Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

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Die Romane der Herrin

I. Die Liebe in Marmor

Auch in den nächsten Monaten gab es Reisepläne, allein die Rollen waren vertauscht. Lais verblieb auf dem Landgut, während ihr Freund sich zu einer räumlich nicht sehr weiten, aber in der Zeit ziemlich ausgedehnten Expedition rüstete. Als Urheber dieser Veränderung war Demokrit zu betrachten, der im Verlauf seiner Arbeiten an gewisse noch ungeklärte Naturerscheinungen gelangte und besonders die vulkanischen Phänomene näher erforschen wollte. Hierfür boten sich ihm die zykladischen Inseln im Ägäischen Meer als Forschungsboden, zumal Santorin, Kimolos und Melos, die gerade zurzeit lebhafte Zeichen vulkanischer Tätigkeit aufwiesen. Weiterhin sollte die Fahrt bis Sizilien ausgedehnt werden. Nach menschlichem Ermessen war dies die letzte Forscherfahrt, die der greise Gelehrte überhaupt noch in Aussicht nehmen durfte. Er hatte sehr zurückhaltend angedeutet, daß ihm dabei die Begleitung eines jüngeren, mit seinen Eigenheiten vertrauten Menschen erwünscht sein würde, und es bedurfte nur dieses Winkes, um in Aristipp eine Absicht anzuregen, die sich, kaum erwacht, zum festen Vorsatz verdichtete. Von dieser Minute an fühlte er es unerschütterlich, daß kein anderer in Betracht kommen dürfte als er selbst, und es war ihm eine freudige Genugtuung, als Demokrit ihm gestand, er selbst habe an gar keinen anderen Begleiter gedacht als an Aristipp.

Hier also handelte es sich um eine längere Trennung von Lais, die sich mit leidlicher Gelassenheit in den Umschwung ergab, ohne die schmachtselige Betonung, die etwa eine für moderne Lyrik vorbildliche Geliebte geliefert oder beansprucht hätte. Treueschwüre wurden nicht gewechselt. Was Aristipp anbetraf, so war ja kaum anzunehmen, daß er auf den unwirtlichen Zykladen besonderen Verführungen ausgesetzt werden würde. Und auch für ihn selbst war die Beunruhigung nicht grade überwältigend. Wir wissen schon zur Genüge, daß wir an ihm nicht den Maßstab eines Troubadours anzulegen haben, oder eines jener Kreuzritter, die ihre Dame für die Zeit ihrer problematischen Einsamkeit mit einem Kunstschloß verriegelten. Lais eignete sich nicht für die Praxis des Keuschheitsgürtels, und es bestand auch für sie durchaus nicht die Absicht einer Klausur. Im Gegenteil. Die Pflege der Geselligkeit stand im Programm, und für manche Distanzverehrer eröffneten sich Möglichkeiten. Schließlich galt es ja schon damals, was viel später von Hamlet zu einer Sentenz umgeprägt wurde, daß die Tugend sich bei der Schönheit nicht im sichersten Gewahrsam befindet. Und die Toleranz der freien Liebe gebot sogar, anzuerkennen, daß eine Persönlichkeit wie Aristipp, wenn überhaupt, gewiß nicht durch einen einzelnen Stellvertreter ersetzt werden könnte. Selbst im Plural genommen, hätten sie kaum mehr vermocht, als die Sehnsucht nach dem fernen Geliebten verstärken, der nur wiederzukehren brauchte, um bei der Freundin dieselbe wundervolle Hingebung anzutreffen, wie beim ersten Ansturm im Parke.

In dieser Zeit machte das Bildwerk des Skopas ansehnliche Fortschritte, obschon sich Lais nicht bewegen ließ, ihren Besuch in Athen wiederaufzunehmen. Sie fehlte in der Werkstatt, allein der Bildhauer erschien wiederholt auf Ägina, ganz ohne Gerät, nur mit seinen Sehwerkzeugen bewaffnet, und er behauptete, daß ihm jetzt das gelegentliche reine Anschauen den gedeihlichen Fortgang der Arbeit verbürge. Diesmal handelte es sich um eine hüllenlose Darstellung, während er ihr beim erstenmal die zarte Andeutung eines Gewandes gelassen hatte.

Für einen Betrachter, der den Hochflug seiner Ansprüche nicht mitzumachen vermochte, hätte vielleicht das erste Werk den Vorzug verdient: es war ähnlicher, nicht so ganz Venus oder Charitin, aber sinnfälliger in persönlicher Hinsicht, mehr wirkliche Lais. Dem Skopas selbst hatte es, wie erinnerlich, nicht genügt; es war von ihm verbannt worden, gelangte durch Mitwirkung eines Händlers nach Kleinasien und landete schließlich auf Umwegen im Pamphylischen Aspendus, wo es in der Halle des reichen Erwerbers Theombrotos Aufstellung fand.

Hier war es dem schönen Marmorwerk beschieden, ein gewaltiges Unheil auszulösen. Theombrotos besaß einen achtzehnjährigen Sohn, einen Jüngling, dessen Geistesgaben zu Hoffnungen berechtigten, wenn sie sich frei hätten entwickeln können. Allein in dem jungen Palmyas machte sich ein schwärmerischer Zug geltend, der sein Wesen mehr und mehr durchdrang, ihn von stetiger Arbeit abdrängte und gänzlich ins Transzendentale umzuschlagen drohte. Nebelhafte, mysteriöse, phantasmagorische Dinge umschwebten ihn beunruhigend, wie Anzeichen eines Fatums, das sich mit schmerzlichen Wonnen seiner bemächtigte.

Als die Bildsäule in der Halle des prächtigen Hauses aufgestellt war, konzentrierte sich die Schwärmerei des jungen Mannes auf diese Figur, von der man in ganz Aspendus nichts weiter wußte, als daß sie von dem berühmten Skopas stammte. Ob sie irgend ein Götterwesen, eine Hebe, eine sonstige Olympierin oder eine lebende Persönlichkeit darstellen sollte, das war völlig unbekannt, begreiflicherweise, da nicht einmal der Händler, dem sie ursprünglich in die Hände gefallen war, eine Ahnung davon hatte. Aber Palmyas ließ es nicht bei der Bewunderung im ästhetischen Genuß bewenden. Seine vagen, flatternden Triebe umhüllten vielmehr das Werk wie mit seelischen Fühlfäden, die endlich einen Halt gewannen, um das sinnlich gewordene Übersinnliche völlig aufzunehmen und einzusaugen; mit der nämlichen Inbrunst, mit der sonst ein Jüngling die erste Offenbarung lebendiger Weiblichkeit erschauernd in sich einströmen läßt. Palmyas war von der Statue nicht mehr fortzubringen. Seine Leidenschaft wuchs von Tag zu Tag, wurde immer ununterscheidbarer von einer Liebe, die sich nach Gegenliebe sehnt, und er erschöpfte sich in fruchtlosen Umarmungen des kalten Marmors, von der Manie getrieben, ihm Wärme und Bewegung einzuhauchen; das Wunder des Pygmalion erhoffend, das sich einmal begeben hat, nie wieder. Und als er erkannte, daß sein Anflehen der Gottheit unerhört verhallte, versank seine Seele in Dämmerzustände, die zwischen allen Leidensstationen von elegischer Schwermut bis zu offenem Wahnsinn umherirrten. Man fand Mittel und Wege, um das Bildnis heimlich zu entfernen und vor ihm zu verbergen, da ein Stadtarzt den medizinischen Gemeinplatz vorgetragen hatte: cessante causa cessat effectus; eine sehr kurzsichtige Maßnahme, denn hier, da die Ursache verschwand, verzehnfachte sich die Wirkung bis zur hellen Raserei. Und es bestand kein Zweifel mehr, daß der einzige, heißgeliebte Sohn des Theombrotos diese Qual nicht mehr lange würde aushalten können. Auch seine körperlichen Kräfte waren aus Mangel an Nahrungsaufnahme aufgezehrt, und so mußte der Vater mit dem unabänderlichen Verhängnis rechnen, daß sein Palmyas in naher Zeit dem Untergang verfiel.

Es fügte sich, daß um diese Zeit der große Arzt Hippokrates Pamphylien bereiste und in Aspendus Halt machte. Durch die Bitten des Alten veranlaßt, begab sich der berühmte Asklepiade aus Kos in das Haus, wo die Parzen bereits Anstalten zum letzten Scherenschnitt trafen. Der Fall interessierte ihn ungemein, und er erklärte, die Aussicht auf Heilung nicht absolut aufgeben zu wollen, obschon man natürlich die Hoffnung auf den niedersten Grad herabstimmen müßte. Palmyas lag in Lethargie, und hier setzte die Kunst des Medikus wenigstens insofern erfolgreich ein, als er den starrkrampfartigen Zustand benutzte, um dem Leidenden auf künstlichem Wege etwas Nahrung einzuflößen. In den kurzen Zwischenpausen, da dieser zum Bewußtsein erwachte, wäre dies bei dem Abscheu des Jünglings gegen jede Nährzufuhr unmöglich gewesen. Nunmehr war doch die Möglichkeit gegeben, den Lebensfaden so weit hinzuspinnen, bis man die Anwendung irgendwelcher seelischer Arzenei ins Auge fassen konnte; falls hierzu ein Weg überhaupt aufspürbar war.

Hippokrates vereinigte in der Beurteilung des Falles psychopathologische Sachkunde mit strenger Logik. Seine Diagnose lautete: Ist die Bildsäule eine reine Phantasiefigur, die Darstellung einer nicht auf Erden heimischen Göttin, dann müssen wir alle Hoffnung einsargen. Anders läge die Sache, wenn sie nach einer wirklichen und lebend existierenden Frau abgeformt wäre. Denn ich halte es für denkbar, daß die Seele des Irrenden durch das magische Band einer geheimen Sympathie an ein Wesen gekettet wäre, durch ein Band, das über Länder und Meere hinwegreicht und das sich so verhängnisvoll erst zu äußern beginnen konnte, als ein Teil dieser Wesenheit, nämlich der Eindruck aufs Auge, in dem jungen Mann wirksam wurde. Nehmen wir dies, mit sehr kühner Annahme, als den Tatsachen entsprechend, so hätten wir zuerst zu versuchen, diese Persönlichkeit und deren Aufenthalt zu ermitteln.

»Meister Hippokrates,« sagte der bekümmerte Alte, »dein Trost bewegt sich in vielen Einschränkungen und klingt sehr matt. Denn nehme ich selbst alles für verwirklicht, was du nur als allenfalls denkbar bezeichnest, so bleibt es doch höchst zweifelhaft, ob diese Person, das Urbild der Statue, zu unserer Hilfe existiert. Sie kann eine Ehefrau sein, oder eine lockere Dirne, oder eine Königin, und dann wäre es unmöglich, sie als Gattin meinem Sohne beizugesellen.«

– In diesem Punkte, meinte der Asklepiade, denke ich nicht ganz so verzagt wie du. Es liegt nämlich in der Natur solcher Psychosen, daß sie, wie sie plötzlich auftreten, auch in Plötzlichkeit zum Stillstand kommen können; durch die Gewalt einer einzigen Umarmung, die das Sehnen so mächtig überflutet, daß zum mindesten dessen akutes Brennen nachläßt. Damit ist dann schon unendlich viel gewonnen. Erreicht der gänzlich hoffnungslos Leidende wie durch ein Wunder auch nur ein Zeichen der Erhörung, der Gegenliebe, so erfährt er damit einen Seelensturm, der unter Umständen ausreicht, den ursprünglichen Krankheitssturm zu überwinden. Er gerät auf etliche Zeit in eine Zone der Kalmen, in denen seine innere Entzündung abzuklingen vermag. Ja, es ist gar nicht ausgeschlossen, daß er dann zu dem Bildwerk mit dem Gefühl der gesättigten Leidenschaft zurückkehrt und daß er gerade durch das Erlebnis befähigt wird, sein unnatürliches Wünschen zu einer geläuterten Anschauung vor dem Marmor umzubilden. Übrigens wäre es Zeit, daß du mir das Bildnis selbst einmal zeigtest.

Theombrotos führte ihn in das Versteck, Hippokrates nahm das Werk in Augenschein, und ließ das reiche Register seiner Erinnerungen spielen. Er war zufällig vor einigen Monaten im Hause des Kallikles mit Skopas zusammengetroffen und besann sich auf dessen Mitteilungen. Richtig, jetzt war er auf der Spur. Skopas hatte mit äußerst flüchtigen Worten eines seiner Werke erwähnt, das nach Asien gewandert sei, des Bildes einer in Hykkara gebürtigen, jetzt auf Ägina ansässigen Hetäre großen Stiles. Da hatte man den Faden, und damit auch sehr bald das Resultat. Ein findiger Aufwärter wurde mobilisiert mit dem Auftrag, in der goldenen Jugend zu Aspendus herumzuhorchen, in jener Lebewelt, die stets und überall internationale Fachkenntnisse verrät. Auf die Frage: welche vornehme Hetäre stammt aus Hykkara und residiert auf Ägina? ergab sich die eindeutige Antwort: Lais!

In den nächsten Tagen wurde ein ansehnliches Fahrzeug gerüstet, das Vater und Sohn nebst einer Anzahl von Wärtern und Pflegerinnen an Bord nehmen sollte. Es bedurfte keiner großen Überredung, um Hippokrates zur Mitfahrt zu veranlassen, denn neben seinem ärztlichen Interesse war auch die menschliche Sympathie in ihm rege geworden, und vielleicht konnte in den Verhandlungen mit der Dame das Gewicht seiner Autorität ausschlaggebend werden. Palmyas hatte kurz vor der Abfahrt einen Tobsuchtsanfall überstanden und befand sich jetzt so entkräftet, daß er auf das Schiff getragen werden mußte, wo er, sorgsam gebettet, in lange Apathie verfiel. Die Aussichten waren die denkbar trübsten, es erschien sehr ungewiß, ob er das Äginetische Gestade noch lebend erreichen würde.

Die bloße Nennung des Namens Hippokrates genügte, um den Männern bei Lais den wohlwollendsten Empfang zu sichern. Eine weltbekannte Leuchte der Wissenschaft und zudem, wie sie wußte, mit Demokrit befreundet! Als sie nun gar erfuhr, daß ihr irgend welche Bitte vorgetragen werden sollte, war sie sogleich entschlossen, alles aufzubieten, um den Wünschen der Beiden entgegenzukommen. Wahrscheinlich handelte es sich, so dachte sie, um die Begründung eines großen humanitären Werkes, etwa eines Krankenhauses, und es war nicht das erstemal, daß man ihren Reichtum für solche Zwecke in Anspruch nahm.

Als indes der Asklepiade dazu überging, die Sachlage zu erläutern, verdüsterte sie sich merklich. Sie sah hier die Peripetie des Dramas, in dem sie, ohne es zu ahnen, eine tragende Rolle innehatte, und es war ihr keineswegs erfreulich, sich die Fortsetzung dieser Rolle auszumalen. Irgend eine Regung der Eitelkeit, gegründet auf die Empfindung eines sensationellen mystischen Erfolges ihrer Schönheit, lag ihr fern. Ihr trat nur die Tragödie ins Bewußtsein, und so sehr sie auch zu allen Graden des Mitleids bereit war, so widerstrebte es ihr doch aufs äußerste, sich in eine Lage hineinzudenken, die ihr – das war mit Recht zu befürchten – bald angesonnen werden sollte. Dort draußen auf dem Schiff lag ein Siecher, Wahnsinniger, im letzten Stadium körperlichen Verfalls, und ein Roman mit diesem wildfremden Irren – – nein, das war nicht zu fassen, auch dann nicht, wenn sie sich selbst als die Ursache seines Leidens vorstellte.

Theombrotos warf sich ihr kniefällig zu Füßen: Erhabene! Hier fleht ein Vater für den letzten Stab seines Alters, für sein einziges Kind, das ihm entrissen wird, wenn deine Güte es ihm nicht erhält! Ist mein Jammer unfähig, den Marmor zu rühren, der dir gleicht, so wird doch dein Gemüt unter meinem Schmerz dahinschmelzen. Göttliche Lais! Im Staube vor dir blicke ich auf zu deinem Antlitz, dem die Olympier selbst die Weihe aufgeprägt haben der Schönheit und der Milde. Du wirst mich nicht ungetröstet von dannen ziehen lassen. Erhöre mich, rette meinen Sohn, und Aphrodite möge dir eine Tat vergelten, die unter allen Liebeswerken nicht ihresgleichen hat!

Lais beugte sich gerührt herab, half ihm empor, und nachdem sie sich einigermaßen gefaßt hatte, bat sie um die Vergünstigung, den Fall in minder stürmischer Weise besprechen zu dürfen. Man möge es ihrer Überraschtheit zugute halten, wenn sie erst Klarheit gewinnen wolle, ehe sie dazu überginge, mit den Besuchern das Weitere zu überlegen. Was verlange, was erwarte man eigentlich von ihr? Schon bei dieser einfachen Frage stocke die Antwort. Sollte sie hingehen zu dem jungen unbekannten Manne und ihm vorreden, sie liebe ihn?? Er würde sie entweder gar nicht verstehen oder müßte, wenn noch ein Funken von Bewußtsein in ihm glömme, sie selbst für eine Irrsinnige halten; denn anders könne er eine Frau unmöglich beurteilen, die ohne den Schimmer einer Bekanntschaft sich ihm urplötzlich an den Hals würfe.

– Die Aufgabe ist tatsächlich überaus schwierig, erklärte Hippokrates; mit einer frommen Lüge dieser Art kämen wir allerdings nicht weit, und wir würden dadurch wahrscheinlich nur verschlimmern, was ohnehin trübe genug liegt. Ein derartiges improvisiertes Geständnis müßte sogar, weil erlogen, auf einer Bühne fehlschlagen, vollends in der Tragik dieses Lebens, die eine ganz besondere, mit aller Vorsicht geplante Behandlung erheischt. Trotzdem, Dame Lais, werden wir um einen kritischen Punkt nicht herumkommen, wenn anders überhaupt an eine Heilung gedacht werden darf. Es wird nötig sein, daß ihr einander nahekommt und – – verstehe mich recht, Lais, die mythologische Fiktion des Jünglings bleibt für mich als Seelenarzt maßgebend –, ich will also sagen, er muß den Glauben erhalten, daß sein mythologisches Sehnen sich wie durch ein Wunder erfülle.

– Verzeihe, Hippokrates, ich vermag deinen Ausführungen nicht zu folgen und, ehrlich gesagt, ich will es auch nicht. Dagegen sträubt sich meine Selbstachtung, so sehr mich auch dieses Unglück ergreift und erschüttert. Ich würde einen Finger meiner Hand als Opfer dahingehen, wenn ich damit helfen könnte, aber es scheint mir doch ungehörig, eine ärztliche Verordnung aufzustellen, in der meine ganze Persönlichkeit die Rolle eines Medikamentes spielt. Mir wird hier zugedacht, als ein schmerzstillendes Opiat zu wirken, der Arzt verschreibt es, und ich habe mich meines Selbst zu entäußern, um Inhalt eines Rezeptes zu werden. Deute mir's nicht übel, du bist der irdische Asklepios, du willst um jeden Preis heilen, und dein Wunsch ist verehrungswürdig. Aber in ihm steckt doch zugleich die leise Annahme, mich träfe so etwas wie eine Verantwortung, als hätte ich in Marmor verkleidet irgend einen Willen bekundet, das Gemüt des Beklagenswerten zu verwirren; wonach ich dann freilich das Äußerste aufzubieten hätte, um solches Verhängnis ungeschehen zu machen.

– Dame Lais, laß dir sagen, daß es in meinen Augen überhaupt keine Verantwortung gibt, geschweige denn in einer so absonderlichen Begebenheit, wo wir zwischen Ursache und Wirkung nicht die mindeste gegenständliche Brücke wahrnehmen. Was sich hier begab, war ein Ausfluß der Fernwirkung, so rätselhaft wie die Fernwirkungen, die von der Sonne und den Gestirnen auf die Erde strahlen. Wenn sich eine Flutwelle erhebt, mit den Schrecknissen einer Sturmflut, so können wir wohl überirdische Einflüsse vermuten, aber niemand wird sich dazu versteigen, dem Mond hierfür eine moralische Verantwortung zuzuschieben. Und im Grunde unterliegen wir alle dem großen Menschenwahn, eine Idee, eine Erscheinung zu vergöttlichen. Wir verpflanzen in das Meer einen Poseidon mit Tritonen, wir wittern im Baum die Dryade, die in ihm nistet, im Echoschall die rufende Nymphe. So hat auch der arme Palmyas im toten Stein eine Lebendige erfühlt, und man muß einräumen, er war der Wahrheit näher als wir andern, die wir nur haltlos symbolisieren, während er doch eine wirklich vorhandene Beziehung ahnte. Das Körperliche allein hätte es ihm nicht antun können, es war die Seele des Urbilds, die zu ihm sprach, und wenn du auch persönlich außer Verantwortlichkeit bleibst, so wäre es doch sehr edel, wenn du auch für den abgelösten Teil deiner Psyche einträtest, den der Künstler im Stein mit einfing, als er dich formte.

Bis zu derartigen Motiven vermochte Theombrotos nicht vorzudringen. Seine Beredsamkeit hatte sich im ersten Anruf erschöpft und er rang nur noch bittend die Hände.

Lais hatte eifrig nachgedacht und kam nun mit einer Idee zum Vorschein: man solle ihr nicht nachsagen, daß sie sich einer, wenn auch noch so lose konstruierten Menschenpflicht entzöge. Sie glaube ein Mittel gefunden zu haben, das zum Ziele führen würde, ohne daß eine Unmöglichkeit aufzustellen wäre, an der sie scheitern müßte: Ich besitze unter meinen Sklavinnen ein Mädchen aus Paphlagonien, das mir in Figur und Gesichtsausdruck überaus ähnlich sieht. Diese Sklavin, sie heißt Agapeia, ist mir sehr ergeben, und ich werde ihre Willfährigkeit noch dadurch steigern, daß ich ihr die Freilassung und eine stattliche Aussteuer verspreche, wenn sie den Plan geschickt durchführt, zu dem ich sie einstudieren will. Sie soll in dem nämlichen wie aus Blumenduft gewebten Gewande, worin ich damals dem Skopas stand, in diesem Pavillon Aufstellung nehmen, ganz genau wie das Bildwerk gehalten, und durch künstliche Beleuchtung ebenso gefärbt. Die Technikerkräfte, die eine derartige Salonmagie leisten, stehen mir zur Hand. So weit können wir inszenieren, das Übrige muß dem Moment anheimgegeben werden. Der junge Palmyas wird jedenfalls zuerst vermeinen, die geliebte Statue vor sich zu haben, er wird sie vermutlich wiederum umfangen, von ihrer Warmblütigkeit entzückt sein, und – insoweit übernehme ich die Bürgschaft für meine Agapeia – keinen Widerstand bei ihr finden, wenn er seine Umarmung nachdrücklicher geltend zu machen versucht. Allerdings, so muß ich hinzufügen . . .

– Du stellst noch eine Bedingung, Lais?

– Eine unerläßliche. Ich wünsche den Jüngling zuvor zu sehen. Selbst meiner Sklavin würde ich nicht zumuten, in solcher Art meine Stellvertreterin zu spielen, wenn der junge Mann mir einen gänzlich unsympathischen Eindruck machen sollte.

In den Augen des alten Theombrotos flammte Hoffnung, trotz der einschränkenden Bedingung. Er sah doch den Schimmer einer erlösenden Möglichkeit. Der große Arzt verhielt sich bis zu gewissem Grade skeptisch. Im ersten Sekundenanlauf konnte das Experiment glücken, aber wie, wenn der mystische Wahn, anstatt in Beglücktheit zu zerflattern, in dunkle Wut umschlüge? Wenn der Jüngling mit plötzlicher Hellsichtigkeit den Betrug durchspürte, der ihm für das ersehnte Original ein Surrogat vortäuschte? Das konnte schlimm ausgehen. Allein, man mußte schon zufrieden sein, wenn überhaupt etwas geschah, und mehr als dieses Etwas war ja billigerweise von der Herrin nicht zu verlangen.

Als sie gegen Mittag das Schiff betrat, lag Palmyas in tiefem Schlummer, mit starrgespannten Muskeln, aber erkennbarer Atmung. Nach dem Befund des Arztes war zu erwarten, daß er um Mitternacht erwachen und dann vermutlich für einige Stunden auf äußere Anregungen reagieren würde. Sein Antlitz enthielt den ganzen Bericht seiner Leidensgeschichte. Es war verfallen, an den Wangen zusammengestürzt, zeigte aber in gewissen Einzelheiten, so an den Schläfen, der edelgeformten Stirn und in den feinprofilierten Linien der Lippen Spuren von Liebreiz. Einmal öffnete er die Augen, um verständnislos in die Luft zu blicken und sie sofort wieder zu schließen. Diese Zehntelsekunde hatte genügt, um der Betrachterin ein Momentbild zu verschaffen, dessen Eindruck zur Kürze der Dauer in keinem Verhältnis stand. Sie selbst verlängerte ihn in ihrem Bewußtsein, ihr war es, als blicke sie dem Schläfer durch die Lider hindurch bis ins Auge. Sie nahm sich zusammen, um eine Träne zu unterdrücken, ergriff sehr bewegt die Hand des Vaters und flüsterte: Es bleibt bei der Verabredung. Um Mitternacht wird alles bereit sein.

Palmyas wurde auf einer Bahre in den Pavillon gebracht, wo er nach der Herrin Anweisung allein im dunklen Raum verblieb. Er war wach und nahm wahr, daß ein Vorhang aufgezogen wurde, daß ein magisches Licht herabfiel und die ihm so teure Statue erglänzen ließ. Und hier bewahrheitete sich eine Voraussicht des Arztes, der bei aller Skepsis angesagt hatte, dieser allererste Effekt würde seine Lebensgeister mächtig beschwingen, vorausgesetzt, daß es der Sklavin Agapeia gelänge, die statuarische Bewegungslosigkeit für kurze Zeit festzuhalten. Palmyas vermochte sich zu erheben, er wankte dem Bildwerk entgegen, breitete seine Arme, schrie auf, als er das Lebendige umfaßte, und erlebte in höchster Ekstase das Wunder des Pygmalion, mit allen Affekten des Rausches, die ein solches Mirakel zu erzeugen vermag. – – – –

Als man in erster Morgenröte nach ihm forschte, fand man ihn wieder regungslos auf der Lagerstatt. Er wurde auf das Boot zurückgebracht, und Hippokrates stellte fest, wiederum seiner Voraussicht entsprechend, daß sich die klinischen Symptome nicht wesentlich verändert hatten. Bald darauf fiel Palmyas in Agonie und hauchte in den Armen des schmerzbebenden Vaters sein junges Dasein aus. Aber im letzten Augenblick ging es wie eine Verklärung über sein Gesicht, und als der Todesengel sich eben anschickte, seine Fackel zu verlöschen, war seine Stimme zu dem Ruf erwacht: Dank, Aphrodite, ich bin glücklich gewesen! – – – –

Der gebrochene Greis, von Hippokrates gestützt, verabschiedete sich von Lais: Dir, Herrin, gebührt der letzte Laut meines Kindes. Ihm war es bestimmt, zu sterben, aber nicht in Verzweiflung, sondern in Seligkeit, die ihm deine Güte einträufelte. Gestatte mir nur noch, deiner holden Helferin meinen Dank abzutragen und hierfür deine Mitwirkung in Anspruch zu nehmen. Du versprachst ihr die Freilassung. Sage ihr, sie möge nach Aspendus kommen zum Theombrotos, der sie halten will wie seine eigene Tochter und Erbin.

– Du meinst es gut, Theombrotos, und ich würdige deinen edlen Beweggrund. Aber deinen Auftrag kann ich nicht übernehmen.

»O, daran erkenne ich von neuem deine Huld. Du willst sie selbst so reich versorgen, deine Sklavin Agapeia – –«

– Ich besitze keine Sklavin dieses Namens.

»Gleichviel, wie sie heißt. Sage ihr – –« Plötzlich wurde es ihm licht – »Lais! Lais, du selbst? – –«

Und abermals warf er sich vor sie hin, um den Saum ihres Gewandes zu küssen.


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