des Gasthofs und weiß, daß Sie Kunstkritiker sind. Ich habe Artikel von Ihnen gelesen. Solche Leute, die für die Öffentlichkeit schreiben, sind für mich von größter Wichtigkeit. Also – ganz abgesehen davon, daß ich Ihre Siesta etwas gestört habe – ich meine, ganz objektiv beurteilt – wie finden Sie meine Kompositionen?

»Ihr Gedröhne von vorhin? das war keine Komposition, sondern ein Delirium. Und Ihre Bildwerke fallen in dieselbe Rubrik. Aber auch wenn ich an solchen Delirien Gefallen fände, würde ich es mir verbitten, daß Sie irgendwelche Äußerungen von mir zu Reklamezwecken benützten.«

– Mir geht es nicht um Reklame, sondern um Ruhm. Ich kenne kein anderes Ziel. Und ich werde es erreichen, so oder so, wenn nicht als Künstler, dann als Techniker, Chemiker oder sonstwie. Ich verstehe mich auf viele Fächer . . .

»Das ist wahrscheinlich Ihr Verhängnis. Sie sind offenbar Universal-Dilettant und zersplittern sich planlos. Sie sollten sich lieber konzentrieren . . .«

– Das geschieht schon. Mein Konzentrationspunkt ist wie gesagt der Ruhm. Ohne den kann ich nicht existieren. Nur die Aussicht auf ihn hält mich lebendig. Vorläufig bin ich noch auf der Jagd und muß bekennen, bis jetzt war er schnellfüßiger als ich. Aber ich werde ihn einholen. Ich spüre es mit aller Sicherheit, daß ich ihm auf Spannweite nahe bin, nur der Griff fehlt mir noch, das Zupacken.

»Nein, Herr Rapagna, Ihnen fehlt ganz etwas anderes. Ihnen fehlt die Einsicht, daß die Ruhmgier den Verderb der Leistung bedeutet; daß Sie auf dieser Jagd nicht der Jäger sind, sondern das Beutetier, das von Ihrer eigenen Eitelkeit zur Strecke gebracht wird. Ich will einmal annehmen, Sie besäßen Talente. Glauben Sie, daß diese besser funktionieren, wenn Sie sie mit der Hetzpeitsche bearbeiten? Es ist schon so schwer, im kleinsten Bereich etwas Nennenswertes zu schaffen, und sicher unmöglich, wenn man sich durch Erfolgssucht verblendet über die Reichweite seines Talents gar keine Rechenschaft gibt.«

– Die alte Predigt gegen den Dilettantismus! Aber die wird doch durch die Tatsachen hundertfach widerlegt. Die bedeutendsten Schöpfungen verdankt die Menschheit den Dilettanten, den Amateuren, den Außenseitern, die sich nicht konzentrierten, sondern erfolgshungrig ins Nebenher übergriffen. Mit Ihrem Rezept wäre Franklin ein tüchtiger Seifensieder und Berthold Schwarz ein wackerer Mönch geblieben. Aber der eine hat nebenher den Blitzableiter und der andere nebenher das Pulver erfunden. Waren Lionardo da Vinci, Bacon, Leibniz, war Goethe konzentriert? Stammt die Erfindung des Fernrohrs von einem Professor der Optik? Sind Jakob Böhme und Hans Sachs bei ihren Schusterleisten geblieben? Bloß Glück muß man haben, und das fehlt mir noch. Wenn ich heut eine neue Geometrie aufstelle, oder gar ein neues Weltbild, so stellt sich morgen heraus, daß gestern ein anderer vor mir das nämliche erfunden oder entdeckt hat. Aber deswegen die Jagd aufgeben wäre feige. Äußersten Falls ließe ich's darauf ankommen, durch ein großes Verbrechen berühmt zu werden! Dafür sind ja die Vorläufer vorhanden. Ja, wissen Sie, Herr, ich spüre so etwas wie Seelenverwandtschaft zu den fürchterlichen Frevlern der Vorzeit. Der Ruhm eines Herostrat brennt in mir fort. Mir flackert fortwährend Feuer vor den Augen, und geht's nicht auf andere Weise, so werden Sie's erleben, daß ich auf Flammen zur Unsterblichkeit aufsteige.

»Dann bleiben Sie schon lieber bei Ihren relativ harmlosen Kunstgreueln. Mit blödsinnigen Missetaten wird man heute nicht mehr berühmt, es sind ihrer zu viele, die in demselben Fach arbeiten.«

– Sie wollen sagen: nach derselben Schablone. Gut, dann muß man eben etwas Originelles ersinnen. Im allgemeinen hat die Menschheit für den exzentrischen Frevel stets ein vorzügliches Gedächtnis bewiesen. Herostrat, der den Tempel zu Ephesus anzündete, wurde durch magistralen Beschluß zu ewiger Vergessenheit verurteilt, und sein Name lebt fort, tausendmal dauerhafter als der des Architekten, der den Tempel erbaut hat. Ephialtes ist noch heute so berühmt wie Leonidas. Was wissen die Leute von den Denktaten des Empedokles? So gut wie nichts, aber daß er in den glühenden Aetna sprang, das haben sie behalten. Ich berufe mich auf das Wort Ihres Goethe »Das Lebend'ge will ich preisen, das den Flammentod ersehnt«! Ob Frevel oder nicht, gleichviel, die Sensation ist das Einzige, was sich einprägt.

»Sie stechen einzelne Beispiele ohne Zusammenhang heraus, um mir zu erklären, daß Ihnen die Donquixoterie im Blute steckt. Und Sie umhüllen mit dem Mantel des Ruhms die dürre Tatsache, daß Ihnen die Eitelkeit an den Knochen frißt. Ihre Projekte interessieren mich nicht weiter. Auf welchen Gebieten sie auch liegen mögen, sie werden Flohsprünge bleiben, keine Flüge in die Unsterblichkeit. Sie beklagen sich über Glücksmangel; Ihre Methode scheint mir die sicherste, um dem Glück aus dem Wege zu gehen . . .«

– Dann habe ich mich vorhin ungenau ausgedrückt. Das, was man so belle fortune nennt, habe ich reichlich gehabt, nur nicht im Entscheidenden, wenn es mir darauf ankam, wenn ich nahe an der grande fortune war. Ich zog im Leben viel kleine und mittlere Gewinnste, aber am vitalen Punkte griff ich immer die Niete . . .

»Meinen Sie das materiell genommen?«

– Absolut nicht. Derlei Sorgen liegen mir fern. Ich besitze in Neapel ein stattliches Haus mit einer Versuchswerkstatt für Erfindungen, die sich sehen lassen kann. Nein, das meinte ich nicht, ich meinte vielmehr – – er stockte.

»Nur heraus mit der Sprache, genieren Sie sich nicht. Wir sind hier auf Zypern, und Sie wollen offenbar darauf hinaus, daß Sie auch im Zyprischen Garten auf Ruhmgemüse gierig waren.«

– Sie erleichtern mir die Beichte, ohne die mein Bekenntnis unvollständig wäre. Ja, im Venuspark lockte mich ein Ruhm, der mich zu Zeiten stärker blendete als alle sonstigen Aussichten. Ich war nahe am »Weltrekord«, und diesen Titel sollte auch ein Memoirenwerk tragen, ein Gedicht in Prosa, zu dem ich alle Kapitel – bis auf eins bereit hatte, und das ich in Amathus vollenden wollte. Damit hätte ich den ganzen Casanova verdunkelt. Und dieses Werk – ich werde es nicht schreiben. Es ist mir am Clou abgebrochen, der Rekord ist nicht zu Stande gekommen.

»Und wäre es verwirklicht worden, dann hätten Sie die Stirn besessen, so etwas in die Öffentlichkeit zu setzen? Sie hätten es gewagt, eine große Zahl von Damen auf Druckpapier zu prostituieren?«

– Das wäre mein gutes Recht gewesen, denn es handelt sich nicht um Damen, sondern um Halbweltlerinnen, die keine Diskretion beanspruchen. Im Gegenteil, sie wären mir dankbar gewesen, denn der Stand der schönen Sünderinnen hat die Tradition verloren, ist im Verfall und wartet auf belebende Kräfte, die ihn fördern und ihm Licht zuführen. Die Welt wäre hierfür in hohem Grade empfänglich. Ist es Ihnen bekannt, daß Dumas' Kameliendame das einzige Werk ist, das noch heute in sämtlichen Zonen der Erde gespielt wird, China eingeschlossen, bis wohin noch kein Shakespeare und Schiller gedrungen ist? Weit da draußen weiß man von keiner Ophelia und Julia – Thekla und Louise bleiben unbegriffen, aber die Traviata hat man verstanden. Meine Aufgabe wär's gewesen, die Tradition fortzusetzen, dichterisch, historisch, mit dem Bekenntnis zu persönlichen Erlebnissen. Ich hätte die Linie aufgezeigt von Marion Delormes zu Sibylle Neitschütz, zur Helisberg und Coulomb, zu Lola Montez, zur Paiva, zu Cora Pearl und hätte sie zuerst verlängert bis zu den Halbgöttinnen der vorletzten Generation, Liane de Pougy, Otero, Emilienne d'Alencon, Lina Cavalieri, Chapmann, Gaby Delys; um schließlich bengalisches Feuer anzuzünden um sämtliche Kameliendamen der letzten Neuzeit, die in corpore gruppiert und abgemalt auf meiner eigenen Leporelloliste stehen. Ein Welterfolg wäre das gewesen . . .

»Eine gepfefferte Renommisterei mit der Pikanterie Brantômes oder Crébillons, aber ohne die Größe Casanovas, in dem doch auch ein Eroberer steckte und nicht bloß ein Bummelgenie. Haben Sie denn gar kein Gefühl dafür, wie sehr Sie sich durch die Plakatierung Ihrer galanten Exzesse am Heiligtum der Liebe versündigt hätten?«

– Ich rede von Tatsachen, und Sie wollen ethisch simpeln; werfen ein Wort dazwischen, das da gar nicht hineinpaßt: Liebe! Das ist eine Sache für Lyriker und Tenoristen; eine Fopperei der Natur, die wenigstens in den Kreisen, von denen ich rede, nicht verfängt . . .

»Das heißt, in den Kreisen, in denen das Mätressenfieber grassiert; in jener Lebewelt, die sich durch gehäufte Lüste betäubt, ohne die stille Seligkeit einer liebesbeseelten Innenwelt zu ahnen!«

– Noch einen Schritt weiter, und Sie sind bei den Zitaten aus Goldschnittbändchen und bei Pfefferkuchenversen. Denn Ihre Welt, die an der Einheit der Liebe festhält, kommt im Erlebnis über die Knallbonbonpoesie nicht hinaus. Wir variieren das Thema anders, wir setzen die Schablone außer Kurs. Wir halten es mit Wilde contra Goethe. Glücklich allein ist die Seele, die liebt? Ach nein! man kann mit jeder glücklich sein, vorausgesetzt, man liebt sie nicht. Das geht noch weiter: ich bin von Personen geliebt worden, die mich nicht ausstehen konnten, und bei anderen wäre ich wiederum um jedes Liebesglück gekommen, wenn ich sie auch nur eine Sekunde geliebt hätte. Auf den Erfolg kommt es an, auf die überwundene Schwierigkeit, und die ist auch bei den Kameliendamen vorhanden. Leider! Mein Hindernis lag in der letzten Hürde. Die Vollzähligkeit –, der Rekord, blieb aus. Wie stets, scheiterte ich am entscheidenden Punkte.

»Soll ich Ihnen deswegen mein Beileid aussprechen?«

– Das täten Sie, wenn Ihnen die Dame bekannt wäre. Die einzige Kurtisane, die den Stil der großen Tradition gefunden hat und aufrecht hält; die einzige, bei der ich mir moralische Ohrfeigen holte. Was habe ich ihretwegen aufgeboten! Nachgereist bin ich ihr durch halb Europa, zuletzt hierher nach Zypern –

»Dann kenne ich sie, und soweit mein Urteil reicht, möchte ich Ihnen empfehlen, Ihre Bemühungen um Fräulein Liane y Valla nicht fortzusetzen.«

– Sie nannten den Namen, wissen daher auch jedenfalls, daß sie momentan die sogenannte Geliebte eines blasierten, halbbankerotten Phlegmatikers ist, der jetzt bloß noch seine Zeit vergeudet, nachdem er zum Verschwenden kein Geld mehr hat . . .

»und der Sie an praktischer Weisheit hundertmal übertrifft. Herr Argelander lebt ruhig, zufrieden und gefahrlos, während Sie sich in Ihrer Erfolgshetze ganz bestimmt einmal das Genick brechen werden.«

– Ich denke mir mein Ende doch anders; romantischer, faustischer, so als eine Course à l'abime mit Musik von Berlioz; mit einer Glorie im Abgrund, in deren Armen ich finden würde, was mir die Welt versagt hat. Und oben am Abhange wird die grausame Kurtisane in Erschütterung stehen und mich bewundern . . . Mir glänzt es flammenrot vor den Augen! Fuoco, fuoco!

Seine Exaltationen blieben mir unverständlich, und es verlangte mich auch nach keiner Erklärung. Wild gestikulierend schritt er aus dem Zimmer. Zum Glück hatte ich mich hier nur als Tagesgast einquartiert. Ich packte meine Siebensachen, beglich die Rechnung und zog noch am Nachmittag in einen andern Gasthof, wo ich vor den gehämmerten und gesprochenen Attentaten dieses Aufgeregten sicher zu sein glaubte.

* * *

Abends befand ich mich in den wunderbaren Räumen des Kasinos, die sich in unübersehbarer Saalfolge durch den Palast erstreckten, mit reizenden Durchblicken auf gärtnerische Anlagen, bevölkert von einem internationalen Gewimmel. Die Ähnlichkeit mit Monte-Carlo war unverkennbar, und alte Monegassische Erinnerungen stiegen in mir auf. Ich bemerkte Fräulein Liane an einer Roulettetafel und stellte mich in gemessener Entfernung gegenüber, um sie nicht in der Veine zu stören. An solchen Stätten muß man schon einen gewissen Tribut den abergläubischen Regeln bringen, deren eine besagt: wer selbst mit Spielpech behaftet ist – und davon weiß ich zu singen – stelle sich nie auf die Spielseite einer Person, der man Gutes wünscht. Die Dame spielte mit bescheidenen Beträgen, systemlos, gewann aber ziemlich anhaltend und bewährte damit einen andern Aberglauben; denn nur im bürgerlichen Philisterium gilt der Satz vom Glück in der Liebe und Unglück im Spiel. In den Hasardtempeln der Lebewelt lautet das Sprichwort genau entgegengesetzt.

Als sie mich gewahrte, brach sie ab, gab mir ein Zeichen, und wir gingen in einen spielfreien Seitenraum, wo wir uns zu einem Unterhaltungs-Intermezzo bei Sorbet und Granito niederließen. Der Zufall bescherte uns bald noch einen dritten Gefährten, der hier hereinpaßte wie die Faust aufs Auge.

– Sehen Sie nur diesen Typ! sagte sie und wies auf einen höchst uneleganten Herrn, der in blödem Staunen umherwandelte, ein Fremdkörper in der mondänen Umwelt.

»Ich kenne den Herrn, Fräulein Liane. Er ist der Famulus des berühmten Ausgrabungs-Professors, und sogar, – erschrecken Sie nicht – sogar ein alter Freund von mir, Xaver Gregory, ein verstockter Bücherwurm, der nur durch ein Versehen hierher geraten sein kann.«

– Wenn er Ihr Freund ist, sollten Sie ihn begrüßen.

»An jeder anderen Stelle, nur nicht hier; die Verlockung, mich von Ihnen zu beurlauben, ist äußerst gering.«

– Sie brauchen sich gar nicht zu beurlauben, bringen Sie ihn her an unsern Tisch, er soll mit uns Fruchteis essen.

»Aber ich bitte Sie, das ist doch gänzlich ausgeschlossen! Er würde doch gar nicht . . .«

– »In den Rahmen passen?!« lachte sie. »Da wären wir ja wieder bei dem beliebten Thema, Sie wissen ja, was ich davon halte!« – Mein Widerspruch zerbrach an ihrer Laune. Bald saßen wir zu dreien, und Xaver entschuldigte sich:

»Eigentlich wollten mich die Saaldiener gar nicht einlassen, weil mein Anzug nicht ganz salonfähig aussieht. Aber ich habe mich doch hereingeschoben, denn der Mensch muß alles kennen lernen, und außerdem, ich habe einen wissenschaftlichen Grund: Bei meinen antiquarischen Forschungen stieß ich nämlich auf die urältesten Zeitkürzungsspiele bei den Persern, Griechen und Römern, die heißen nämlich Pessos, Schatrangschi, Zatrikion und Ludus latronum, und dabei kam mir die Idee zu einer Schrift, in der diese alten Spiele mit den modernen in Parallele gesetzt werden sollten. Allerdings ahnte ich nicht, wie es in so einem heutigen Sündenpfuhl zugeht, und ich will nur machen, daß ich bald wieder hinauskomme.«

– Dann wäre aber Ihr Studium sehr flüchtig; worüber entsetzen Sie sich eigentlich, Herr Gregory?

»Über alles; und zumeist darüber, daß dagegen nicht polizeilich eingeschritten wird; hier werden ja in jeder Stunde Vermögen verloren!«

– Und gewonnen. Die Chancen liegen beinahe gleich, und auf jeden, der sich bei der Bank ruiniert, kommt nahezu einer, den die Bank vom Ruin rettet. Es sind im Grunde dieselben Wagnisse, wie draußen in der großen Welt, nur daß sie sich hier in konzentrierter Form abspielen, wie in einem zeitabkürzenden Film. Die Maschinerie des Schicksals läuft hier rapider und bringt die Quintessenz des Lebens deutlicher zur Anschauung, den Zufall, der sich sonst in einem unübersichtlichen Ungefähr verzettelt, und den wir hier als die regierende Macht des Daseins erkennen. Schon deshalb sind alle Bestrebungen zu verurteilen, die auf die Abschaffung des Hasard hinzielen: sie sind Kennzeichen einer spießigen Moral, der alles zuwider ist, was sich aus dem Einerlei des Geschehens als eine besonders interessante und farbige Note heraushebt.

»Nein, nein,« rief Gregory, »da gehe ich nicht mit. Der Mensch soll arbeiten und forschen, aber nicht sich verlumpen und mit seinem Ersparten einen Bankmoloch füttern!«

– Dieser Moloch, bemerkte das Fräulein, ermöglicht Ihnen die Arbeit. Sie zum Beispiel sind bei den großen Ausgrabungen tätig, die zahllose Arbeiter in Bewegung setzen und Millionenmittel erfordern; wo sollen diese Summen herkommen?

»Aus Staatsmitteln! aus Abgaben!«

– Will sagen, aus den erzwungenen Plackereien, in denen sich bei Ihnen zu Haus die Staatsweisheit erschöpft, sehr zum Schaden aller wirklichen Kulturaufgaben. Darüber sind wir in unserer Kolonie hinaus. Wir regulieren den Goldstrom ohne steuerliche Pumpwerke. Pro scientia est, dum ludere videmur, spielend werden die Beträge für die Wissenschaft bereitgestellt, und wenn ich frage, woher kommen Ihnen die Summen für die Ausgrabungen, so finden Sie die Antwort in diesen Sälen: Sie sitzen an der Quelle.

»Das mildert die Sache ein wenig, trifft aber nicht den scheußlichen Kernpunkt. Da sitzen die Leute wie angenagelt, hypnotisiert von der Geldgier, mit fiebernden Nerven und verzerrten Gesichtern – – –«

– Herr Gregory, der einzige, der hier das Gesicht verzieht, sind Sie. Es mag vorkommen, daß ein Neuling, der sich in den Strudel stürzt, ohne das Schwimmen zu verstehen, die Haltung verliert, und ins Zappeln verfällt. Aber die meisten bewahren Contenance, denn das Spiel, richtig betrieben, erzieht zur Selbstbeherrschung. Die fürchterlichen Symptome der Aufregung, die wütenden Blicke und Geberden sind Erfindungen und Notbehelfe von Romanschreibern, die uns dramatisch kommen wollen, ohne selbst das Wesen des Spieldramas begriffen zu haben. Gewiß, hier entscheiden sich manche Lebensschicksale, aber der Tumult bleibt unter der Oberfläche und springt dem Betrachter nicht ins Gesicht. Und man muß psychologisch schon sehr geschult sein, um die geheime Spannung dieses Schauspiels herauszufühlen. Was der Laie sich als ein Spektakelstück vorstellt, ist in Wahrheit ein Mysterium.

– Wir können noch weiter gehen, ergänzte ich. Das Hasardspiel bietet in konzentrierter Form die Erprobung aller Wahrscheinlichkeitsrechnung und muß heute mit ganz anderen Augen angesehen werden als vordem. Die Erschließung der Wahrscheinlichkeitslehre als einer Pforte der Erkenntnis ist die wichtigste Errungenschaft der philosophischen Naturkunde überhaupt, und ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte: in wenigen Jahren werden diese Spielsäle als für die Wissenschaft unentbehrliche Experimentiersäle betrachtet werden. Was weiß die große Masse von dieser Bestimmung? So viel wie nichts. Ihr gilt eine Roulette, ein Trente et Quarante, ein System, ein Wettvertrag zwischen Bank und Publikum sachlich nicht mehr als das Würfelspiel den Landsknechten, die sich daran in der Besoffenheit austobten; daß da tiefgründige Probleme verborgen liegen, Anomalien, die bis heute aller Erklärung spotten, das ahnt sie nicht, und noch viel weniger ahnt sie die Zusammenhänge, die das Hasard mit der letzten Physik verbinden und mit der zukünftigen Konstruktion des Weltbildes.

Xaver machte ein höchst ungläubiges Gesicht. Liane, sehr angeregt, ermunterte mich zur Fortsetzung. Sie besaß wohl auch größeres Verständnis als jener für diesen Gegenstand; hatte ich sie doch kurz vorher in der Villa bei der Lektüre des Laplace betroffen. Und mit diesem Klassiker der Wahrscheinlichkeitstheorie müßte man allerdings beginnen, um das hier angeschlagene Thema richtig zu erörtern. Ich durfte indeß als Teilnehmer einer Plauderei in solcher Umgebung nicht doktrinär werden und begnügte mich deshalb mit einigen leichtfaßlichen Andeutungen:

Also, die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Statistik sind Zwillingsschwestern, und wenn wir im Spielsaal die Wahrscheinlichkeit erproben, so treiben wir auch praktische Statistik. Sehen wir von den Motiven ab und halten wir uns an die Resultate, so erkennen wir unschwer, daß sich Zufallsspiel und Weltgeschehen unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt bringen lassen. Denn »Statistik ist stillstehende Geschichte, Geschichte eine fortlaufende Statistik.« Wenn nun im Spielsaal Ereignisse aufträten, welche die Statistik als Wissenschaft beeinflussen könnten, so müßten die Historiker diese Ereignisse studieren, um sich vor Einseitigkeit und Unvollständigkeit zu bewahren. Solche Spiel-Ereignisse sind aber tatsächlich vorhanden. Zwischen der Berechnungs-Chance und den wirklichen Ergebnissen melden sich Unstimmigkeiten von beinahe okkultem Charakter. Hier wird man zu forschen haben, um die Statistik so auszugestalten, daß sie das Weltgeschehen unverfälscht darstellt.

Aber schon in ihrer heutigen Gestalt überflügelt die Statistik alle andern Methoden. Nehmen wir eine flüssige oder gashaltige Kugel, deren Größe gleichgültig ist. Wer imstande wäre, die Geschichte auch nur eines Wassertropfens genau darzustellen, der hätte damit alle Welträtsel aufgedeckt. Die Physik, ursprünglich auf strengmechanische Methoden angewiesen, hat erkennen müssen, daß diese nicht ausreichen. Wer hat sie vorwärts gebracht? die Statistik! Jene winzigen, zitternden Bewegungen in Flüssigkeiten entziehen sich völlig der Verfolgung im Sinne der klassischen Mechanik. Zahllose Lagen- und Richtungsänderungen können nur statistisch erfaßt werden. Diese statistische Betrachtungsweise mit ihren enormen Erfolgen bis hinauf zur Stellarstatistik, die die Weltgründe bis zu den Grenzen des Universums belichtet, drängt ab von den bestimmten, rein deterministischen Behauptungen über den Verlauf eines Einzelvorgangs; sie erwartet vielmehr ihre Rechtfertigung durch die Übereinstimmung der Folgerung mit der Erfahrung. Aber auch die Erfahrungen treten für ihre Sicherheit nur mit einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrade auf. Ist dieser sehr groß, dann halten wir sie für unumstößlich – bis dann eine vereinzelte Gegenerfahrung auftritt, die sie dennoch, zur allgemeinen Verblüffung, umstößt. Damit geraten wir in das Gebiet der großen Zahlen, und hierfür öffnet sich eine vorzügliche Kontrollstation im Spielsaal. Leistete das Hasard nichts anderes als dieses, so wäre es schon wissenschaftlich gerechtfertigt.

Hier lernen wir zuerst: es gibt nichts Unwahrscheinlicheres als die Wahrscheinlichkeitslehre: sie ist als reine Theorie entwickelt mit der Wirklichkeit unvereinbar. Sie leidet an einem inneren Krebsschaden, der schon erkennbar wird, wenn man versucht, sie zu definieren. Alle Welt redet darüber, glaubt zu wissen, was damit gemeint ist, und alle Welt täuscht sich, denn sie enthält einen begriffslosen Kern . . .«

»Was du uns da erzählst!« unterbrach mein Tischnachbar; »was Wahrscheinlichkeit ist, das wußten schon die Römer zu Ulpians Zeiten: Sie ist das Verhältnis der einer bestimmten Erwartung günstigen Fälle zur Anzahl aller möglichen Fälle, vorausgesetzt, daß alle Fälle gleich möglich sind. So wird sie definiert, und so ist es gültig.«

– Aber Herr Gregory, korrigierte Liane, Ihre Definition dreht sich ja im Kreise! Wie dürfen Sie denn die Worte »Erwartung« und »gleich möglich« hineinwerfen, Begriffe, in denen doch die Wahrscheinlichkeit schon drinsteckt! Ebensogut könnten Sie definieren: Ein Hasardeur ist ein Mensch, der sich auf Hasardspiele einläßt.

– Und ebenso unmöglich wie die Definition an sich, – fuhr ich fort – ist die Durchführung des Begriffs in der Wirklichkeit. Wenn sich im Spielsaal eine Sensation erhebt, so ist das Staunen sehr oft der Ausdruck einer Empfindung, der wir bis heute wissenschaftlich noch gar nicht beikommen können. Ja, ich behaupte: wir alle sind mit unseren Erwartungen falsch orientiert, und, rätselhafter Weise, falsch gegen die Chance des Augenblicks.

Frage den ersten besten Spieler, was häufiger herauskommt, zehnmal Noir in lückenloser Folge, oder bloß neunmal Noir mit Rouge als zehnten Coup. Jeder wird dir antworten: selbstverständlich ist eine Serie von zehn Schwarzen seltener als eine von neun; denn mit jeder erhöhten Serienziffer steigt doch allbekanntlich die Seltenheit. Aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung, von der Statistik unterstützt, zeigt ganz deutlich, daß unsere Erwartung auf dem falschen Strange läuft; und es bedarf eigentlich nur einer geringen Überlegung, um zu begreifen, daß beide Möglichkeiten genau dieselbe Chance besitzen. Und hier steckt der wunde Punkt der Angelegenheit, nämlich darin, daß die mathematische Erwartung und die Gefühlserwartung ganz konträre Dinge sind. Ja vielleicht leidet unsere gesamte Psychologie, insofern wir uns von Sekunde zu Sekunde auf Erwartungen einstellen, unter diesem unheilbaren Zwiespalt. Und das ist nur eine Anomalie unter sehr vielen, die sich verstärken, je höher man im Gebiet der großen Zahlen aufsteigt. Da gelangt man geradezu an gespenstische Erscheinungen im Kampfe der Theorie mit der Spielpraxis. Alle errechneten Fälle, die der Theoretiker für beinahe unmöglich erklärt, werden an den Spieltischen in unbegreiflich verdichteten Zeitmaßen möglich und wirklich. Die Natur, wie sie sich hier entschleiert, setzt sich über jeden Kalkül hinweg und kümmert sich nicht im Geringsten um die von Menschen errechneten Zeitschwierigkeiten. Fast durchweg tritt sie mit Überrumpelungen auf, mit grotesker Häufung der Unwahrscheinlichkeit, als ob sie es darauf anlegte, die Menschen zum Hasard zu verlocken. Auch dies bietet eine Aussicht für die Psychologie in Beurteilung der Lebensfälle. Jedenfalls wirst du nun zugeben, Xaver, daß sich aus diesem »Sündenpfuhl« doch noch mehr herausholen läßt, als Amüsement und Aufregung, und daß er als Versuchsstation für erkenntniskritische Betrachtungen einen Wert beansprucht.

Der andere zog seine Uhr und blickte darauf mit der Miene eines Menschen, der sich nach Luftveränderung sehnt. Na, dann gute Verrichtung, sagte er; du mußt doch bis jetzt nicht übel abgeschnitten haben bei der Bank, daß du ihr ein so starkes Plaidoyer widmest.

– Keine Mißverständnisse, Xaver! betonte ich. Ich bin heut zum ersten Mal hier und habe seit Jahren überhaupt im Spiel keinen Centime riskiert.

Er machte sich übrigens einen ganz effektvollen Abgang, indem er uns beim Fortgehen mit bemerkenswerter Ironie zurief:

»Die Spielhölle, als eine moralische Anstalt betrachtet!«

* * *

Kaum war er außer Sicht, als eine andere Person meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: der junge Akademiezögling tauchte in der flutenden Menge auf, jener zerfahrene Armenier, der mir eine Luke seines Inneren geöffnet hatte. Im ersten Augenblick lag mir die absprechende Deutung nahe: hinc illae lacrymae! du frequentierst das Kasino, du huldigst dem Jeu, sitzt wahrscheinlich im Pech und legst dir als Herzensnot aus, was wahrscheinlich nichts anderes ist, als die ganz ordinäre Beklemmung des ausgemisteten Hasardeurs! Aber diese Vermutung hielt nicht stand. Er grüßte von fern traurig herüber, und sein Blick traf nicht nur mich, sondern auch meine Nachbarin, in deren Gegenblick keine Grußbeantwortung lag, eher ein leiser, mitleidig gefärbter Mißmut. Und im Kreuzungspunkt der Blicke wurde eine neue Andeutung kenntlich, wie eine in die Luft gezeichnete Romanvignette.

»Fräulein Liane,« sagte ich, »wollen Sie mir eine etwas indiskrete Frage erlauben? Dieser Jüngling da drüben hat mir bei Gelegenheit einer zufälligen Unterhaltung einen Kummer anvertraut, mit aller Zurückhaltung, ohne Namensnennung, es blieb beim flüchtigen Ansatz einer Beichte. Seit wenigen Augenblicken glaube ich mehr zu wissen. Hier ist eine unglückliche Liebe. Kennen Sie den jungen Mann?«

– Ich weiß, wie er heißt, und nehme an, daß er zu den stillen Verehrern gehört, die man sich par distance gefallen läßt, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Er hat es niemals gewagt, sich mir zu nähern, mit keinem Wort, keiner Zeile, keiner Blume.

»Aber er leidet schwer, daran ist kein Zweifel. Und da wäre vielleicht die Frage erlaubt, ob es nicht möglich wäre, ihm irgendwelchen Trost zuzuführen; sei es auch nur dadurch, daß Sie ihm zeigen, Sie hätten ihn bemerkt, durch ein unverbindliches Lächeln . . .«

– Seh mir einer den Kuppler! wirklich, Sie entwickeln sich in der zyprischen Luft. Aber, ernst gesprochen, davon kann gar keine Rede sein. Ich treibe kein Versteckspiel. Ich bekenne mich aufrichtig genug zu einer sehr freien Lebensart, aber ich halte mich an die selbstverständlichen Grenzen und wahre in der Ungebundenheit, um mit Nietzsche zu reden, das Pathos der Distanz. Ich darf manchen erhören, aber keinen ermuntern, am allerwenigsten einen blutjungen Estudiante, der aus allen Himmeln stürzen würde, wenn er in der Fee eine Verführerin wahrnähme.

»Sie sprachen ein hartes Wort, aber ich stoße mich nicht daran. Das Kuppeln ist ein sehr ehrenwertes Geschäft, wenn es die Misere des Nebenmenschen lindert. Ich glaube, Sie unterschätzen hier die Gefahr, die ich beseitigen möchte . . .«

– Auf meine Kosten; dadurch, daß Sie mich veranlassen wollen, mein Niveau aufzugeben. Wenn ich heute einen grünen Studenten animiere, bin ich morgen bei Kellnern und Friseuren. Denn mein Zulächeln wäre nicht viel anders als das anbietende Signal: bitte, bedienen Sie sich!

»Doch nicht. Es wäre für ihn nur ein beseeligender Reflex, ein Strahl in der Nacht.«

– Sehr philanthropisch gedacht. Aber Ihr Rezept ist nicht anwendbar. Ihnen gilt sein Zustand als gefährlich, und damit mögen Sie recht haben. Seine Seele wogt stürmisch, und nun denken Sie: Öl auf die Brandung. Es wäre aber Öl ins Feuer. Seine Entzündung gehört zu den Kinderkrankheiten, die von selbst ausheilen müssen. Wollen Sie meine Ferndiagnose hören? diesem jungen Herrn Stephan Akrelian ist im gegenwärtigen Stadium überhaupt nicht zu helfen. Ich verstehe mich auf Symptome: er ist in mich verliebt, aber noch viel heftiger in seine hoffnungslose Verliebtheit. Setzen wir einen unmöglichen Vorgang: ich ermuntere ihn, erleichtere ihm den Weg, öffne ihm eine Schäferszene. Wissen Sie, was mir dabei blühen könnte? Ich behielte den Mantel Josephs in der Hand!

»Dagegen würde ich hoch wetten.«

– Ich noch höher darauf, daß ich mich dem Fall nicht aussetze. Aber verlassen Sie sich darauf, daß Ihr Armenier von Erregungen bestürmt wird, die viel zu haltlos sind, um sich zu klaren Wünschen zu verdichten. Beim gereiften Mann liegt das alles in der Regel ganz einfach: Liebesdrang mit Spannung und Lösung, das Exempel geht entweder glatt auf, oder wenn die Lösung versagt wird, gibt's eine Katastrophe, die an sich noch verständlich bleibt. In der Seele eines Cherubin von heute gibt es nur Katastrophen. Tausend wirre Gefühle kreuzen sich in diffuser Unordnung, eine explodiert an der andern, und wie er selbst nicht weiß, was in ihm los ist, ebensowenig gibt es ein erotisches Mittel, um ihm aus der Tragödie herauszuhelfen. Jede Hilfe zerstört ihm eine Illusion, an der er hängt mit psychopathischen Fäden, mit der Besessenheit, im Schmerz Wollust zu finden.

»So kommen wir nicht weiter, wertes Fräulein. Ich möchte Sie wirklich bitten: weniger Metaphysik und etwas mehr Mitleid. Mit der Hälfte der Anstrengung, die Sie aufbieten, um den Fall zu komplizieren, könnten Sie schon ein gutes Werk tun. Nehmen Sie es als eine persönliche Gefälligkeit, um die ich Sie angehe. Ermächtigen Sie mich zu einem Wort an Akrelian. Ich will da nur feststellen, ob es sich mit seinem Kummer nicht viel einfacher verhält als Sie vermuten . . .«

– Mitleid können Sie bei mir finden, so viel Sie wollen. Wenn Sie sich für einen Menschen einsetzen, dem es schlecht geht, so würde ich fragen: wieviel braucht er? und wenn's meine Börse aushält – – aber davon ist ja hier nicht die Rede; also sagen Sie mir rund heraus, wohin das führen soll.

»Ich will nur einen Fühler ausstrecken, – oder noch besser: geben Sie mir Generalvollmacht, ich werde sie nicht mißbrauchen. Das äußerste wäre, daß ich ihm Ihre Erlaubnis überbringe, Sie zu besuchen, und auch das nur, wenn ich mich vergewissere, daß diese Aussicht ihn sehr froh machen würde. Denn damit wäre ja Ihre Diagnose schon als irrig erwiesen. Fürchtet er sich vor der Zusammenkunft, dann ist die Sache erledigt. Andernfalls bürge ich dafür, daß er bei solchem Besuch die Grenzen des gesellschaftlichen Respekts nicht überschreiten wird.«

– Also ein Experiment. Schön, sondieren Sie und bringen Sie mir Bescheid. Wenn die Sache so geht, wie Sie sich vorstellen, dann kann ich ja eine Klinik für verstörte Studenten aufmachen. Adieu einstweilen. Sie finden mich, wenn es nicht zu spät wird, im zweiten Trente-et Quarante-Saal.

* * *

Ich begab mich auf die Suche und ersah mein Objekt im nächstliegenden Spielsaal. Er bemerkte mich nicht, und ich konnte ihn beobachten. Wirklich, mein Stephan spielte Roulette, und zu Beträgen, die mir mit seiner Kasse, wie ich sie taxierte, nicht im richtigen Verhältnis zu stehen schienen. Das war sehr auffällig und hätte mir beinahe meinen Plan entzweigerissen. Es verstimmte mich, daß in seiner von so starken Erschütterungen heimgesuchten Seele noch Platz für diese weltliche Extravaganz vorhanden war. Zunächst verblieb ich im Hintergrunde, um festzustellen, wie er sich in dieser weder akademischen noch erotischen Beschäftigung benahm. Er verfuhr nicht laienhaft, spielte nicht aufs Geratewohl, sondern probierte mehrere Systeme, die im Kreise der Ausgepichten wohlbekannt sind: »la Martingale« und »la Garcia-Marche«; entschied sich für diese letzte, ohne dabei in Plus oder Minus sonderlich vorwärts oder zurück zu kommen. In wachsendem Unmut dachte ich: wir beide, Liane und ich waren auf ganz falscher Fährte; er hat mich durch sein Gerede und sie durch seine Schmachtblicke betrogen, und es wäre verfehlt, sich weiter um einen Menschen zu bekümmern, der nichts anderes war als ein kleiner Abenteurer in Rouge und Noir. Ich wandte mich ab und ging fort, aber jetzt hatte er mich bemerkt, er brach ab, raffte seine Barschaft zusammen und eilte mir nach: Nur auf zwei Worte! ich flehe Sie an, kommen Sie ins Atrium und hören Sie mich! Ich sah Sie vorhin mit der Dame und weiß, Sie sprachen von mir, – was hat sie gesagt?

»Ich sollte meinen, Herr Akrelian, der Croupier interessiert Sie stärker als das Fräulein. Sie versäumen Ihr Spiel, junger Mann!«

– Und ich schwöre Ihnen, Sie beurteilen mich falsch! Der Anschein zeugt gegen mich. Aber meine Liebe und mein anscheinend so unpassendes Verhalten gehören eng zusammen. Hier in der Roulette liegt mein letzter Hoffnungsanker. An den muß ich mich klammern, oder ich gehe zugrunde, als ein Opfer des Dämons, der mich zerfleischt.

»Sie sprechen in Rätseln, und ich bin nicht gewillt, die Unterhaltung auf dieser Basis fortzusetzen. Was wollen Sie eigentlich?«

– Ihnen nochmals bekennen, was ich Ihnen schon verriet; daß ich in eine unselige Leidenschaft verstrickt bin; daß ich in ein Verhängnis fiel, wie es vorher noch nie einen Menschen heimgesucht hat . . .

»Reden Sie keinen Unsinn. Die Verhängnisse sind immer dieselben. Entweder man liebt glücklich, oder – was in Ihrem Falle viel wahrscheinlicher, man liebt erfolglos, dann gehört man eben zu der Millionenschar der unglücklich Verliebten. Dabei ist nichts Besonderes. Übrigens scheinen Sie ja schon den Ausweg gefunden zu haben: Sie betäuben sich im Jeu. Auch das haben schon Tausende getan, ohne dadurch interessante Romanfiguren zu werden.«

– Alles falsch! Ich will mich gar nicht betäuben. Um das zu wollen, hätte ich ja vorher unglücklich werben müssen. Aber ich habe überhaupt nicht geworben, und außerdem: das Jeu an sich ist mir höchst gleichgültig; es hilft mir auch nicht eine Sekunde aus meiner Zerrissenheit. Die ist unheilbar. Ich hege weder eine glückliche noch eine unglückliche Liebe, sondern ich kranke an der Person, die mich auch dann nicht glücklich machen könnte, wenn sie mir zu Willen wäre. Was mich umbringt, ist die Tatsache, daß ich mich in eine Kokotte verlieben mußte. Daß sich in mir ein heiliges Gefühl entzündete für ein Wesen, das gar nicht fähig wäre, es zu erwidern. Was gilt da Erhörung oder Abweisung! Will ich denn erhört werden? Nein, ich will mich hingeben an eine Frau, die körperlich Liane wäre, ohne ihre Vergangenheit. Ich will etwas Unmögliches, und in dieser Unmöglichkeit verzehre ich mich. Ich liebe die nämliche, die ich verabscheue, die mir gerade deswegen, weil sie Macht über mich besitzt, entsetzlich ist. Ihre Reize, die ich mit meinen Nerven in voller Stärke empfinde, sind Geißelhiebe für meine Seele.

»Sie sind exaltiert, Herr, und treiben sich gewaltsam in eine Gefühlsdimension, in der sich ein denkender Mensch gar nicht aufhalten darf. Was Ihrer Empfindung zugrunde liegt, ist kein seelischer Überschwang, sondern krasse Ungerechtigkeit und kindische Eifersucht. In Ihnen spukt die egoistische und giftige Vorstellung des Alleinbesitzes, die ohnmächtige Wut gegen die Vergangenheit eines Wesens, die nichts anderes ausstrahlt als beglückende Gegenwart, eine Gegenwart, an der auch Sie Ihren bescheidenen Anteil haben könnten. Sie verrennen sich in peinliche Unmöglichkeit wie einer, der behauptet, ein Mensch könne in dieser Welt überhaupt nicht glücklich werden, weil sie die schlechteste aller denkbaren Welten sei. Davon mag ein Philosoph überzeugt sein, und dennoch wirbt er in ihr um sein bescheidenes Glücksteil. Gewiß, Liane kann Ihnen zuliebe keine unberührte Jungfrau werden, allein sie könnte Ihnen vielleicht eine Güte erweisen, die Ihnen wertvoller würde, als die Zuneigung mancher Vestalin. Ich will Ihnen noch mehr sagen. Ich bin überzeugt davon, daß schon der Versuch einer Annäherung Ihre frevelhaften Halluzinationen zu besänftigen geeignet wäre. Sie kämen dabei in eine ganz neue Atmosphäre der Liebenswürdigkeit und des Geistes, und Ihr Gemüt wird sich in solchem Klimawechsel entfiebern. Ja, wir haben von Ihnen gesprochen, und – was sie in ihrem ganzen Leben noch nicht getan hat – sie kommt Ihnen insoweit entgegen . . .

– Was soll das heißen, Herr! Sie wird mir die Tür öffnen, mir gnädigst erlauben, ihren Luxus zu betrachten? Sie läßt sich herab, mir einen Besuch zu verstatten, bei dem ich eine traurige und lächerliche Figur spielen müßte? Nein, Herr, das schlage ich aus. Selbst auf die Möglichkeit hin, daß mir der Mut ankäme und ich mehr bei ihr erreichte als bloß gesellschaftliche Freundlichkeit. Denn sie bleibt was sie ist, und ich wäre der Bettler, der sich am Almosen ihrer mitleidigen Huld erfreuen soll. Nichts davon. Aber haben will ich sie trotz alledem. Und nicht erst seit dieser Minute. Ich habe viel Krisen durchgemacht, die furchtbarste vorhin, als ich spürte, daß sie von mir sprach. Da kam es in mir zum Durchbruch wie ein Flammensturm: bleibt meine Seele zum Hungern verurteilt, so soll sich der Körper melden dürfen. Mit vollem, restlosem Anspruch. Versuchen Sie nicht, das zu begreifen, das können Sie nicht. Das Unmögliche soll hier Ereignis werden. Nicht als ein Flehender will ich vor sie treten, sondern als einer, der zu bieten hat. In der großen Juwelierauslage der Paphischen Avenue sah ich ein Diadem aus dem früheren russischen Kronschatz. Mit diesem Kleinod in der Hand bin ich Jupiter, der eine Danae überwindet.

»Ein sauberer Plan, das muß man sagen. So ein bißchen Einbruch. Aber damit gelangen Sie nicht in das Schlafgemach dieser Dame, sondern ins Zuchthaus.«

– Die Phrase klingt drastisch. Aber ich werde nicht einbrechen, sondern ganz reell kaufen, und die Spielbank wird mir die Mittel liefern. Binnen hier und einer Stunde. Dafür gibt's ein untrügliches Vorgefühl. Kommen Sie zurück ans Roulette und überzeugen Sie sich selbst!

»Es steht doch mit Ihnen weit schlimmer als ich dachte. Sie reden einfach irre, und Ihr Delirium geht ins Unabsehbare. Wenn Fräulein y Valla vorhatte, den armen Studenten gütig zu empfangen, so wird sie den Protz, der ihr mit plumper Forderung ein Diadem vorhält, glatt hinauswerfen. Und dazu: mit Ihren paar lumpigen Moneten wollen Sie die Bank sprengen? Wahnsinniger, in fünf Minuten stehen Sie vor dem Nichts!«

Er antwortete nicht mehr. Taumelte vom Atrium zurück an den grünen Tisch. Ihn zu halten wäre vergeblich gewesen. Aber ich spürte den Zwang, mir sein verzweifeltes Experiment anzusehen.

Er setzte zehn Goldstücke auf Rouge, gewann, ließ stehen und doublierte. Wirklich, da entwickelte sich eine Serie in Rot. Er saß zweifellos in guter Progression, und seine Masse schwoll rapid. Aber wie lange konnte das gehen? Im extrem günstigen Fall doch nur bis zur Grenze des Reglements, bis zum Maximum von 12 000 Franken. Was geschah? Die Serie hielt an, er doublierte über das Maximum hinaus, und die Bank zahlte weiter! Und da fiel mein Blick auf einen Aushang der Direktion, in Kristallrahmen an der nächsten Saalwand: »Heute Elitetag, mit unbegrenztem Einsatz.« Die Maximalvorschrift, so erfuhr ich, wurde in jedem Jahr einmal außer Kraft gesetzt.

Und die Rouge-Serie schien unerschöpflich. Der junge Armenier stand als der einzige an der Tafel, der durchhielt, während die andern sämtlich schon längst auf Noir abgewandert waren. Aus allen Ecken strömte Gewimmel heran, um die Sensation zu bestaunen. Der vierzehnte Schlag. Die Millionengrenze war schon weit überschritten. Und kein Aufhören. Der fünfzehnte, sechzehnte. Stephan Akrelian forcierte das Schicksal. Ich schrie ihm zu, ganz salonwidrig, quer über den Tisch: Mensch! ziehen Sie zurück!

Der siebzehnte Coup.

Trente et un, Noir, Impaire et Passe!

Alles war erledigt. Bis auf den letzten Centime. Die Masse wanderte in den Schlund der Bank. Der Chef de partie verkündete eine kurze Spielpause.

Akrelian war verschwunden. Ich begab mich langsam nach dem verabredeten Treffpunkt, um der Dame Bericht zu erstatten. Ich fand den Saal nicht sogleich und gelangte auf verzögerndem Irrweg an ein Glasportal, das zum Park führte. Hier bemerkte ich flüsternde Gruppen, und als ich hinausblickte sah ich Angestellte, die eine gedeckte Tragbahre eiligst davontrugen. Ein genauer Bericht war nicht zu erlangen. Ich hörte, wie einer sagte: Man hat keinen Revolverschuß gehört; es klang da draußen nur wie ein schwacher Peitschenknall.


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