Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

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An der Quelle der Weisheit

In der Folgezeit äußerte Lais den Wunsch, einmal nach Athen zu fahren, um mit dem Sokratischen Kreise Fühlung zu nehmen. Ihr Freund fand das sehr erklärlich, denn wenn er sich auch selbst des Umgangs mit dieser Gemeinde entwöhnt hatte, so schwang doch noch ein lebhafter Nachklang in ihm, und er meinte, daß dort Anregungen zu holen wären, die zu gewinnen oder wieder aufzufrischen ersprießlich wäre. Nicht etwa, daß man zu ihnen wie zu Leuchtfeuern aufzuschauen hätte; aber einige Persönlichkeiten besäßen doch ein unvergleichliches Prestige, und dieser Namenszauber allein wäre hinreichend, um die kleine Mühe eines Besuches in der Hauptstadt zu vergelten.

Hierbei sprach in Aristipp auch die Eitelkeit ein wenig mit. Es sonnte sich schon im voraus in den Erfolgen, die seine Geliebte in Athen erringen würde, und ihm lag daran, ihren Triumph so stark als möglich zu sichern. Man sollte sich nicht nur von ihrer reizenden Erscheinung blenden lassen, sondern in ihr die Trägerin einer besonderen Bildung erblicken. Und soviel auch schon im Sinne dieses Anspruchs geschehen war, so meinte Aristipp doch, daß noch einige weitere Vorbereitungen erforderlich wären. Denn die Athener, so erläuterte er, sind Meister der Dialektik, sie verstehen sich auf das Überrumpeln und Verblüffen mit einer Redekunst, auf die man sich speziell einschulen muß, wenn man nicht bei jeder Unterhaltung in Grund und Boden gerannt werden will.

Er und Lais vereinigten sich daher für etliche Wochen zu Studien unter vier Augen, deren Hauptzweck in einer geistigen Gymnastik lag; in einer Stählung der Geistesgegenwart auf Grund von Übungen, in denen die sophistischen Quergänge keineswegs vermieden wurden. Das Leitmotiv lautete: man muß die Argumente nicht nur in geradliniger Logik aneinanderreihen, sondern mit ihnen jonglieren können; man muß die Fechtertricks des Gegners im Voraus kombinieren können, um ihnen mit überlegenen Intellektschwüngen zuvorzukommen. Andernfalls ist es nicht rätlich, sich auf einen Boden zu begeben, wo jede Konversation zu einem Turnier wird, in dem die Technik der Rede entscheidet.

Sie übten mit verteilten Rollen, nach willkürlichen Gesichtspunkten. In einem bestimmten Gespräch zum Beispiel übernahm Lais die Partie des Göttergläubigen, während Aristipp mit atheistischen Motiven gegen sie operierte. Mittendrin, auf ein verabredetes Zeichen, wurden dann die Rollen vertauscht, sodaß Aristipp die Gläubigkeit, Lais deren Gegenteil zu begründen hatte, und zwar dergestalt, daß jeder Partner die zuvor erprobten Gründe neu zu schleifen, zu verfeinern und zu überbieten versuchte.

Als sehr ergiebig erwies sich diese Methode auf dem Felde der Ethik, wo beide abwechselnd sich in das Wesen eines idealstarren Moralisten, und dann wieder eines materialistischen Glückseligkeitslehrers vom Schlage des Hippias hineindachten und hineinsprachen. Diese Debatten waren mehr als nur spielerische Plänkeleien; sie lieferten Befruchtungen für Aristipps eigene Hedonik und die von ihm ausgehenden Kyrenaiker, sie bleiben als solche bis zu Epikur kenntlich. Allein die Hauptsache waren doch die Übungen selbst, die dem beweglichen Geist der Lais die höchste Elastizität verleihen sollten.

Je mehr sie darin fortschritten, desto entschiedener traten zwei Elemente in den Vordergrund, auf die alle anderen Gedankenlinien bezogen werden konnten: das Absolute und das Relative. Und aus ihnen ergaben sich Fragen, in deren kontradiktorischer Beantwortung sich beide wie in einer Arena tummelten:

Waltet in der Welt eine vorbestimmte Ordnung, ein festgelegtes Gesetz der Gestaltung und Sittlichkeit?

Antwort: Ja! denn sonst könnte man auch glauben, ein Gedicht wie die Ilias hätte durch eine zufällige Bewegung der Buchstaben entstehen können. Da diese Annahme unsinnig ist, so muß man auch anerkennen, daß der Welt, als einem noch viel vollendeteren Gedicht, ein vorbedachter Plan zugrunde liegt.

Antwort: Nein! denn die Ilias geht auf eine einzelne, klar übersehbare Ursache zurück, während bei Entstehung der Welt sämtliche Ursachen gewirkt haben, mit Einschluß aller, deren Kausalität unserer Fassungskraft verborgen bleibt und die wir wegen ihrer Kompliziertheit »Zufälle« nennen. Also ist auch die Ursache der Ilias aus einem System von Aufeinanderfolgen entstanden, in denen das Ursächliche für uns verschwindet. Unsere Ursächlichkeit wird von der Wahrscheinlichkeit beherrscht, einem Begriff, der aus der Erfahrung stammt, der also nicht existiert, wo die Erfahrung aufhört, nämlich in der unendlichen Ferne der Grundursache. Deren Wesen liegt jenseits aller Vergleichsmöglichkeit, und wenn der Verstand in der Welt ein Baugesetz vermutet, ähnlich wie in der Ilias, so könnte er sich auch das Universum als hexametrisch geplant vorstellen. In Wahrheit gibt es keine Grundursache, weil hinter ihr wieder eine überletzte stehen müßte, also auch keine vorbedachte Ordnung, kein ursprüngliches Sachgesetz, und am wenigsten ein ewiges Sittengesetz.

– Wäre es nicht trotzdem möglich, daß ein solches existierte, wenn man nämlich nicht auf die Stimme des Verstandes, sondern auf die der Gefühlsseele hörte?

Antwort: Ja! Es kann nicht nur, es muß sogar bestehen, weil es sich der Gefühlsseele mit einer jeden Zweifel niederschlagenden Gewißheit ankündigt. Wie man sich auch die schöpferische Ursache vorstellt, als göttlich, als Fatum, selbst als einen Komplex von Zufällen, – eines bleibt als Annahme unmöglich: daß sie in einem bösartigen Dämon niste, dessen Bosheit ausgereicht hätte, um die Seele mit Blindheit zu schlagen. Verleugnet man aber diese entsetzliche Annahme, dann ist die Seele sehend, und die Stärke ihrer Wahrnehmung eines ewigen Sittengeseztes ist dann zugleich der Beweis für dessen Existenz.

Antwort: Nein! Die Seele ist dauernd unfähig, einen absoluten Standpunkt zu gewinnen und urteilt ausschließlich in Relativitäten, die sie ohne Aufhör zu Absolutheiten umfälscht. Das Gefühl erklärt mit aller Sicherheit: die Nachtigall singt besser als der Rabe, und verweilt nicht einen Augenblick bei der sehr notwendigen Frage, ob nicht der Rabe besser krächzt als die Nachtigall. Wie in diesem Einzelfalle, so ist sein Besser-Schlechter durchweg nur Zwangsvorstellung, erzwungen von einem Phantom, das ihm ein Gut-Böse vortäuscht und dessen Identität mit Angenehm-Unangenehm, Willkommen-Lästig, Nützlich-Schädlich verschleiert. Gibt es aber absolut genommen kein Gut und Böse, sondern nur die Beziehung auf ein sinnlich wahrgenommenes Wohl und Übel, so entfällt auch die Berufung auf übersinnliche Gesetze, und die Seele muß sich vom kalten Verstand zurechtweisen lassen, der den transszendenten Zauberspuk durchschaut.

– Ist die Tugend lehrbar?

Antwort: Ja! Die Seltenheit der Tugend und die Tatsache, daß wir von ihr so viel Aufhebens machen, zeigt untrüglich, daß sie nicht zu den selbstverständlichen Dingen gehört. Sie ist vielmehr in Elementen des Verstandes verankert und hängt von Einsichten ab, ohne deren Vertiefung sie selbst gar nicht vorhanden sein kann. Der Mensch muß erst die groben und feineren Unterschiede zwischen Gesetzespflicht, Aussicht auf Vorteil, Furcht vor Strafe, Stimme des Gewissens, Wohl und Güte, Willenszwang und Willensbeherrschung begriffen haben, bevor er auch nur die Möglichkeit gewinnt, eine sittliche Persönlichkeit zu werden und Tugend zu äußern. Wenn ihm nicht hunderte von Erfahrungsbeispielen richtunggebend zur Seite stehen, bleibt er ohne die geringste Anwartschaft darauf, die Wege der Tugend zu erkennen, und ohne das mindeste Vermögen, sich in ihnen zurechtzufinden. Es gibt also eine Tugendweisheit, und diese muß mitteilbar sein in Sätzen, die sich, wie die jeder anderen Wissenschaft, auf Gedankenentwicklung gründen. Die Tugend ist nicht erzwingbar, wohl aber lehrbar, von einem, der die Theorie der Vollendung seelischer Fähigkeiten beherrscht, lernbar von jedem, in dessen Seele überhaupt Entwicklungskeime vorhanden sind.

Antwort: Nein! Denn wenn sich die Tugend nur im mindesten auf das Mitteilbare, das heißt auf das Vernunftmäßige gründet, so ist es völlig absurd, zu erwarten, jemand solle Vernunft annehmen. Da nur derjenige imstande ist, sie anzunehmen, der sie schon vorher besitzt, weil ihm sonst das Organ der Empfangnahme fehlt. Eine Lehre, die darauf ausgeht »Nimm Moral an« arbeitet also von Anfang an mit einem logischen Fehler, da sie beim Empfänger bereits das als vorhanden voraussetzt, was sie ihm beizubringen unternimmt. Existiert die Vorbedingung, so wirkt sie sich mit derselben Sicherheit aus, wie das Talent eines Fisches zum Schwimmen, wofür er einer Anweisung nicht bedarf; existiert sie nicht, so gerät der Lehrer in die Lage eines Präzeptors, der einen Stummen zum Sänger oder einen Blindgeborenen zum Maler erziehen will. Das Vorhaben ist somit entweder überflüssig oder unmöglich, und hieraus ergibt sich unweigerlich: die Tugend ist nicht lehrbar.

* * *

Diese spielerischen Konflikte erstreckten sich über weite Felder, fanden indeß ihren praktischen Halt bei der Frage, wie denn die Reise der Lais in Szene gesetzt werden sollte. Ursprünglich hatte Aristipp wie natürlich einen Ausflug zu zweien angenommen, allein jetzt trat bei der Freundin eine unvermutete Laune zutage: sie wollte allein nach Attika pilgern, unbetreut von einem männlichen Genossen, dessen Anwesenheit ihr in diesem Betracht wie eine Empfehlung, Einführung und Aufsicht vorgekommen wäre. In ihr regte sich die Romantikerin, die das Unvorhergesehene mit Reizen ausschmückte. Aristipp war von ihrem Verlangen zuerst ein wenig überrascht, und er empfand sogar eine leise Enttäuschung, da er sich von der gemeinsamen Reise ein erhebliches Vergnügen versprochen hatte. Allein es widerstrebte ihm doch, einen langen Disput aufzubieten, der wahrscheinlich zu keinem anderen Ergebnis geführt hätte, als eine kurze Einwilligung. Er fügte sich daher ihrer Laune ohne merkliche Verstimmung, und ohne besonders abzuwägen, ob er durch seine rasche Nachgiebigkeit ein Opfer brächte.

Lais besaß in Athen eine gute Bekannte, – Freundin wäre zuviel gesagt, – und man verständigte sich mit dieser brieflich wegen der Beherbergung für etliche Tage oder Wochen. Die hübsche Polyxena, eine Hetäre zweiten Ranges, war ganz beglückt durch die Aussicht, die strahlende Persönlichkeit Lais in ihrer Behausung aufnehmen zu dürfen, und sie schätzte diesen Besuch fast ebenso hoch ein, wie den des Alcibiades, der ihr einmal zu flüchtiger Plauderstunde seine Anwesenheit gegönnt hatte. Am liebsten hätte sie die ganze Zunft der Genossinnen zum feierlichen Empfang mobil gemacht. Das verbot sich aber durch den Plan der Ausflüglerin, welche diesmal wie eine arkadische Hirtin dahinzustreifen vorhatte. Ihr wenig umfangreiches, in Einzelheiten aber auserlesenes Reisegut wurde vorher in die Wohnung der Polyxena geschafft; sie selbst ließ sich, nur von einigen Fährleuten bedient, von der Insel Ägina nach Phaleron, nahe am Piräus-Hafen übersetzen, schickte dort die Bootsmannschaft zurück und begann allein zu wandern, in einem Aufzug, in dem man sie eher für ein Mädchen vom Lande, als für eine Dame der großen Welt gehalten hätte. Der Weg war ja kurz, der ließ sich in wenigen Stunden Spaziergangs bewältigen, und für ihre Sicherheit trug sie keine Sorge. Man lebte ja nicht zu Kodrus' Zeiten, da die Straßen noch den Wegelagerern gehören mochten; und für den äußersten Fall hatte sie sich auf Aristipps Drängen eine wirksame Stoßwaffe in den Gürtel gesteckt.

Die Landschaft wirkte herrlich, und der Lais war es, als ob Himmel, strömendes Gewässer, Berglinien, Pflanzenwuchs und menschliches Bauwerk sich vereinigt hätten, um sie freundlich zu begrüßen. Was man in jener Zeit nur selten findet, die touristische Beglücktheit, die Wandervogellust, das ging ihr plötzlich auf in einer Seelenstimmung, von der sie zuvor nur dunkle Ansätze gespürt hatte. Man mußte einsam sein, losgelöst vom Gewohnten, in einer Bewegung, in der schon jeder Schritt zum Ziele führte, und jedes fernere Ziel nicht mehr an die Befolgung der kürzesten Linie gebunden war. Gewiß, das dort drüben, das war Athen, und dorthin wollte sie, aber ebenso begehrte sie den Umweg, denn jede Verlängerung versprach ihr eine neue Köstlichkeit. Ihr war es, als verstünde sie das Rauschen der Blätter und die Stimmen der gefiederten Sänger im Laub, und es fuhr ihr durch den Kopf, ob denn die grundgelehrten Gespräche, denen sie entgegenging, mehr Weisheit enthalten könnten, als die Elementarlaute der Landschaft.

Am Ufer des sanftfließenden Ilissos träumte sie entlang. Hin und wieder blieb sie stehen, zum Anschauen erwachend, und es drang ihr ins Bewußtsein, wie wunderbar sich die näheren und ferneren Bauwerke dem Bilde einfügten; gleichsam als Kleinodien, die der Mensch auf den Nacken der Erde gesetzt hatte, um sie wie eine Geliebte zu schmücken. Sie fand ein einladendes Ruheplätzchen an einem grasbewachsenen sanften Flußabhang, nahe einer Platane. Hier dehnte sich eine natürliche Bank, doppelt ausladend, geteilt durch eine dichte Strauchwand, deren üppige Blüten ringsum den Raum durchdufteten. Hier rastete sie kurze Weile und lauschte den Zikaden, deren Gezirp ihr als eine harmonische Ergänzung der andern Naturmelodien entgegenschwirrte. Irgendwo im Gelände blies ein unsichtbarer Hirt, der auf seiner Rohrpfeife nur über zwei dünne Töne verfügte; der stand in der künstlerischen Entwicklung noch tief unter der Musikstufe einer Drossel; aber seine Kunstlosigkeit paßte trotzdem ganz gut in diese zart vibrierende Klangwelt.

In der Ferne, von der Stadt her schreitend, wurden zwei Gestalten erkennbar, zwei Männer, die in eifrigem Gespräch offenbar sehr Wichtiges verhandelten. Der ältere trug einen kahlen Dickschädel mit einem Silensantlitz und gab sich schon auf mehrere hundert Schritt in Haltung und Gebärde als die mit keinem anderen Erdenbürger verwechselbare Figur des Sokrates zu erkennen. Sein Begleiter war ein Ephebe, auf der Grenzscheide zwischen Knabe und Jüngling, dessen Schönheit an Haupt und Gliedern den vollendeten Gegenpart zur Erscheinung des großen Philosophen bildete. Selbst mit einem Aristipp verglichen hätte diese schlanke Gestalt, rein nach Form aufgefaßt, noch einen Vorsprung in der ästhetischen Beurteilung behauptet, wäre ihm als geistiger Persönlichkeit der gleiche Blick der Intelligenz zu eigen gewesen wie dem Mann aus Kyrene. Allein da bestand allerdings ein Abstand, selbst über den Altersunterschied hinaus. Der Jüngling auf der Landstraße machte zwar nicht den Eindruck eines Einfältigen oder Gecken, aber noch weniger den eines besonderen Talentes. Sein Auge war Reflektor, nicht Selbstleuchter.

Desto lebhafter feuerwerkte es in den Augen des Alten, den das über alle Welt hallende Orakel von Delphi als den Weisesten aller Menschen proklamiert hatte. Lais war unschlüssig, sollte sie ihm entgegengehen zur Reverenz? sollte sie ihm zu erkennen geben, daß hier ein Geschöpf von der Größe des Moments überwältigt war, vom ersten Anblick einer unvergleichlichen Berühmtheit? Eine eigentümliche Scheu hielt sie gebannt. Und schon waren die beiden Gestalten ganz nahe heran, sie nahmen Platz auf der anderen Seite der Ruhebank, von der Pilgerin abgetrennt durch das dichtbeblümte Gesträuch, vollkommen vertieft in ihre Auseinandersetzung, die keinen Augenblick pausierte. Und hier wurde Lais unfreiwillige Zeugin eines Gesprächs, bei dem ihr das Blut in den Adern erstarrte.In diese fingierte Episode sind einzelne Elemente aus dem Phaidros und anderen Platonischen Dialogen frei verwebt. In dem Jüngling Phädrus wird der Vertreter einer Klasse von Zöglingen vorgestellt, die auf die Worte des Meisters schwören.

Die Beiden unterhielten sich nämlich ungeniert, und lange Zeit ausschließlich von der Päderastie, mit der denkbar größten Sachgründigkeit und einem unüberbietbaren Wohlgefallen. Es war, als schlürften sie in den tiefsten Geheimnissen der Liebe, um deren feinste Blüte im homosexuellen Verkehr zu entdecken. Ja, sie schienen diesen Verkehr für den einzig möglichen unter Liebebedürftigen zu halten, sodaß lediglich dieses Stuprum gefeiert wurde, während die erotische Beziehung von Jüngling zu Mädchen, von Mann zu Frau überhaupt kaum erwähnt wurde. Der Erfahrungskreis zumal des Alten erwies sich als überaus weitgedehnt, und wenn er auch nicht andeutete, daß er gerade diesen jungen Herrn, den er Phädrus nannte, zu seinen Lagergenossen zählte, so zwang sich doch der Hörenden ein derartiges abscheuliches Bild unwillkürlich auf; ein Bild, das an Perversität und grauenhafter Lüsternheit alles überbot, was man sonst nur in den Orgiasmen bocksfüßiger und schweinsohriger Faune und Satyrn für möglich hält. Nein! die Unholde der Wälder ließen doch ihre Bestialität besonders an Nymphen aus, und sie besoffen sich zuvor, sie hatten für ihr ekelhaftes Treiben wenigstens einen natürlichen Erklärungsgrund. Hier aber wurde akademisch verhandelt, in nüchterner Betrachtung, mit verzerrter Satyriasis, und dazu mit dem aufgedonnerten Anspruch auf feingeistige Problemlösung. Man wühlte im Pfuhl und gab sich den Anschein der Erhabenheit. Und in solcher Morastbesudelung geschah es, daß die Figur des großen Tugendmeisters Sokrates zu allererst für Lais leibhaftig wurde!

Jede Bewegung, jedes Geräusch wäre verhängnisvoll gewesen. Sie hätte vor Scham in die Erde sinken müssen, wenn man sie als Zeugin solchen Disputs entdeckt hätte. Sie fühlte sich auf den Platz festgeklammert und stierte verloren auf die Hoffnung, dieses Gespräch müsse doch einmal eine Wendung nehmen, einen Schimmer von Anständigkeit gewinnen, um ihr das Hervortreten aus dem Versteck zu verstatten. Aber die Herren verfuhren so konsequent, als ob es außer ihrem Thema kein anderes auf der Welt gäbe.

Schaudernd erfuhr Lais die verborgensten Subtilitäten des Faches. Ihre Welterfahrenheit reichte ja weit genug, und die Existenz der Knabenliebe in allen Formen war ihr nicht unbekannt. Aber wenn je vordem in der Intimität gewisser Frauengespräche davon die Rede gewesen war, so blieb es doch für sie ein kurioses Abstraktum, unvorstellbar wie Menschenfresserei, Sodomie und Vampyrismus, und abgesehen von aller Verächtlichkeit ein Gegenstand irrsinniger Komik, bei dessen bloßer Erwähnung eine Frau sich herabwürdigte. Und hier traktierten ihn die beiden Sitznachbarn als eine philosophisch zu zergliedernde Disziplin, mit moralisierender Gediegenheit, und wenn man nur auf den Tonfall achtete, nicht auf den Sinn, so hätte man streckenweis kaum erraten, ob hier Pädogogia verhandelt wurde oder Päderastia. Bis dann ein grelles Schlagwort die Situation beleuchtete und keinen Zweifel darüber ließ, daß sich die ganze Disputation um blanke Obszönität drehte.

Sokrates: . . . Wir werden also nunmehr, schöner Phädrus, zu untersuchen haben, wer im Bereiche der Liebe den Vorzug verdiene, ob der stürmische Liebhaber, der heftig und nachdrücklich Verliebte, oder der leidenschaftslose Verehrer, welcher gleichwohl gewisse Rechte sinnlicher Art an dem lieblichen Knaben geltend macht. Und ich möchte von dir hören, wie du, mein entzückender junger Freund, dir wohl den Gang einer solchen Untersuchung vorstellst.

Phädrus: Es ist dir wohl bekannt, wunderbarer Mann, daß ich auf diesem Gebiete bereits von dem anderen Lehrer, dem vortrefflichen Lysias, einige ausgezeichnete Anweisungen empfangen habe. Und ich halte dessen Meinung für richtig und absolut unwiderleglich, es sei denn, daß du sie widerlegst und mir die Reden des Lysias als unsinnig nachweist. Und ich hege sogar die feste Vermutung, daß dir dies gelingen wird, denn du würdest ja nicht deinen großen Namen verdienen, Hochgelobter, wenn du dieselbe Ansicht hegen solltest wie ein anderer, der vor dir gesprochen hat. Allein zuvor, denke ich, wäre vielleicht das Wesen der Liebe überhaupt zu betrachten und die Frage zu erörtern, ob denn die Liebe, von der wir eben reden, als eine Notwendigkeit, eine Pflicht, eine Lust, eine Tugend oder als was sonst bezeichnet zu werden verdient.

Sokrates: Wohl gesprochen, mein goldener Phädrus, nur ein wenig zu lang. Du kennst mich genügend, um zu wissen, daß ich schon aus eigenem Antrieb alle Fragen aufspüre, entwickele und deren Beantwortung einleuchtend mache, was sich – mit aller Bescheidenheit sei es gesagt – schon darin kundgibt, daß am Schluß meiner Ausführungen ein Widerspruch selten oder niemals vernehmlich wird. Was nun die Liebe zwischen männlichen Personen betrifft, so können wir uns die Sache sinnig vereinfachen, indem wir uns direkt auf das göttliche Vorbild berufen. Oder meinst du nicht, daß ein Muster der Gottheit für menschliche Wertmessung entscheidend sein muß?

Phädrus: Gewiß, o Sokrates, meine ich das.

Sokrates: Nun denn, wir wissen, daß Gottvater Zeus in Liebe zu dem herrlich gebauten Ganymedes entbrannte und ihn mit Adlerfängen in den Himmel entführte, wo er zu ewigem Leben als der Geliebte des Olympischen Herrschers verweilt. Wäre es wohl statthaft, anzunehmen, daß Zeus ein solches Beispiel aufgestellt hätte, wenn es nicht als Muster auch für die Menschheit dienen sollte?

Phädrus: Freilich wäre das unstatthaft und vermessen.

Sokrates: Jetzt bist du im Bilde, himmlischer Phädrus. Denn wie anders sollte der Mensch dem göttlichen Muster nachstreben, als mit der Begierde, seine irdische Lust zur Götterlust zu erhöhen, aus innerer Notwendigkeit, also aus Pflicht, deren Erfüllung eine erhabene Tugend bedeutet? Und dürftest du daran zweifeln, schöner Phädrus, daß du berufen bist, als ein irdischer Ganymed denjenigen beizuliegen, die sich kraft ihrer sittlichen Vollkommenheit am meisten dem göttlichen Vorbild genähert haben?

Phädrus: Nein, Sokrates, daran zu zweifeln wäre Frevel.

Sokrates: Wir haben sonach ermittelt, daß der wahre Sinn der Erotik in der gleichgeschlechtlichen Männerliebe beschlossen liegt, und können nunmehr dazu übergehen . . .

Phädrus: Mit Verlaub, sollten wir das wirklich schon ermittelt haben? Wäre es nicht denkbar, auch dem Verhältnis zu einem Mädchen, einer Jungfrau oder Hetäre einen gewissen erotischen Sinn zuzuweisen?

Sokrates: Ich sehe dich auf Abwegen, Freund! du machst plötzlich Einwürfe wie ein Sophist aus Abdera, dem es nicht um Ergründung der Wahrheit, sondern um das Funkeln eines spitzfindigen Arguments zu tun ist . . .

Phädrus: Das lag mir fern, du Herrlicher; mir ging es nur eben durch den Kopf, daß ja Zeus auch nach der femininen Seite gewisse Muster aufgestellt hat, so zum Exempel, da er die Leda als Schwan und die Europa als Stier beschlich.

Sokrates: Gerade an solchen Beispielen kannst du die Haltlosigkeit deiner Zwischenfrage ermessen. Wähle die Beispiele wie du willst, und du erkennst den Abstand wie von einer flüchtigen Liebelei zu einer auf Dauer angelegten Liebe. Niemals hat Zeus daran gedacht, sich einer Leda oder Europa auf ewig zu verbinden, er überließ die letzte vielmehr dem König von Kreta und kümmerte sich nicht weiter um sie, während er seinem Liebling Ganymed mit der Weihe der Unsterblichkeit die überragende Sonderstellung erteilte. Wiederhole nun deine Frage, Phädrus.

Phädrus: Wie dürfte ich das wagen, nachdem du ihre Voraussetzung mit so staunenswerter Geisteskraft zu Boden geschlagen hast.

Sokrates: Was also haben wir ermittelt?

Phädrus: Ganz genau die Richtigkeit deiner Ansage: daß nämlich der wahre Sinn der Erotik ausschließlich in der geschlechtlichen Männerliebe beschlossen liegt.

Sokrates: Und im Anschluß hieran haben wir zu untersuchen, ob der geliebte Knabe oder Jüngling sich mit gleichem Feuer der Umarmung der stürmischen wie der kühlen Verehrer hinzugeben hat. In dieser Hinsicht nun, wenn man es vorurteilslos und mit unbefangener Weisheit betrachtet, kann ein Zweifel gar nicht platzgreifen. Denn wenn der Liebhaber seinen Hang bis zur Leidenschaft aufschwellen läßt, so wird er ein Wahnsinniger, ist von einem Rasenden nicht zu unterscheiden, und wenn er mit solchem Ungestüm, von unablässiger Begierde gestachelt, bei Tag und Nacht den Geliebten sieht, hört, berührt und mit allen Sinnen genießt, so läßt er dem stets umschlungenen Knaben weder Zeit noch Möglichkeit zu anderweitiger geistiger und seelischer Entwicklung. Er drängt ihn von der Familie ab, sähe ihm gern Vater, Mutter, Verwandte und Freunde, ja sogar sein jetziges und künftiges Eigentum entrissen, und er freut sich, wenn der Geliebte jede andere Beziehung und allen Besitz einbüßt, weil dann er allein, der Umschlinger, über ihn unumschränkt regiert. Gleichwie Wölfe das Lamm, so lieben den Knaben die vom Leidenschaftssturm Gepeitschten. Und daraus folgt, daß der Knabe den ruhiger gestimmten Liebhaber zu bevorzugen hat.

Phädrus: Wider Vermuten habe ich Anlaß zu einer ganz besonderen unerwarteten Freude: denn fast genau so wie du, hat mein erster Lehrer Lysias diese Angelegenheit entwickelt. Welch' überraschende Übereinstimmung der Gedankenfolgen! Und wie sicher steht jetzt die Ansicht des ersten, da sie durch dich, den Weisesten aller, die Bestätigung erfahren hat!

Sokrates: Wir müssen da jedes Mißverständnis ausschließen, damit auch nicht der leiseste Bodensatz zu einer möglichen Verstimmung zurückbleibt . . .

Phädrus: Wieso Verstimmung, prächtiger Meister?

Sokrates: Weil der Gleichlauf zweier Denkfolgen immer dem Verdacht Raum gibt, es könne da etwas nicht in völliger Ordnung sein. Bist du wirklich ganz sicher, holder Phädrus, daß dein Lysias so ähnlich argumentiert hat?

Phädrus: Zum Verwechseln ähnlich.

Sokrates: Das ändert die Sachlage insofern, als meine Sätze danach noch eine Ergänzung erheischen. In unserem Ideenkreis kam vorhin der Begriff »Wahnsinn« vor, entsinnst du dich wohl?

Phädrus: Ja freilich; und vorzüglich angewandt, haarscharf erfaßt, wie alle Begriffe, deren du dich bedienst.

Sokrates: Nun gewährt aber jeder Begriff, von einer anderen Seite angesehen, eine andere Deutung; und nun denke einmal nach: ist der Philosoph nicht verpflichtet, die Begriffe möglichst vielseitig zu betrachten, sie gleichsam rotierend ins Blickfeld zu rücken, um ihnen möglichst viel Deutungen abzugewinnen?

Phädrus: Allerdings ist er hierzu verpflichtet.

Sokrates: Wie steht es sonach um den »Wahnsinn«? Wir werden uns zu erinnern haben, daß dem Menschen die größten Güter durch einen Wahnsinn zuteil werden, den ihnen eine Götterkunst verleiht, und der mit Recht als »Theia Mania«, als »göttlicher Wahnsinn« gepriesen wird. Ist es nicht erwiesen, daß die Prophetinnen der Orakel von Delphi und Dodona ihre herrlichsten Aussprüche zum Segen für Hellas im Zustand des Wahnsinns geleistet haben, bei kühler Vernunft aber nur Kümmerliches oder gar nichts?

Phädrus: Ja gewiß, das ist längst erwiesen.

Sokrates: Und ebenso, wie das begeisterte Wahrsagen nicht aus der platten Verständigkeit quillt, sondern aus dem Delirium, so ist auch die ganze Dichtkunst in ihren herrlichsten Offenbarungen nichts anderes als ein Ausfluß der Besessenheit! Wer sich ohne die irrsinnige Verzückung der Musen in den Vorhallen der Poesie einfindet, vermeinend, er könne durch nüchterne Vernunft allein ein wahrer Dichter werden, der bleibt ungeweiht, und stets wird der Verständigen Dichtwerk von den Erzeugnissen der Ekstase in den Schatten gestellt. Sobald wir dies aber einräumen, müssen wir uns auch entschließen, einen stürmischen Freund, der bis zur Besinnungslosigkeit verliebt ist, und der mit der ganzen Vehemenz eines Rasenden den Geliebten umfängt, höher zu stellen als einen phlegmatischen Liebhaber; und du erkennst nun, mein Himmlischer, wiewohl auf einem Umweg, daß du dich vorhin, als ich dir das Gegenteil bewies, in einem verhängnisvollen Irrtum befunden hast.

Phädrus: Sonnenklar erkenne ich das, du Erhabener, der du es verstehst, zuerst den Taumel der Verirrung zu erregen, um nachher desto nachdrücklicher alle Pforten unwiderleglicher Wahrheit aufspringen zu lassen. – – –

* * *

Kaum noch vermochte Lais, sich zu halten. Sie war nahe daran, emporzufahren, aus ihrem Versteck hervorzubrechen und ihre Empörung über solche perverse Beweisführung hinauszurufen. Aber noch immer fühlte sie sich von Schamhaftigkeit bemeistert, – als das belauschte Gespräch eine unvermutete Wendung nahm, die ihr den Entschluß, ihre Anwesenheit zu offenbaren, merklich erleichterte. Sokrates hielt es nämlich für angezeigt, da er eben das Thema der seelischen Raserei angeschlagen hatte, sein stets parates Steckenpferd von der Seele überhaupt in hoher Schule zu reiten; und da er nun von der »Unsterblichkeit« zu philosopheln anfing, gewann Lais tatsächlich die ersehnte Möglichkeit, hervorzutreten, ohne sich als Zuhörerin der vorangehenden Päderastosophie zu kompromittieren. Wie und mit welch überraschendem Erfolg sie dies in Szene setzte, das wäre eigentlich in unmittelbarem Anschluß zu erzählen; allein Aristipp verschob mir diese Sensation noch auf einige Minuten, da er der Notwendigkeit einer persönlichen Erläuterung zum Vorhergehenden nicht auszuweichen vermochte.

– Ich muß dir darüber, so betonte er mir gegenüber, reinen Wein einschänken, und ich bin dessen bewußt, daß ich hier zu dir als dem Bürger eines späteren Jahrtausends spreche. Denn ich darf die Mißdeutung nicht aufkommen lassen, als hätte mich meine Zugehörigkeit zu jenen Kreisen auch auf deren intrasexuelle Anschauungen verpflichtet. Das wäre ein schmählicher Verdacht, den ich ein für allemal abriegeln möchte, mit der nämlichen Entschiedenheit, mit der ich mich im Verkehr von Mann zu Weib als Apostel der freien Liebe bekenne. Meine Überzeugung, daß in unserem Hetärentum ein mächtiger hellenischer Kulturwert enthalten ist, findet sein Gegengewicht in der andern, daß jene aktiv und passiv betriebene, von Rhetoren und Dichtern verherrlichte Knabenliebe einen nie zu übertünchenden Schandfleck der Epoche darstellt. Ins Feuer mit den Dialogen und Oden, die jemals aus diesem Sumpf zu geiler, mißduftiger Blüte aufschossen!

Mir selbst – ergänzte er – hatte man schon in sehr frühen Jahren beigebracht, ich wäre ein recht hübscher Bursche, und ich hegte diese Überzeugung als eine Selbstverständlichkeit, da ich das Verhalten meiner Umgebung mit ihren Worten in Einklang sah. Willig ging ich auf alle Bevorzugungen und Zärtlichkeiten ein, aus dem Gehege der gleichaltrigen und etwas reiferen Mädchen wehte es mir wie ein traumhaftes Glück entgegen, nicht ganz verstanden, aber schon ziemlich richtig erahnt, und schon als Knabe hatte ich eine kleine Vergangenheit; von gewissen Süßigkeiten des Daseins hätte ich mehr erzählen können als mancher von den Poeten, die aus nie gepflückten Küssen elegische Verse flechten. Dabei blieb mir die Verweichlichung fremd, eifrig gepflegte Lehrdisziplinen und Leibesübungen hielten mich straff, aber selbst in den ernstesten Beschäftigungen blieb es mir gegenwärtig, daß alles Klare und Gegenständliche doch nur den Vordergrund bilde zu den dionysischen Tiefen, in deren Zauber ich bereits lustvoll erschauernd geblickt hatte. Wie fiel ich da aus allen Himmeln, als eines Tages ein erwachsener Mann – noch dazu ein mit Mentorbefugnis ausgerüsteter – mit süßlichem Lächeln mir zu verstehen gab, daß mein erotischer Horizont einer Erweiterung fähig und bedürftig wäre! als er mit einem Anflug von zärtlich gemeinten Handgreiflichkeiten einen Kursus beginnen wollte, dem ich allerdings, zuerst von Staunen, dann von Grauen ergriffen, schnell genug ein jähes Ende bereitete, – »pyx kai lax« – fäustlings und mit der Ferse ausschlagend, wohin es treffen wollte! Nie zuvor und nie nachher hat mich so brennende Wut übermannt, wie damals, als ich dem verliebten Präzeptor disziplinlos in die Gedärme stampfte, mit einem plötzlichen Kraftüberschuß, der mir in der Palästra einen hohen Kampfpreis gesichert hätte. Noch lange nicht war ich durchaus wissend geworden, denn man muß wohl systematisch-phädrisch erzogen sein, um die richtige Übersicht über die Rasereien und Finessen der Männerliebe zu erlangen. Mir genügte der allererste Anfang der homosexuellen Lehre, um mir für alle Folgezeit den tiefsten Ekel gegen alles einzupflanzen, was in Wort und Berührung auch nur im Entferntesten an diese Verschmelzung von geistigen und körperlichen Unflat erinnert. Denn diese angebliche Geistigkeit ist nur die Maske, hinter der sich die widerlichste Erscheinung des Zeitalters verbirgt. Erst später gelangte ich dazu, den ganzen Umfang der Epidemie zu erkennen. Bis auf wenige Ausnahmen waren sie alle davon angefressen, denen ich im Verfolg meiner akademischen Studien begegnete. Und zu meinem Leidwesen muß ich bekennen: das, was ich einen Freund nennen möchte, was mir vorschwebt, wenn ich an Orest und Pylades, an Theseus und Peirithoos denke, das ist mir im Leben versagt geblieben. Strengstens hatte ich hinfort allen Genossen angesagt, daß in meiner Gegenwart das bewußte Thema niemals mit einer Silbe gestreift werden durfte. Sie fügten sich wohl meinem scharfbetonten Wunsch, verhehlten indessen kaum, daß sie mich als einen Pedanten mit nur halbentwickelter Erotik eigentlich zu bedauern Ursache hätten.

»Aristipp, der Lebenskünstler als philiströser Pedant! das gäbe ein besonderes Kapitel in einem künftigen Buch, das du selbst freilich besser hättest verfassen können, als einer der heutigen; ich vermute,« – so ergänzte ich – »daß wir uns in Anbetracht dieser scheußlichen Erotik bei den Alten mit sehr viel lückenhaftem und falschem literarischem Trödel umherschleppen. Übrigens ist es noch nicht zu spät, um da einmal gründlich mit dem Kehrbesen dreinzufahren; du wandelst hier leibhaftig, du bist mit deinem Wissen auf verschiedene Epochen eingestellt, also wie wär's, wenn du dich jetzt noch zu einer solchen Schrift aufrafftest?«

– Sie wird ungeschrieben bleiben; aber einige Zeilen aus den nichtexistierenden Kapiteln will ich dir mitteilen. Daß du meinen Horror vor der Sache selbst teilst, versteht sich ja von selbst.

Aber mit der einfach schematisierenden Abfertigung »das ist ein Laster!« kommen wir da in keiner Beziehung aus. Es blieben zuviele unerklärte Rückstände, und wenn es uns auch nur gelingt, einige zu lichten, so verlohnt sich schon die Spürarbeit. Denn über die Liebe im Allgemeinen gibt es ganze Bibliotheken, über das dunkle Land der Liebe indeß nur spärliche brauchbare Seiten. Zuerst also grundsätzlich: Woher unser Horror?

»Ich glaube, Aristipp, darüber braucht man sich nicht den Kopf zu zerbrechen; er ist der einfache Widerwille gegen das Unnatürliche, von der Natur selbst Verabscheute.«

– Das ist eine Umschreibung in Worten, aber keine Erklärung. Denn erstlich wissen wir viel zu wenig von den Absichten und Neigungen der Natur, als daß wir genau ansagen könnten, was sie duldet und was sie verwirft. Und zweitens verfahren wir unehrlich, wenn wir so allgemein behaupten: alles Unnatürliche ist uns verhaßt. Im Gegenteil ließe es sich vertreten, daß zahlreiche Ausstrahlungen der Kultur uns wesentlich deswegen als fein und begehrenswert erscheinen, weil sie der Natur konträr sind. Das Kind und das Tier stehen der Natur näher als ich und du, und man kann als sicher annehmen, daß im Empfindungsfelde eines milchschlürfenden Kindes oder eines kirschenpickenden Vogels der Nikotinbrand, an dem du dich erquickst, als Greuel contra naturam erscheint. Aber auch im Bereich der von aller Welt verfehmten Laster, sofern sie die Ethik betreffen, gibt es kaum ein einziges, das in jeder Form und in allen Zusammenhängen den Abscheu herausfordert; und wir besäßen kein Epos und keine Dramatik ohne die Fähigkeit des Lasters, im Bunde mit dem Geschmack als gefällig, im Bunde mit der Leidenschaft als imposant aufzutreten. Ja man brauchte sich gar nicht in Spitzfindigkeiten zu verlaufen, um Fälle zu konstruieren, in denen ganz ordinäre, niedere Laster wie Undank, Bestechlichkeit, Geiz, leidlich gute Figur machen können . . .

»Zugestanden, das könnte ein schlauer Komödienschreiber erkünsteln. Aber im Geschlechtlichen liegt das alles doch ganz anders, da tritt doch die Absicht der Natur klar zutage, und was sich dagegen auflehnt, das wird mit Recht von uns gebrandmarkt.«

– Das heißt, wir bringen alles auf einen durchsichtigen Generalnenner, auf die Fortpflanzung, auf die Arterhaltung. Was nicht hindert, daß zahllose Mittel aufgeboten werden, um diesen Naturplan unwirksam zu machen und um frevelhafte Geschlechtsgenüsse zu erschleichen, die ganz extra naturam liegen. Wie groß ist das Gebiet der Psychopathia sexualis, selbst wenn wir die Homosexualität und die sehr seltene, ebenso verwerfliche Nekrophilie gänzlich ausschalten. Aber der Kulturmensch betrachtet die meisten voluptuösen Verirrungen, sobald sie nur im leisesten bisexuell gefärbt sind, mit leidlicher Toleranz. Er lehnt sie als unschön ab, nimmt aber vielfach an ihnen ein pikantes Interesse und gerät nicht in die Weißglut des Hasses. Es genügt also nicht, daß wir einen Akt als der Arterhaltung zuwider erkennen, um uns in jenen äußersten Horror hineinzutreiben, wie ihn die Vorstellung eines Urnings erregt. Wir unterscheiden also auf diesem Felde Laster in Rangstufen und weisen dem erörterten einen gänzlich isolierten Platz an, sozusagen im Brennpunkt des Ekels, der also noch einen anderen Grund haben muß, als die physiologische Verleugnung der gattungerhaltenden Naturabsicht.

»Du stellst das Problem sehr knifflich, und ich glaube nicht, daß es möglich sein wird, seine Lösung zu finden. Imponderabilien sind eben unergründlich.«

– Solange man sich nicht entschließt, den streng logischen Weg zu verlassen. Auf diesem können wir verbleiben, wenn wir den Ekel im allgemeinen – bis auf diesen besonderen – als nützlichen Wink für den Organismus begreifen. Der Ekel ist ein Warnungssignal, das sich vor dem Schädlichen aufpflanzt. Er steigt auf in Übelduft und Mißgeschmack, um anzuzeigen, hier lauern Verwesungskeime und Gifte. Aber alsbald versagt der logische Fortgang; denn wäre das Ekelgefühl des gesunden Menschen gegen diese Verirrung lediglich eine hygienische und gattungsfördernde Warnung, so müßte es in gleicher Stärke auch bei jeder mannweiblichen Perversion auftreten, was ersichtlich nicht der Fall ist. Nein, hier zeigt uns die Natur ein ganz anderes Gesicht: es ist das einzige Mal, daß sie selbst die Fahne der Moral heraussteckt, mit einem ethischen Befehl a priori, ohne Nebenabsicht, indem sie kategorisch verkündet: »das darfst du nicht!«

Ein großer Forscher hat gesagt: Die Natur macht sich nichts aus unseren analytischen Schwierigkeiten, und man hat hinzuzufügen: sie macht sich auch nichts aus den ethischen Schwierigkeiten, mit denen der Mensch sich herumschlägt. Hinsichtlich aller anderen Laster kennt sie kein Bedenken, und wehe wenn wir uns ihrer Führung überlassen, denn sie ist die Großmeisterin der Unmoral. In ihrem eigenen Walten stellt sie für jeden erdenklichen Frevel das kolossale Paradigma auf in allen Formen grausamer und unsinniger Verderbtheit, und ihre biologischen Gesetze mit dem Kampf Aller gegen Alle an der Spitze sind nur physikalische Ausdrücke für die Scheußlichkeiten, vor denen die weltweise Moral menschlicher Sittenlehre sich entsetzt. Nur in dem einzigen Punkt besinnt sich die Natur auf etwas Göttliches, Transzendentes, und gerade im Höhepunkt der von ihr verordneten Sinnlichkeit läßt sie das Übersinnliche durchbrechen. Sie bezeichnet das Maximum der Wonne als den Brennpunkt der Moral und konstruiert dazu im schärfsten Kontrast den Gegenpol, den sie mit Ekel umgibt zum Zeichen, daß sie selbst, die mit allen Lastern Befreundete, mit allen Greueln Gewaschene, hier zurückschaudert. Hier haben wir nicht nach Warum und Weil zu fragen, sondern die unmittelbare Gegebenheit anzunehmen, den durchdringenden Zuruf der Natur: das darfst du nicht, es ist die einzige Beziehung, die selbst noch in der Brutstätte aller Greuel als unmöglich perhorresziert wird!

Und für diesen scharf präzisierten Zorn der Natur haben wir auch die direkten Beweise. Vor allem in der Tierwelt. Alle menschlichen Laster finden wir in ihr vorgebildet, und die gesamte Tierfabel von Äsop, Babrius bis zu Lafontaine lebt davon; wenn man auch einräumen muß, daß im Animalischen die Bestialität niemals die Hochstufe erreicht wie im Menschlichen. Sicherlich gibt es auch bei den niederen Lebewesen geschlechtliche Perversionen aller Art, aber das Singulare ist deutlich genug hervorgehoben: der von der Naturmoral einzig verpönte homosexuelle Trieb scheint beim Vieh als unterviehisch nicht vorzukommen.

Man darf das sogar mit ziemlicher Bestimmtheit hinstellen. Die Beobachtungen seit Cuvier bis in die neueste Zeit liefern dafür ausreichende Belege. Gewisse groteske Versuche von Hunden, Affen, auch von Insekten, widerstreiten dem nur scheinbar: niemals geht das Tier sexuell an Seinesgleichen aus elementarem Drang, sondern höchstens aus strotzender Not der Säfte, wenn ihm ein Weibchen nicht verfügbar:In der »Société de Biologie« erklärte ein kenntnisreicher Zoologe (1898): »Man hat eine gewisse Zahl von Beobachtungen über homosexuelle Beziehungen zwischen Tieren angeführt; aber diese Beziehungen, übrigens häufig sehr unvollständig, kommen zwischen Männchen ausschließlich bei Abwesenheit vom Weibchen vor.« Ferner haben die Experimente von R. Dubois deutlich gezeigt, daß z. B. Käfer außerhalb der sexuellen Isolierung nur dann »päderastisch« verkehren (der Zoologe gebraucht den Ausdruck trotz des naheliegenden philologischen Widerspruchs), wenn sie durch bestimmte Duft-Imprägnierung in einen Irrtum versetzt werden. woraus also folgt, daß wir dem Vieh bitter Unrecht tun, wenn wir diese Aberration eine Schweinerei nennen. Jedem Eber würden sich die Borsten sträuben bei dem Verdachte, er wäre fähig, an einem maskulinen Frischling seine Zärtlichkeiten auszulassen. Die Schweinerei ist vielmehr ein Reservat der Menschen – eine Menscherei – und besonders widerlich, wenn sie in der Diktion eines Sokrates mit dem lyrischen Aufputz »du Himmlischer!«, »du Goldener!« überschminkt wird. Man erzählt uns kulturgeschichtlich, die Männerbuhlschaft wäre in roher Gestalt aus Lydien herübergekommen, um dann auf thebanischem Boden sublime Form anzunehmen; bis zur politischen Apotheose der heiligen Dreihundert-Schar auf dem Schlachtfeld von Chäronäa. Aber das sind Motive für Romanzen, Modelle für Skulpturen, deren heroische Geste nicht über den wahren Charakter dieser Freundschaften täuschen kann. Was im Stolz des Waffenschmuckes noch ein erträgliches Ansehen zeigen mag, verfällt abseits des heldenhaften Blutrausches in platte Wollüstelei, und mir selbst ist es nicht zweifelhaft, daß sich die Entwicklung in umgekehrter Richtung vollzogen hat. Sie begann in Sparta und auf Kreta aus geistigen Keimen, glitt dann ins Schwärmerische und degenerierte schließlich libidinös und abstoßend, wie jede Ergötzlichkeit, die nicht durch Selbstzucht in Ordnung gehalten wird. Eine Pädagogik, die ihr Raum gewährt, ist von vornherein zu übeln Resultaten verurteilt, schon wegen ihrer offenbaren Ungerechtigkeit, wegen der flagranten Bevorzugung des schönen Knaben gegenüber dem unschönen, der es mit allem Talent zu keinem Liebhaber bringt und sich während seiner Lernzeit als Zurückgesetzter bemakelt fühlen muß. Der junge Endymion triumphiert, er saugt sich mit »Kalokagathia« voll, das heißt, er wird ein Lotterbube, und hat sich beim Übergang vom passiven Knaben zum aktiven Mann auf das Kunststück einer quasi zwitterhaften Geschlechtlichkeit einzurichten; heute mit süßelnder Philosophie als der Liebhaber eines Jünglings, morgen mit lüsternem Tremolo als der Galan eines Weibes. Ich kann den Beweis nicht führen, aber ich werde den dringenden Verdacht nicht los, daß von all diesen Knabenschändern nicht ein einziger wirklich begriffen hat, was Frauenliebe bedeutet; daß er seine Bipolarität mit einer Einbuße an Wonne am Hauptpol bezahlt. Denn diese ist ein unteilbares Höchstgut, und wer zwiegenüßlich von ihr etwas abzweigt, der betrügt sich gerade im wesentlichen Punkte. Wenn seine Geliebte nur feinnervig genug ist, so wird sie es schon hindurchspüren, daß sie in seiner Umarmung nicht Göttin wird, sondern bestenfalls ein Ganymed mit weiblichen Konturen. Unreinlichkeit auf der ganzen Linie, peinliche Variationen über Androgynie und Hermaphroditismus, die sich auch plastisch ausgewirkt haben bis zur Darstellung eines »Aphroditos«, einer bärtigen Venus. Was den Leuten als Problem vorschwebte, war die Verschmelzung männlicher und weiblicher Form, allein diese Synthese ist weder etwas Künstlerisches, noch überhaupt etwas mit gesunden Sinnen Erfaßbares, sondern schlechthin eine Barbarei.

»Nach deiner Tonart zu schließen, Aristipp, stehst du beinahe auf dem Standpunkt jener Gerichtsordnung Carolina, nach der die Päderasten mit dem Feuertode bedroht wurden. Und bestraft werden sie ja auch heute noch nach einem vielzitierten Paragraphen des Strafrechts, der seltsamerweise den Frauen gestattet, was er den Männern bei Gefängnis und Verlust der bürgerlichen Rechte verbietet.«

– In dieser Unterscheidung erblicke ich keine strafrechtliche Schrulle, eher die Verbeugung des Gesetzgebers vor der Ästhetik. Denn diese ist, wie schon erörtert, männlich betont, sie operiert mit dem galanten Begriff des Femininen als des schönen Geschlechts, und so wird der Tribade bei aller Verwerflichkeit der Schönheitskult noch als mildernd angerechnet. Übrigens tust du mir Unrecht, wenn du mir das Gelüst nach Strafrache zutraust. Ich finde es im Gegenteil ganz erstrebenswert, jenen Paragraphen aus der Welt zu setzen; nicht etwa aus Weichseligkeit, sondern aus Reinlichkeitsbedürfnis: mir wäre ein Kriminalkodex ein viel zu sauberes Instrument, als daß ich damit offenbaren Unflat anfassen möchte. Genug davon! Wir unterbrachen das Abenteuer meiner Lais auf der Bank am Ilissos, gerade als das Gespräch der beiden Männer ihr ermöglichte, aus ihrem Versteck aufzutauchen. Hier ergab sich eine höchst merkwürdige Fortsetzung, auf die man weder bei Plato noch bei Xenophon einen Hinweis findet. Laß dir also erzählen:

* * *

– Sokrates und sein Begleiter hatten, wie erwähnt, endlich von dem vermaledeiten Thema abgeschwenkt, um sich mit der »Unsterblichkeit der Seele« zu beschäftigen. Es ist dir sicher bekannt, nach welchem Schema die Athenische Weisheit diese Frage zu behandeln pflegte.

»Ich glaube, das könnte ich auswendig hersagen: Zwei Begriffspaare mit konträrem Inhalt werden hingestellt, gleichsam als Gedankenvieh, das nach einer feststehenden Methode in denselben Trog abgemolken werden soll: Schlafen – Erwachen: linkes Paar, Leben – Gestorbensein: rechtes Paar. Nun wird deduziert: das Schlafen und das Erwachen sind entgegengesetzte Dinge, sie folgen aber aufeinander und auseinander; somit ist jedes Gegebene die Folge aus dem ihm Entgegengesetzten. Schluß: da auch das Leben und das Gestorbensein entgegengesetzt sind, und da der Tod aus dem Leben entsteht, so muß man mit aller Bestimmtheit erklären: das Leben entsteht auch aus dem Tode, womit das Wiederaufleben der Seele und ihre Unsterblichkeit bewiesen ist.«

– Nicht zu vergessen, daß der Meister gewohnt war, diesen kurzen Ideenfaden bis aufs äußerste zu strecken, um seine Zuhörer zu beipflichtenden Zurufen zu veranlassen. Diese Echos »Ja freilich«, »ganz gewiß«, »allerdings«, »wie könnte es anders sein« setzten automatisch, kontrapunktisch ein, und es machte keinen Unterschied, ob der Jünger Kebes oder Simmias oder Phädrus hieß. Hier nun raffte sich Lais auf, sie schritt um die Bank herum, verneigte sich vor dem Alten und bat um Entschuldigung für ihr Wagnis, das man ihr nicht als eine beabsichtigte Störung auslegen möchte. Sie wäre eben erst, vor wenigen Minuten, als Spaziergängerin hier vorübergekommen, hätte zufällig die letzten Worte erlauscht, und bäte um die Vergünstigung, sich an dem Diskurs zu beteiligen. An einem Sokrates dürfe man ebensowenig vorübergehen wie an einem geöffneten Tempel, und sie könne ihre Reverenz nicht besser erweisen als durch ihre Bitte, deren Erfüllung ihr das flüchtige Glück dieser Begegnung zu einem großen Erlebnis erhöhen würde. Im Grunde verfuhr Lais mit Arglist, denn ihre Distanzverehrung für Sokrates hatte ja schon einen mächtigen Stoß erlitten, und in der Teilnahme am Dialog wollte sie sich keineswegs mit der Rolle einer Jasagerin begnügen.

Sokrates blickte überrascht auf: Von wo kommst du hergewandert, schöne Jungfrau, und wie nennt man dich?

– Ich komme vom Hymettos, an dessen Lehne meine Eltern ein kleines Anwesen besitzen, und ich heiße Myrrha.

»Und du glaubst, obschon vom Lande und derartigen Gesprächen fremd, du glaubst, Myrrha, verstanden zu haben, was du hier zufällig erhorchtest?«

– Jawohl, Ehrwürdiger, du sprachst von der Unsterblichkeit der Seele, und mein Gemüt erregte sich freudig, als ich aus deinem Munde bestätigt vernahm, was ich inbrünstig für mich selbst stets erhoffte: die Unvergänglichkeit meiner eigenen Seele!

Sokrates wurde unruhig: Jungfrau, du redest nicht eigentlich wie sonst ein Landkind vom Hymettos; aber gleichviel; was dir deine innere Stimme zuflüsterte, ergänzt sich mit dem Beweise, den ich soeben diesem Jüngling gab. . .

». . . und der an sich unwiderleglich ist, so wahr ich Phädrus heiße!« bekräftigte der andere.

– Offen gestanden, Sokrates, sagte Lais, mir genügt er doch nicht gänzlich; oder vielmehr, er scheint mir einen Fehler zu tragen, einen ganz kleinen, fast unmerklichen Fehler, – womit ich natürlich nicht das mindeste gegen das Beweisthema selbst einwenden will. Aber vielleicht wäre es möglich, – in aller Bescheidenheit sei es gewagt, wenn auch wohl mit unbeholfenen Worten, – vielleicht wäre es möglich, den Beweis noch etwas abzurunden, oder zu verschönen, durch Entfernung dieses kleinen Fehlers?

Phädrus horchte hoch empor. Er stand ersichtlich unter dem Reiz der neuen Erscheinung, aber noch stärker unter dem erstaunlichen Eindruck, daß sich hier so etwas wie eine Polemik hervorwagte. Aber das war ja ganz undenkbar, vollends aus dem Munde eines Frauenzimmers, das nicht im mindesten legitimiert war, der allerersten Autorität entgegenzutreten!

– Sage doch, Sokrates, fuhr Lais ganz unbefangen fort, wie würdest du es aufnehmen, wenn ich plötzlich behauptete, ich hieße gar nicht Myrrha, sondern Hekuba, und wäre die Gattin des vor acht Jahrhunderten verstorbenen Troerkönigs Priamos? du dürftest meine Aussage als höchst unwahrscheinlich bezweifeln, hättest aber kein Recht, das Auftreten einer Hekuba neben dir als unmöglich zu erklären. Denn nach deiner eigenen Lehre entspringt ja das Leben aus dem Tode, und es ist kein Grund ausfindig zu machen, warum dein Beweis nur für die Seelen gelten sollte und nicht auch für die Körper. Oder was meinst du, Phädrus, habt ihr nicht soeben ohne irgendwelche Einschränkung festgestellt, daß aus jedem Gestorbenen ein Wiederauflebendes hervorgeht?

Phädrus: Ja freilich, Myrrha, das haben wir.

Sokrates: Halt! Gewisse Einschränkungen verstehen sich doch stillschweigend, und du tust Unrecht, Phädrus, wenn du diesem Mädchen mit einem »Ja freilich« leichthin nach dem Munde redest. Setzen wir selbst den äußersten Fall, daß Hekuba wiederzuerstehen vermöchte, so wissen wir doch, sie war eine runzlige Alte, während du, Myrrha, mit deiner schimmernden glatten Haut eher eine Briseis vorstellen könntest, als eine verwitterte Greisin.

– Aber Sokrates, jetzt stürmst du ja mit jedem Wort gegen deine Theorie! denn Alter und Jugend sind doch entgegengesetzt, das erste folgt auf die zweite, mithin fällst du doch vollkommen aus deiner Lehre, wenn du nicht folgerst: ebenso muß auch die entrunzelte Jugend aus dem runzligen Alter entspringen! Allerdings wäre hinzuzufügen: mit deinem Kettensatz, Sokrates, ließe sich jeder beliebige Widersinn beweisen, etwa der darbende Tantalus müßte satt werden, wenn er auch keine Frucht erhaschen kann, weil doch die Sättigung auf den Hunger ebenso notwendig folgt wie das Erwachen auf den Schlaf; und wenn ich selbst mich als wissenshungrig fühle, so brauchte ich wohl gar nicht auf Geistesnahrung zu warten, um Sättigung zu erlangen. Allein, ich fürchte, Sokrates, auf diesem Verzichtwege könnte ich verschmachten, und ich hege vorläufig gar keine Aussicht, durch deine Belehrung aus meiner Wissensqual herauszukommen.

Sokrates kämpfte seine Verstimmung nieder, räusperte sich und entgegnete: Du besitzt offenbar gewisse Geistesgaben, Dame, dazu eine auffallende Bildung, und dir fehlt vielleicht nur ein Unterrichtsjahr bei mir, damit du die Fehlgänge deines Denkens erkennst. Ich sage jetzt »Dame« und nicht Jungfrau oder Mädchen, weil ich dein Versteckspiel beenden möchte. Du bist kein Landmädchen vom Hymettos, sondern gehörst zu jenen Kreisen, die mit der Philosophie tändeln. Wärest du aus Athen, so wärst du mir von Angesicht nicht unbekannt, und wenn ich die Negativspur weiter verfolge, so gelange ich an eine ganz geringe Auswahl von Möglichkeiten. Alles zusammengehalten könntest du Lais sein.

– Ich bin Lais.

»Nun!« rief Phädrus, »ist er nicht ein Wunder an Hellblick? das macht ihm kein Gorgias und kein Prodikos nach! Auf der andern Seite ist nicht zu leugnen, daß die Argumente der Lais sich hören lassen können, obschon sie dem Meister widersprechen. Am Ende der Dinge wird ja Sokrates Recht behalten, es wäre aber herrlich, wenn wir einen Ausweg fänden dergestalt, daß alle beide Recht behielten.«

»Mit andern Worten, Phädrus,« sprach der Alte, »du fängst an, mich zu verleugnen, denn hier geht es um Ja und Nein, um Alles oder Nichts. Meine große Bejahung galt der Unsterblichkeit der Seele, und wer meinen Beweis anficht, der erschüttert auch die Unsterblichkeit selbst.«

»So sollte man meinen«, echote Phädrus mit merklicher Unsicherheit in der Stimme.

– Nein, Phädrus, genau das Gegenteil sollte man meinen! betonte Lais, die längst Ursache hatte, sich als Siegerin im Turnier zu fühlen. Hast du noch nie von unbewiesenen und unbeweisbaren Sätzen gehört, von Sätzen, die in sich selbst gesichert so fest dastehen, daß jeder Versuch, sie auf Beweis zu stützen, mißlingen muß? Alle Grundgefühle des Glaubens sind wie die geometrischen Axiome unbeweisbar; und man verläuft sich ins Absurde, wenn man sie mit Denkgebilden befestigen will, die viel schwächer sind, als die Sätze selbst. Es ist so, als möchtest du am Berge Helikon ein hölzernes Gerüst außen anbringen, damit er nicht umfällt. Ferner aber: auch im Beweisbaren soll man sich vor Schlüssen hüten, die nichts anderes sind als Analogien, und soll sich in jedem Fall darüber klar werden, wie weit die Analogie reicht und wo sie brüchig wird. Die vom Magister Sokrates für die Unsterblichkeit erdachte Analogie versagte schon beim ersten Ansatz und zerbrach beim zweiten.

»Fast scheint es so,« meinte Phädrus.

»Spare dir den dritten Ansatz, Lais,« resignierte der Alte, indem er einen wehleidigen Versuch unternahm, die Situation durch Lächeln zu mildern, »denn wir reden offenbar aneinander vorbei und verstricken uns nur in Mißverständnisse. Ich gebe trotzdem die Hoffnung nicht auf, zu einer Verständigung zu gelangen, sei es auch um den Preis einer kleinen Nachgiebigkeit meinerseits in Nebenpunkten. Für alle weiteren Erörterungen stehe ich dir in Athen jederzeit zur Verfügung, bitte indeß für heute abzubrechen; denn es tut nicht gut, in der Erregung Themata zu verhandeln, die sich nur bei ruhiger Abwägung aller Motive zu gedeihlichem Ergebnis führen lassen. Möge es dir wohl ergehen, Dame Lais, auf unserem geheiligten Boden. Komm', Phädrus!«

Er erhob sich und schritt mit gesenktem Kopf stadtwärts. Phädrus ging zu seiner Linken, mit einem Schritt Abstand, und mit schüchternem Versuch bisweilen umzublicken, wie in der leisen Hoffnung auf irgendwelche Fortsetzung des Gesprächs mit der schönen Fremden. Aber die wartete geduldig auf ihrem Platz, bis die Männer außer Sehweite waren. Sie konnte noch beobachten, daß die Männer keine Anstalten trafen, die verlorene Rede wiederaufzunehmen, und es durchzuckte sie kurz wie ein Gewissensbiß. Hätte sie nicht etwas mehr Rücksicht nehmen sollen auf die Selbstgefälligkeit des Mannes, dem doch die Güte aus den Augen strahlte? Aber schnell genug überwand sie diese Regung als eine Schwäche, die sich nicht vereinbaren ließ mit der Stellung, die ein Demokrit ihr zugewiesen hatte. Jetzt wie nie zuvor fühlte sie sich als das Edelweib, dessen Gegenwart aufklärend wirken sollte. Und da war ja bereits ein Jünger, dieser Phädrus, dessen eingelullter Intellekt sich unter ihrer Katalyse zu regen anfing. Hier kam es nicht mehr darauf an, ob im dialektischen Geplänkel ein Er oder eine Sie die Oberhand behielt, sondern daß etwas für die umnebelte Wahrheit geschah. Und sie hob sich in dem Bewußtsein, daß es ihr schon beim ersten Versuch gelungen war, aus dem dünstenden Gewölk einen Schwaden fortzublasen.

Zwei Stunden darauf befand sie sich in der Behausung ihrer Freundin Polyxena, die den Vorraum zum Empfange des Gastes in einen Blumenhain verwandelt hatte, und nicht müde wurde, ihre Freude über dessen Ankunft mit ehrlichem Wortschwall zu beteuern.

* * *

Am nächsten Vormittag unternahmen sie ihren ersten Rundgang in der Stadt. Viel neugierige Blicke folgten ihnen, und wenn es Lais nur im geringsten darauf angelegt hätte, so wäre sie bald von einem Schwarm neuer Verehrer umgeben gewesen. Aber das lag durchaus nicht in ihrer Absicht. Hier wollte sie nicht wirken, sondern andächtig auf sich wirken lassen durch die Herrlichkeiten, die sie umfingen. Sie waren kaum hundert Schritt weit gegangen, als sie auf einen Bekannten stießen, der ihrem Besichtigungsprogramm eine Wendung gab. Es war Skopas, in dessen Miene neben dem Ausdruck herzlicher Begrüßung ein merklicher Vorwurf erkennbar wurde: Wie, Lais, du glaubst doch nicht im Ernst, daß du hier als Touristin ein Inkognito durchführen wirst? die Spatzen pfeifen deine Anwesenheit von den Dächern, und ich empfinde es als ein Unrecht, daß unsere Sperlinge eher in Kenntnis gesetzt wurden, als ich. Hier fordere ich schleunige Wiedergutmachung. Erst einige Arbeitssitzungen in meiner Werkstatt, und dann, wenn du brav stillhältst, magst du mich sogar als Fremdenführer benützen, der dir Athen erklärt.

»Beide Aussichten sind sehr verlockend, Skopas. Nur einen kleinen Aufschub wirst du noch gewähren . . .«

– Keinen größeren, als nötig ist, um mein Atelier zu erreichen. Wir kommen unterwegs an den Hauptpunkten vorüber, und das wird zur raschen Orientierung genügen. Polyxena darf in unserer Gesellschaft bleiben, aber ihr allein diesen ersten Rundgang gönnen, – nein, das verlange nicht von mir.

Lais mußte nachgeben. Der Weg zog sich in die Länge, denn in dem Bildhauer erwachte doch von Schritt zu Schritt die Lust, den Eindruck zu beobachten, den die Anlagen der unvergleichlichen Stadt auf die Ortsfremde hervorbrächten. Das gehört zu den Elementen künstlerischer Empfindung und künstlerischen Stolzes: Erhabenheiten sehen ist ein großer Genuß, – ein größerer: sie zeigen. Der Begriff der Alltäglichkeit verflüchtigt sich, das längst Gewohnte wird zur Neuheit, und die Überraschung überfließt vom Geführten auf den Führer.

Aber mit aller Gründlichkeit wurde an der Hauptaufgabe festgehalten, und diese lag in der Werkstatt, wo sich in diesen Tagen ein neues Bild der Göttlichen zu entwickeln begann. Diesmal, so glaubte er, würde er es bis zur unbedingten Vollendung führen; und nachdem sich erst diese Überzeugung im Fortgang der Arbeit befestigt hatte, bewilligte er seinem Modell auch längere Erholungspausen, nach Belieben auszufüllen. Aber inzwischen hatten sich Dinge ereignet, die für den Aufenthalt der Lais eine seltsame Bedeutung erlangten, und nicht nur dafür: in der geistigen Atmosphäre der Stadt ging etwas vor, mit Erregung in Wellenkreisen, die immer sichtlicher wurden, je mehr sie sich verbreiterten.

Wieder wandelten die Freundinnen auf den Straßen am Areshügel vorüber in der Richtung nach dem Stadtteil Kerameikos, sie ließen die Blicke in die Weite auf Akropolis und Museion schweifen, in der Nähe auf die Bildnisse des Hermes Agoraios und all den plastischen reichen Schmuck nahe den Demeter- und Heraklestempeln. Hier merkte man so gar nichts von spintisierender Philosophie, diese Bauten und Statuen redeten ihre eigene Sprache in reiner Form, ihre Urheber hatten nichts beweisen wollen, als das Leben selbst, wie es sich in klarer Gestaltung auslebt, wie es sich aus tiefer Empfindung zu steinerner Offenbarung und ewiger Geltung entwickelt; mit vieler Kunst aber ohne Künstlichkeit, ohne vorgedrechseltes Schema, in Konsonanz ohne Verabredung, jedes Werk für sich selbstsicher wie ein Axiom, und doch nicht lösbar vom Gesamtbild, in dem sich Ausdrücke der Macht und der Demut, des Heldischen und Lieblichen zu einheitlicher Wirkung verbanden.

Auf dem Marktplatz, der Agora, war Gewühl. Dort drüben, nahe der bunten Stoa, erkannten sie den Sokrates, umgeben von disputiersüchtigen Gestalten, ein Anblick, welcher der Polyxena nicht neu war, da er zu den gewöhnlichen Erscheinungen des Lebens gehörte. Allein, dieser Ausschnitt des Marktbildes an der Wandelhalle der Stoa Poikile schien ihr heute doch merklich verändert. Sokrates machte den Eindruck der Gedrücktheit, die Beweissicherheit war aus seinem Antlitz verschwunden, und die anderen gelangten in größerer Ausführlichkeit zu Worte als er selbst. Das war neu. Der Magister beherrschte offenbar nicht die Situation. Dabei war keiner von den prominenten Sophisten, die doch manchmal aufzutrumpfen verstanden, in der Nähe. Nur die Zahmen waren vorhanden, aber bei weitem nicht so gezähmt wie sonst. Sie wollten offenbar aus der Statisterie heraus. Und man konnte bemerken, das manche der bekannten »Ja freilich«-Jünglinge Selbständigkeit markierten.

Einer der jungen Herren, Kebes, trennte sich von dem redelustigen Knäuel. Er schritt quer über den Platz, wie suchend, und fand bald den Standort der beiden Damen; verbeugte sich sehr artig vor ihnen und fragte, ob er das Wort an Lais richten dürfte. Polyxena hatte beim Gruß seinen Namen genannt, und da Lais sich der Anrede nicht entzog, so begann er:

– Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges, das deine Anwesenheit, schöne Fremde, in unserer Gruppe an der Wandelhalle erforderlich macht. Nimm an, daß wir von deiner Begegnung mit dem Meister genaue Kenntnis besitzen. Phädrus hat erzählt, Sokrates bestätigt, wenngleich ohne sonderliches Vergnügen, und wir haben uns erlaubt, den Faden da aufzunehmen, wo er vor wenigen Tagen auf der Landstraße am Ilissos abgeschnitten wurde. Damals handelte es sich, wie du dich entsinnst, um die Unsterblichkeit der Seele, allein, nunmehr sind neue Fragen aufgetaucht, bei deren Erörterung wir nicht mehr mit derselben Leichtigkeit auf Sokrates' Beweise einzugehen vermögen wie ehedem. Zumal wir erkennen mußten, daß er selbst jetzt beflissen ist, mehrere seiner früheren Argumente abzuschwächen, umzubiegen und ihnen einen veränderten Sinn unterzulegen. Das hat uns doch sehr stutzig gemacht! Du, Lais, bist durch so hohe Verstandesgaben ausgezeichnet, daß du die Gegenmotive gewiß auch jetzt rascher und sicherer auffindest, als einer aus unserem Kreise . . .

– Gegenmotive? unterbrach Lais; und wenn solche nun gar nicht am Platze wären? wenn Sokrates heute Unwiderlegliches vortrüge?

– Nein, Lais; wir sind mißtrauisch geworden und stehen heut auf dem Standpunkt: es gibt nur einen Weg der Wahrheit. Wer ihn nicht allzeit innehält, der findet ihn auch nicht gelegentlich. Wir bitten dich also, nähere dich unserer Gruppe dort und beteilige dich an der Unterredung. Wir sind sicher, in deiner Gegenwart werden sich abermals Lichtpunkte entzünden, an kritischen Stellen der Debatte, die uns sonst verdunkelt bleiben; wo wir zwar spüren, hier ist etwas nicht in Ordnung, ohne völlig zu erraten, wo in der Deduktion oder Induktion die schadhafte Lücke verborgen liegt. Willst du uns beistehen?

Lais lehnte ganz entschieden ab. Nein, dort in der Männerversammlung wäre nicht ihr Ort. Und was bei jener zufälligen Begegnung sich wie eine Improvisation ergeben hatte, würde auf der Agora peinlich werden, wenn es wie ein beabsichtigtes Theater herauskäme. Sie möchte es daher durchaus vermeiden, in ecclesia aufzutreten, in Behandlung eines ihr unbekannten Themas, dessen Verfolg den berühmten Mann abermals in die Rolle des Angegriffenen drängen könnte.

Kebes lenkte ein: Du besitzt ein meisterliches Geschick, in eine Taktfrage umzuwandeln, was als eine Angelegenheit reiner Philosophie gedacht war. Zudem merke ich dir an, daß dich noch ein anderes Bedenken zu deiner Weigerung bestimmt: du befindest dich in Gesellschaft und willst Polyxena ebensowenig zur Debatte mitführen, wie sie allein lassen. Aber wenn ich dir meine Bitte in abgeschwächter Form vortrage, wirst du sie gewiß erfüllen. Nur in wenigen Worten will ich dir mitteilen, welches Problem wir soeben besprachen, und du sollst mir, mir allein, in ebenso kurzen Worten erklären, was du davon hältst. Stelle dir vor, du wärst Aspasia, und ich bäte dich um eine Audienz; sie schlägt sie keinem ab, den die ehrliche Wißbegier zu ihr treibt.

Polyxena unterstützte dies Gesuch; sie selbst verstünde zwar von solchen Dingen sehr wenig, allein die Freundin hätte doch nun ihren Standpunkt gewahrt und könnte mindestens anhören, was der junge Herr auf dem Herzen hatte.

Und während sie langsam unter dem Säulengang des Apollotempels auf und ab wandelten, brachte Kebes das strittige Thema zum Vorschein:

Wiederum handelte sich um eine Probe der bei Sokrates so beliebten Kontrast-Beweise. Der Meister hatte als ein philosophisches Fundament die These hingestellt: Wenn sich zu einem Begriffe zwei entgegengesetzte auffinden lassen, so sind diese zwei Kontrastbegriffe identisch. Exempel: die Besonnenheit ist der Unsinnigkeit entgegengesetzt; aber auch die Weisheit ist der Unsinnigkeit entgegengesetzt; folglich – wer kann sie zählen, diese wimmelnden »ergo«s – folglich ist Besonnenheit und Weisheit einunddasselbe. So kurz, wie ich es dir andeute, Lais, hat es Sokrates allerdings nicht gemacht; er brauchte Stundenumwege, um dies zu entwickeln. Allein, das »folglich« stand doch unverrückbar, und wir mußten die identische Gleichung hinunterschlucken, weil sich doch beide Glieder der Gleichung als entgegengesetzt zu einem bestimmten Dritten darstellen.

– Und ihr habt das wirklich glatt hinuntergeschluckt?

»Zuerst unbedenklich; nämlich bis zur vorigen Woche. Allein, seitdem Freund Phädrus mit einem Anhauch von Skepsis heimkehrte, haben wir das Kapitel revidiert, und jetzt unterliegen wir dem Zweifel, ohne recht zu wissen, wie wir ihn begründen sollen. Es stimmt uns da etwas nicht, und wir zerbrechen uns den Kopf, wo dieses Etwas sitzt, und warum es nicht stimmen will.«

»Darf ich vielleicht meine ganz bescheidene Meinung äußern?« meldete sich Polyxena; »sieh einmal, Kebes, neben mir wohnt der Schankwirt Thlaps, bei dem ich manchmal Wein kaufe; der Mann hält auf Ordnung in seinem Geschäft, verrechnet sich nie, führt richtiges Maß, vermeidet jeden Zank und gilt darum in der ganzen Straße für besonnen. Allein, er stammt aus Böotien, ist auch so dumm wie nur irgendein Böotier, man kann kaum ein Gespräch mit ihm führen, und es wäre ganz abgeschmackt, ihn als weise zu bezeichnen. Ich meine also, zwischen Besonnenheit und Weisheit muß doch noch ein Unterschied obwalten.«

»Ja aber warum, warum?« rief Kebes, »da ja doch die Logik, auf den Kontrastbeweis gestützt, für ihre völlige Gleichheit spricht!«

– Nein, Kebes, sagte Lais, die Logik spricht dagegen, und ich finde es erstaunlich, daß ihr überhaupt ein solch fadenscheiniges Gedankengewebe in Gebrauch nehmt. Weil nämlich das Wort »entgegengesetzt« nicht das geringste besagt, wenn nicht hinzugefügt wird, unter welchem Gesichtspunkt der Kontrast verstanden wird. Zum Beispiel: der Feige ist dem Tapfern entgegengesetzt, begrifflich, nach sittlicher Qualität genommen. Der Trojaner Hektor war tapfer, und ihm war Achilles entgegengesetzt, aber in anderem Betracht, nämlich politisch und kämpferisch. Nach Sokratischem Schema müßte sich der Unsinn ergeben: Achill war feige, denn er bildete den Gegensatz zur Tapferkeit des Hektor. Welch brüchige Logik! Der Löwe ist nach Größenmaß der winzigen Fliege, nach Mut gewertet dem furchtsamen Hasen entgegengesetzt; jenes »folglich« verlangt die Fortsetzung: Fliege gleich Hase, und man könnte ergänzen: der nach Fliegen lüsterne Frosch schnappt Hasen. Und mit solchen Querköpfigkeiten vertrödelt ihr Athener eure Lehrzeit? Darauf gründet ihr eure Systeme? Blickt um euch Leute, schaut empor zu eurer Akropolis und überlegt, wie ein Baumeister fundamentieren muß, damit ein ragendes Werk Bestand habe! Ich fange an zu glauben, daß nur eure Künstler nicht aber eure Philosophen logisch zu schaffen vermögen, ja ich vermute . . .

Die letzten Worte sprach sie schon in den Wind. Kebes hatte sich losgemacht, um zur Gruppe an der Bunten Stoa zurückzustürmen. Er war mit Motiven vollgeladen, er barst vor polemischem Drang. Und von ihm aus strahlten Effluvien auf seine Genossen, unter denen ein neues Replikwort aufstieg, »Allerdings nicht!« Das gab eine Erregung, wie man sie in dieser Art noch niemals im philosophierenden Kreise auf dem Marktplatz verspürt hatte.

Aber die Aufmerksamkeit der Freundinnen wurde abgelenkt durch das Auftreten eines Magistratsboten, der sich einer Weisung entledigen wollte. Diese da, die größere, wäre doch wohl Lais? Nun, diese Dame solle sich baldtunlichst zu einer Vernehmung auf dem Stadthaus einfinden, vor dem Archonten Korax.

– Ich soll vernommen werden? weshalb denn? was wirft man mir vor?

»Darüber wird sich die Behörde persönlich mit der Dame auseinandersetzen. Mein Auftrag ist beendet.«

Sie nahm sich die Ladung nicht sonderlich zu Herzen, denn hier mußte wohl ein Irrtum vorliegen, der sich bald aufklären würde. Aber Befehl war Befehl, und so verfügten sich die beiden nach dem Archeion, wo ihnen bedeutet wurde, der Anwesenheit der Polyxena stünde nichts im Wege, vorausgesetzt, daß sie sich als stumme Zuhörerin verhielte.

Der Archont Korax empfing sie mit leidlicher Höflichkeit: Du bist nach amtlicher Ermittlung Lais aus Korinth, wohnhaft bei Ägina auf eigenem Grundstück, zur Zeit vorübergehend aufenthaltlich bei der Hetäre Polyxena, – mithin nach Stand und Beruf vermutlich ebenfalls Hetäre?

»Ich sehe keinen Grund, diesen Stand zu verleugnen, zumal er sich im Lande allen Ansehens erfreut. Was mich persönlich betrifft, so verkehren in meinem Hause hervorragende Persönlichkeiten, und dieser Umgang allein sollte mich wohl genügend vor allem Verdacht schützen.

– Dein Umgang in Ägina steht hier nicht zur Verhandlung. Wir befinden uns hier in Athen und üben unsere eigenen Gesetze. Gynäkomenos! – damit wandte er sich an einen nachgeordneten Beamten, der eine Rolle zur Verlesung bereit hielt – erläutere dieser Dame die einschlägigen Vorschriften!«

Der Gynäkomenos oder Frauenvogt, Stilpon benamst, hielt sachlichen Vortrag: es herrsche hier im Allgemeinen die größte Toleranz, und diese Damen hätten in ihren Behausungen die Befugnis, zu treiben, was sie wollten. Soweit sie in der Stadt beheimatet wären, dürften sie sich auch auf Straßen und Märkten nach Belieben ergehen. Dies erleide indeß eine Einschränkung in Anbetracht der Ortsfremden. Und obschon die Behörde auch in dieser Hinsicht oft sehr nachsichtig verfahre, so sei doch neuerdings eine ältere Vorschrift in Erinnerung gebracht worden, wonach den fremden Hetären untersagt wäre, sich öffentlich zu zeigen.

Der Archont ergänzte: Wir haben mit unserer Nachsicht vielfach unliebsame Erfahrung gemacht, es erscheint mithin angezeigt, uns wieder formell auf den Boden der Bestimmung zu stellen. Sage Lais, was bezwecken deine Spaziergänge?

»Seltsame Frage! Ich will Athen sehen.«

– Und gesehen werden. In leicht errätlicher Absicht, der entgegenzutreten unseres Amtes ist. Ich verordne daher, daß du für die fernere Zeit deines Aufenthaltes die Behausung deiner Herbergsfreundin nicht mehr verläßt.

»Du verhängst Gefangenschaft über mich, Archont! Und ich kündige dir an, daß ich nicht gewillt bin, mich solcher Haft zu fügen. Ich werde vielmehr ausgehen, wann und so oft es mir beliebt, und wenn es dich interessiert, so kannst du mich noch heut im Theater erblicken, da ich Lust habe, mir die Komödie des Aristophanes anzuschauen.«

– Ich würde dir davon abraten, damit du nicht in die Lage verfällst, unsere Überredungsmittel kennen zu lernen. Deine Widersetzlichkeit würde üble Folgen haben, nämlich einen Strafbefehl mit dem Inhalt, das Gebiet der Stadt Athen binnen sechs Stunden zu verlassen.

Also Ausweisung. Woher diese gänzlich unerwartete Strenge, die ihr einen offenen Schimpf androhte? Eine Denunziation? Sie überlegte. Wem in aller Welt wäre die Bemühung zuzutrauen, sie fortzujagen? Sie hatte bestimmt keinen Feind. Dem Sokrates war sie ja ein wenig unbequem geworden, aber der stand weltenweit jenseits jedes Verdachts; der konnte denkerisch danebengreifen, aber sittlich, bis zur Ausübung einer hämischen Vergeltung – nimmermehr! Vielleicht steckte eine Frau dahinter, etwa eine Athenische Hetäre, die sich eine unliebsame Konkurrenz vom Halse schaffen wollte? Auch nicht anzunehmen, denn Lais hatte es bis aufs äußerste vermieden, in Blick oder Bewegung irgend ein Fangnetz auszuwerfen. Immerhin, jetzt war sie dem wahren Sachverhalt schon etwas näher. Denn der Archont – was sie nicht wissen konnte – besaß eine grundgarstige Ehehälfte, die einen instinktiven Haß gegen alle Weiberschönheit hegte. Hundertfach ohnmächtig gekränkt durch den Anblick reizender Stadtbürgerinnen, die ihrer Wut unerreichbar blieben, hatte sie hier die Gelegenheit ersehen, als Scharfmacherin gegen eine Fremde aufzutreten. Und da der Archont nur nach außen hin Herrscher war, innerhalb seiner vier Pfähle aber der Beherrschte, so war es ihrem brennenden Neide gelungen, den Gatten zur Wiederaufnahme der strengen Hetärenordnung zu veranlassen.

Man mußte es ihm nachsagen, daß er die gültige Vorschrift auf das genaueste innehielt. Dame Lais, ergänzte er, ich habe dich pflichtmäßig noch auf Wichtiges hinzuweisen. Du erhältst laut Gesetz deine volle Bewegungsfreiheit zurück, falls eine angesehene Stimme unseres Gemeinwesens zu deinen Gunsten Einspruch gegen jene Freiheitsbeschränkung erhebt.

»O, daran wird es nicht fehlen, Archont! Rufe euren großen Mitbürger, den Künstler Skopas, hierher! Er bildnert mich eben, er legt höchsten Wert auf dieses Werk nach meinem Modell, und du wirst hören, wie laut sein Protest hallen wird!«

– Wie ich gar nicht bezweifle. Allein, das Gesetz ist sehr engmaschig und bestimmt ausdrücklich, daß der Einspruch, sofern er dir nützen soll, von einer Frau erhoben werden muß . . .

Ja, ich! ich! rief Polyxena naiv dazwischen.

– Von einer ehrbaren, verheirateten Frau, deren Leben offen vor der Behörde liegt, die auch nicht etwa vor ihrer Verehelichung Hetäre gewesen sein darf. Tritt eine solche Matrone in diesem Ratsaale auf, unaufgefordert, und verlangt sie aus eigenem Antrieb alle Freiheitsrechte für dich, – dann wird das Ergebnis der heutigen Vernehmung vernichtet, und kein Vogt darf es mehr wagen, dich auch nur mit seinem Blick zu belästigen.

– Komm, Polyxena, entrüstete sich Lais, mir klingt es wie Hohn, wenn ich auf solch unmögliche Klausel vertröstet werde. Und du, Archont, sollst fortan keine Schwierigkeiten mit mir haben. In wenigen Stunden werde ich frei sein auf eigenem Grund, zu Ägina.

Sie verließ den Raum, fest entschlossen, der Sache ein Ende zu machen. Freilich, an diesem Tage ließ sich die Fahrt über Wasser nicht mehr bewerkstelligen; aber die Mägde konnten anfangen, das Reisegerät zu packen; und sie waren eben dabei, als sich der nämliche Magistratsbote blicken ließ, der sie zuvor am Apollo-Tempel gestellt hatte:

»Die Dame Lais wird ersucht, ihre Abreise aufzuschieben und sich sogleich noch einmal zum Archonten zu begeben, der ihr eine bedeutsame Eröffnung zu machen hat.«

– Nein, mein Lieber, das wird nicht geschehen. Ich spüre kein Verlangen, durch gaffendes Volk am Archeion zum zweitenmal Spießruten zu laufen.

»Halte das, wie du magst. Mein Auftrag ist beendet.«

Allein eine der Mägde, eine hellhörige Sklavin, die die mindesten Geräusche von Markt und Gasse aufzufangen verstand, meinte beim Hantieren, die Gastin täte Unrecht, wenn sie sich dieser Aufforderung entzöge. Im Stadthause ginge etwas vor, was die Anwesenheit der Lais nötig machte. Jetzt versuchte auch Polyxena, die Freundin umzustimmen. Der Archont würde über die Weigerung erbittert sein und wenn ihm die eine entginge, seinen Ärger später irgendwie auf die andere ausspritzen; darauf durfte man es nicht ankommen lassen; die Aussicht auf behördliche Schikane wäre allerdings für soviel Gastfreundlichkeit eine üble Vergeltung gewesen.

So erschien Lais abermals vor dem Archonten. Im Amtssaal befand sich noch eine weibliche Person mit energischem, aber keineswegs unsympathischem Gesichtsausdruck. Leise Spuren längst abgeblühten Jugendreizes blieben noch an dieser bejahrten Frau erkennbar, die sich bemühte, der Lais bei deren Eintreten sanft zuzulächeln.

Lais! begann der Archont, du hast nicht etwa eine Fortsetzung deines Verhörs zu befürchten. Hier ist im Gegenteil eine ehrbare Matrone erschienen, die für dich einzutreten beabsichtigt; und die Wert darauf legt, daß du selbst ihre Aussage vernimmst. Ist dir diese ehrwürdige Bürgerin bekannt?

Die Hetäre verneinte.

– Sie heißt Xanthippe und ist die Gemahlin des genugsam bekannten Volksredners Sokrates.

Ein sanfter Schreck durchfuhr die Vorgeladene. Wie? Xanthippe, die berühmte Keiferin, deren Zanksucht in ganz Hellas längst sprichwörtlich war? Hier mußte ein Irrtum obwalten, oder eine undurchsichtige Intrige, die auf eine neue Demütigung für sie hinauslief. Ich wüßte nicht, sagte sie, welche Fürsprache ich gerade von dieser Frau zu erwarten hätte.

– Wir werden das sogleich erfahren. Also, Frau Xanthippe, erkläre uns deinen Einspruch. Welche Beweggründe haben dich veranlaßt?

– Nur ein einziger, sagte Xanthippe: die Dankbarkeit. In den wenigen Tagen, da Lais auf unserem Boden verweilt, ist mein Mann ein anderer Mensch geworden, und die häuslichen Zerwürfnisse, unter denen ich litt, lichten sich von Stunde zu Stunde.

– Das ist schwer zu begreifen, werte Frau, äußerte der Archont. Soweit meine Erfahrung reicht, hat sich noch nie der Fall ereignet, daß häusliche Zwistigkeiten durch eine auffallend schöne Hetäre beigelegt worden sind; eher steht zu vermuten, daß das Auftauchen einer solchen Dame den Unfrieden, wo er etwa schon besteht, noch empfindlich verschärft. Zudem geht die allgemeine Volksansicht dahin, daß deine ehelichen Zerwürfnisse wesentlich auf deinen Widerspruchsgeist zurückzuführen sind, und dieser kann sich unmöglich dadurch gelegt haben, daß diese Lais, mit der du noch nie eine Silbe gewechselt hast, hier sichtbar geworden ist.

– Herr Archont, ich bin hierhergekommen, nicht um mich zu verteidigen, sondern um einer guten Sache zu dienen. Ich habe das Unglück, Frau Sokrates zu sein, und mein Widerspruchsgeist erklärt sich lediglich daraus, daß ich mit ihm verheiratet bin. Auch eine Antigone, eine Iphigenie hätte sich an meiner Stelle durch Schimpfen erleichtert, denn selbst mit einer Taubenseele im Busen muß man bei diesem unerträglichen Geschwätz rebellisch werden. Weil er im Marktgerede und bei seinen Gelagen unaufhörlich recht behielt, weil ihm die Rechthaberei und Rechtbehalterei als natürliche Verordnung erschien, vermeinte er, das dürfe nie und nirgends aussetzen, er überschwemmte auch das Haus mit seinen philosophischen Salbadereien, um noch bis zum nachtschlafenden Geschnarch Recht zu behalten. Ich bin keine studierte Person, ich weiß nichts von Platonischen Ideen, ich verstand nicht den Sinn der Worte, nur ihren Schwall und ihre Unleidlichkeit, und hatte, um mich ihrer zu erwehren, keine andere Waffe, als den hausbackenen Widerspruch, dessen Schärfe ihn wiederum reizte, zwanzigmal zu wiederholen, was mir schon einmal zuviel war. Da, vor wenigen Tagen, kam er heim, auffallend verändert, sparsam mit Worten, und durchaus nicht in der Laune des Redetriumphes. Er machte Schweigepausen, sprach von alltäglichen Dingen, lobte die Fischbrühe auf der Tafel und traf nicht die geringsten Anstalten, von der Suppe und dem Fisch auf irgendein sogenanntes Thema überzugleiten. Meine Freude hierüber wuchs noch in den nächsten Tagen, als ich wahrnahm, daß nicht eine zufällige Stimmung, sondern eine Art von Erlebnis ihm den Schwatzdämon ausgetrieben hatte. Auf der ganzen Agora erzählt man davon, und die Marktweiber wissen es schon, was da vorgegangen war: er hatte endlich seinen Meister gefunden, nein, seine Meisterin in dieser Lais, deren Sätze jetzt seinen eigenen Schülern zum Trutz dienen. Grund genug für ihn, daß er sich nach der Stille der Familie sehnt, wo keine Begriffspalterei getrieben wird, und wo man nicht Gefahr läuft, besiegt zu werden, wenn man es nur unterläßt, beständig siegen zu wollen. Dieser Dame da verdanke ich meinen Hausfrieden, und hier erhebe ich nach dem Gesetz meinen Anspruch: sie freizumachen von jeder Beschränkung.

Das Schlußurteil lautete wie zu erwarten, und Lais drückte der wackeren Sachwalterin die Hand. Polyxena strahlte; sie sah schon eine Reihe von Festtagen vor sich und sonnte sich in den Ovationen, die man der Genossin bringen würde. Allein, diese beharrte auf ihrem Vorsatz, und erteilte im Haus die letzten Anweisungen zum Fortschaffen ihrer Habe.

»Aber warum denn, Lais, jetzt wo du ganz frei bist?«

– Nicht so frei, wie du annimmst. Xanthippe hat mich losgemacht, allein Sokrates treibt mich fort. Besser gesagt, mein Reuegefühl aus Anlaß des Sokrates. Sein Hausfrieden ist nicht so wichtig, als seine Stellung im Gemeinwesen, und diese wird sich befestigen, sobald ich verschwinde. Du wirst mir darüber schreiben, Polyxena, und ich bin sicher, in etlichen Monaten wird er wieder genau so recht haben und behalten wie vordem. Seine Natur braucht das, und er würde als ethisches Muster entwurzelt werden, wenn ihm der Halt an dem Gefädel seiner Beweise dauernd entglitte. Lassen wir diese Episode verklingen!

Am nächsten Frühmorgen an der Landungstelle im Piräus näherte sich ein Mann dem Fahrzeug, das die Gefährtin Aristipps entführen sollte:

– Auf ein Wort, bewunderte Lais, – weißt du, wer ich bin?

»Ich habe dich früher bewundert, als du mich; ich sah dich schon zu Olympia, da du umschwärmt warst von Verehrerinnen, unter denen ich keine Rolle spielen durfte: Du bist der Komödiendichter Aristophanes!«

– Ich kann dir deine Höflichkeit nicht voll zurückgeben. Denn kurz gesagt, ich wollte dir nur mitteilen, daß ich Ursache habe, Schadenersatz von dir zu verlangen.

»Du scherzest, Aristophanes.«

– Dazu bin ich auf der Welt. Allein, was du mir angerichtet hast, das ist bitterer Ernst: du hast mir für die ganze nächste Spielzeit das Geschäft in Grund und Boden ruiniert. Eben hatte ich ein Lustspiel fertig gestellt, das den Sokrates verhöhnen sollte; und nun? du begreifst, daß ich dies Stück gar nicht aufführen lassen darf. Denn es hat keinen Sinn, auf der Bühne einen Mann zu verspotten, dem in Wirklichkeit groß Leid widerfuhr. Und brächte ich es selbst zur Darstellung, was würden die Leute sagen? Schwächliches Zeug! Aristophanes hat nur nachgedichtet, was ihm Lais weit besser vorgemacht hat. Also: Buße verlange ich!

»Wie hoch?«

– Einen Kuß, Lais, vorbehaltlich weiterer Ansprüche.

»Höre, Aristophanes, ich mißtraue dir. Ein Dichter, der ein Theaterwerk schrieb, will es gespielt sehen, allen Bedenken zum Trotz. Aber wir wollen eine Bewährungsfrist verabreden. Unterdrückst du deine Komödie tatsächlich, machst du sie tot für die Dauer einer Olympiade, so darfst du dich nach vier Jahren zur Einziehung der Buße bei mir melden!«


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