Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

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Auferstehung

Das Wort »Kurpromenade« klingt banal, aber ich kann und will es nicht umgehen, weil es im Anfang am ehesten dazu dienen wird, annähernd das zu bezeichnen, was wirklich darzustellen ich mir nicht getrauen darf. Weitgestreckte Wandelgänge, mit korinthischen Säulen besetzt, umgrenzten einen Kunstpark, in dem alle Probleme des Gartenbaus gestellt und erschöpft schienen; unter Beistand einer Natur, der man in der Hergabe ihrer Üppigkeiten das irgend Erdenkliche abverlangen durfte. Wie die Kunst alsdann ihren Überschwang gebändigt, Nah- und Fernprospekte gegliedert, mit welcher Weisheit sie in Pinien und Springbrunnen ihre Vertikalen, in blühenden Girlanden ihre Schwunglinien eingesetzt hatte, das ließe sich nur schildern, wenn die Sprache sich aus dem Notbehelf der Metaphern befreien und mit farbsymphonischen Mitteln arbeiten könnte. Jenseits der Kolonnaden profilierte sich eine Hügellandschaft mit entfernten großartigen Bauten, deren Linien an Akropolis, Parthenon, Erechtheion und Stoa erinnerten, das Oval einer gewaltigen Arena grüßte herüber, und wenn auch das Gesamtbild für eine heroische Landschaft zu kultiviert aussah, so fühlte man sich doch durch die Erhabenheit der Hintergründe heroisch gestimmt. Beschränkte man den Blick indeß auf das Nahe, so konnte man sich vorstellen, daß diese paradiesischen Anlagen zum Lustwandel für glückselige Menschen bestimmt waren.

Es mochte an der morgendlichen Tageszeit liegen, daß ich zuerst nur wenig Spaziergänger erblickte, vereinzelte Gruppen, aus denen sich alsbald zwei bestimmte Gestalten ablösten. Sie schritten Hand in Hand, blieben stehen, unterhielten sich lebhaft, machten die Hände zur gestikulierenden Unterstützung frei, kamen in meine Nähe, und – da gab es einen Moment des Wiedersehens, bei dem ich allein der Überraschte war:

»Fräulein Liane! Herr Argelander!«

Eigentlich hätten ja die beiden zum Stutzen Anlaß gehabt, denn sie paßten mit ihrer antik stilisierten Tracht ins Milieu, während ich mit meinem neueuropäischen, in einem Stehkragen kulminierenden Kostüm erheblich davon abstach. Allein, sie schienen die Auffälligkeit des Unterschiedes kaum zu bemerken, begrüßten mich vielmehr wie einen, der zu ihnen gehörte:

– Ich habe diesen Zeitpunkt erwartet, sagte Argelander, und freue mich, daß er sich nunmehr verwirklicht. Wir werden natürlich unsere Verkehrsfäden da weiterspinnen, wo sie vordem abrissen, denn so viele Jahrhunderte bedeuten immerhin einen Riß. Aber wenn Sie denselben guten Willen mitbringen wie wir, so werden Sie der Schwierigkeit schon Herr werden . . .

»Über einige hat mir Gregory schon hinweggeholfen, und die Göttin im Tempel, die mir ein chronologisches Wunder versprach, wird, wie ich denke, Wort halten; also Herr Argelander . . .«

– Es wird die Sache vereinfachen, wenn wir diesen Namen fortan ausschalten. Er ist mir nicht unbekannt, spielt aber in meinem Dasein doch nur eine nebensächliche Rolle. Als Argelander war ich eine zufällige Vergänglichkeit, als Aristipp werde ich bleiben, nennen Sie mich daher nach meiner Wesenheit, wie sie vor Ihnen steht: Aristipp. Und sollten Sie im geringsten zweifeln, so bin ich bereit, Ihnen meine Identität unwiderleglich zu beweisen. Die Männer meiner Epoche, Plato, Sokrates, Diogenes und viele andere sind hier alle gegenwärtig, sofort erreichbar, und sie werden Ihnen einstimmig bezeugen, daß ich Aristipp aus Kyrene bin, der Stifter der Empfindungs-Schule, die man in der Welt zumeist die Epikureische nennt.

»Es würde mir schlecht anstehen, Aristipp, deine Aussage zu bezweifeln, zumal sie meinen eigenen Wünschen entgegenkommt. Denn daß ich es dir nur gestehe, was mich zu dir hinzog, mich an dich fesselte, war von Anbeginn ein gewisser Zug, der dich mir seelenwandlerisch mit dem Genußweisen von Kyrene verknüpfte. Du siehst, ich habe Fortschritte gemacht, und nun der Augenschein die Lehre bekräftigt –«

Die Dame unterbrach: der Augenschein bekräftigt hier namentlich die Tatsache, daß mein Freund Aristipp über die wichtigsten Dinge noch immer so leichtherzig hinweggeht, wie damals, als ich ihn in Korinth kennen lernte. Er ist und bleibt in seiner Weise ein Egoist, sonst hätte er wohl vor jeder Erörterung seine Freundin vorgestellt.

Schöne Korintherin! sagte ich, – deinen Freund trifft keine Schuld. Er verließ sich auf meinen Scharfsinn, dem du so wenig zutraust. Die Genossin des Aristipp, die mir zuvor unter dem vergänglichen Namen Liane entgegentrat, kann in Wahrheit keine andere sein als die gefeierte Hetäre Lais. Denn eher wäre es möglich, daß sich in meinem Gedächtnis die Namen der sieben Weisen auslöschten, als der Name der Lais, die zusammen mit ihrem Genossen Aristipp den schönsten Doppelstern der klassischen Vorzeit bildet.

Deine galante Freundlichkeit, meinte Aristipp, neigt zu Übertreibungen. Schließlich können sich Zweiheiten wie Odysseus-Penelope, oder, um ein näherliegendes Beispiel zu nehmen, Perikles-Aspasia auch noch neben uns sehen lassen.

Lais lehnte beide Vergleiche ab und entwickelte in der Begründung eine dialektische Anmut, um die sie die elegantesten Rhetoren Athens hätten beneiden müssen. Wir ergingen uns noch in einigen ähnlichen Parallelen, um bei dem Schluß zu landen, daß jedenfalls Aristipp den Befähigungsnachweis für die praktische Philosophie durch die Wahl seiner Geliebten vollständig erbracht habe.

Du mußt nicht etwa glauben, äußerte jener, daß unser Seelenakkord so rein aufgeht wie Grundton und Oktave. Nein, wir gehen in den Ansichten oft weit auseinander, und wir beide halten solche Dissonanzen für das einzige Mittel, um die Langeweile des verliebten Idylls zu vermeiden. Zwei Linien, die ganz parallel gehen, treffen sich eigentlich nie, aber es steht ihnen frei, auf unendlich verschiedene Art zu divergieren und damit unendlich viele Treffpunkte zu gewinnen. Vor zehn Minuten hatten wir wieder so eine Divergenz: Lais hat zwar schon sehr oft Modell gestanden, allein fast durchweg für den Zweck der Skulptur, während die Maler darüber ein wenig vernachlässigt wurden. Also sie soll sich malen lassen, und insofern waren wir ganz einig. Aber von wem? Ich schlug unseren berühmten Zeuxis vor, während sie – kaum glaublich! – ihr Porträt absolut von Tizian anfertigen lassen will.

Nein, nicht absolut, korrigierte Lais, ich sagte: von Tizian oder Leonardo da Vinci.

– Gleichviel, ergänzte Aristipp. Wenn wir hier auf Tizian oder Leonardo warten wollen, so begeben wir uns in ein Gebiet der unwahrscheinlichen Zufälle, denn wie sollten diese Meister aus ihrer Epoche hierher nach Amathus finden?

Genau so, erklärte sie, wie dieser Herr aus dem zwanzigsten Jahrhundert in unsere Olympiade gefunden hat. Wir haben doch eben erlebt, daß so etwas möglich ist.

– Immerhin, das ist doch ein mystischer Ausnahmsfall, und außerdem, wenn auch deine Italiener in der Maltechnik höher stehen mögen, so würde doch unser Landsmann Zeuxis deine hellenische Eigenart besser treffen, unmittelbarer. Also Kind, sei vernünftig, begib dich zu ihm in die Werkstatt, – dort drüben durch den Portikus, und dann das achte Haus rechts – ja, und wenn du mir einen besonderen Gefallen erweisen willst: sogleich.

– Du brauchst mir nicht zu sagen, weshalb, lächelte Lais, denn man merkt es dir an: du möchtest mit unserem nordischen Freund Vertrauliches verhandeln, am Ende gar Dinge, die dir leichter von der Lippe gehen, wenn kein weibliches Ohr zuhört. Hab' ich's erraten? das war nicht schwer. Ich kenne ja deine Mitteilsamkeit. Also, Liebster, dein Wunsch ist mir soweit Befehl, als ich euch jetzt allein lasse, und überhaupt so lange du willst; mit der weiteren Vergünstigung, daß ich dir jedes Thema freigebe, ohne auf irgendwelche Verschwiegenheit zu rechnen.

Und sie entschwebte über den Rasenteppich an den Agaven vorüber, nach dem Portikus.

»Mit andern Worten,« so sagte ich, »ich habe zu hoffen, daß du mir jetzt einiges aus den Verflechtungen deines Lebens mit dem der Lais erzählen wirst. Da wären indeß einige Vorfragen zu erledigen. Soll ich von dir nur die Bestätigung früherer Berichte vernehmen? oder wird etwa deine Darstellung ihre Widerlegung bringen?«

– Erwarte kein einfaches Ja oder Nein und mache dich überhaupt darauf gefaßt, daß dir bald genug seltsame Rätsel entgegen treten werden. Sie sind die Folge der veränderten Zeiteinstellung, der wir beide unterliegen, ich vielleicht noch spürbarer als du. Was du durch mich erfahren sollst, stimmt in den äußeren Geschehnissen, romanhaft gesehen, mehrfach mit anderen historischen und dichterischen Berichten überein. Wir werden sie aber innerlich betrachten, und dabei werden sich Bilder entwickeln, wie sie bisher in keiner Geschichte und in keinem Roman möglich waren. Deshalb unmöglich, weil noch nie zuvor ein Erzähler sich in meiner Lage befunden hat, in der Lage eines Menschen, dessen Seele zwischen den Zeiten fluktuiert; dem das Alte und das Neue gleichzeitig gegenwärtig ist, und dem es schon gegenwärtig war zur Zeit der Episoden, die ich dir schildern werde.

»Erlaube, Aristipp, – du kannst dich wohl heute deiner eigenen Vorzeit erinnern, aber es ist nicht einzusehen, daß sich schon damals in deinem Denken und in deiner Anschauung Bestandteile der Jetztzeit befunden haben.«

– Du übersiehst das Wesentliche, Freund Alexander, nämlich, daß es hier gar nicht darauf ankommt, dir einen neuen Abklatsch alter Ereignisse nach dem Rezept der Geschichtenschreiber zu bringen. Vielmehr will ich die Begebenheiten so darstellen, wie nur ich, der sie einst erlebte, sie zu bieten vermag; ich mit meinem vom Zeitzwange erlösten Sonderbewußtsein. Dieses Bewußtsein arbeitet mit vielfachem Rhythmus, synkopiert, mit Einstellung auf verschiedene geistige Sehwinkel, und so sehe ich heut in der Erinnerung die Dinge in einer so reichen Abtönung, wie sie die nackten Tatsachen an sich gar nicht besitzen; mit Unwirklichkeiten und transzendenten Erhöhungen, denen gegenüber die Philisterfrage »authentisch oder nicht?« gar keine Bedeutung besitzt. Meine Darstellung wird »richtig« sein, so wie in der Mathematik das Imaginäre und in der Weltgeometrie das Vierdimensionale richtig ist.

»Ich bin nun wirklich neugierig und bitte dich nur: weiche im Tatsächlichen nicht gar zu sehr vom Wieland ab, dessen dir gewidmetes Werk ich maßlos liebe und verehre.«

– In dieser Taxe stimmen wir überein. Sein Werk ist reich an Schönheit und Divination, macht aber meine eigenen Reminiszenzen durchaus nicht überflüssig, ebensowenig wie die Quellen im Lukian, Plutarch, Athenäus, Diogenes Laërtius, Heliodor, Pausanius und Xenophon Wielands Dichtungen entbehrlich machen könnten. Seine Einfühlung in meine Zeit ist erstaunlich, und zu bedauern sind die Vielzuvielen, die von ihm nur das Vielzuwenig kennen; obschon zehn Seiten von ihm ausreichen müßten, um Goethes Wort zu rechtfertigen: das ganze obere Deutschland verdankt ihm seinen Stil . . .

»Gott, wie modern du auf einmal redest! eben warst du noch bei Lukian und Xenophon, und dein erstes Zitat kommt aus Weimar!«

– Du wirst dich an solche Zeitsprünge bei mir schon gewöhnen. Und um dir das zu erleichtern, beginne ich mit einer ganz einfachen Zeitverschiebung nach der geläufigen Formel: »Es war einmal«.

* * *

Ich befand mich damals zu Korinth, was soviel besagt, als daß mir sehr wohl zumute war. Korinth gilt als eine der üppigsten Städte der Welt, auf Schritt und Tritt wird der Blick durch reizende Luxusgegenstände gefesselt, und wenn man wie ich als Sohn eines vermögenden Hauses aus Kyrene die blanken goldenen Dareiken im Beutel fühlt, so ergibt sich auf alle Fälle eine angenehme Beziehung zur Umwelt. Die bloße Empfindung, das alles kannst du haben, wenn du nur willst, erfüllte mich mit Vergnügen, und ich konnte durchaus nicht finden, daß die Entsager Recht haben, die von der raschen Verflüchtigung des Genusses reden; die Freude am Reichtum, an seiner inneren stets der Betätigung gewärtigen Potenz, hielt sich bei mir auf gleicher Höhe und nützte sich nicht im mindesten ab. Die Glückseligkeitslehre, die mir später zur Methode wurde, steckte mir schon damals als Stimmung im Blute; und wenn ich mich mit irgendeinem der Entsagungsapostel verglich, so wurde mir klar: Jene, die Zyniker, die Abstinenten sind eigentlich die Egoisten, nicht ich. Mit all ihren Abstinenzen gehen sie auf Paradestücke los, die Beifall einheimsen sollen, und es ist insofern ein Glück, daß sie ihre Ideen nicht verwirklichen können, als sie dann in einer Elendswelt leben müßten, umgeben von vertrotteltem Lumpenvolk, das zur Bewunderung des einzelnen Lumpen gar keine Veranlassung hätte. Die Zyniker, die Prediger der Bedürfnislosigkeit, leben nur von ihren Kuriositätserfolgen, sie sonnen sich in ihnen selbstgefällig und selbstsüchtig; während in meinem Genießertum der unegoistische Wunsch steckt, alles um mich her so froh, so bedürfnisreich und zur Sättigung der Bedürfnisse so vermögend zu sehen wie mich selbst. Es würde sich nicht verlohnen, in einer Welt zu leben, in der nicht der Genießer als das Paradigma für alle anerkannt wird.

Der Zyniker, vielleicht auch seine veredelte Abart, der Stoiker, mag sogar in seiner Ganz- oder Halbverdrecktheit auf die Lust des täglichen Bades verzichten. Was mich betrifft, so streckt jede Badeanstalt, wenn ich auch nur deren Fassade erblicke, magnetische Fänge nach mir aus, und ich spüre schon in der Kleidung die Wohltat der umhüllenden Wasserflut als Vorfreude. So auch hier in einer lärmenden Straße Korinths vor einem zierlichen Bau, dessen Anlage deutlich genug die Bestimmung verriet. Ich gehe hinein, suche einen Aufwärter, finde im Augenblick keinen, und klinke auf gut Glück an einer der Badekammern. Die Tür gibt nach, und ich trete ein, genau in dem Augenblick, da eine junge weibliche Person, die sich allein darin befand, im Begriff war, aus dem Bade zu steigen.

Ich gestehe, daß ich der Situation nicht gewachsen war und wenigstens einige Augenblicke unter dem Zuge widerstrebender Kräfte stand. Die eine trieb mich als wohlerzogenen jungen Mann zum schleunigen Rückzug, die andere zwang mich, den frevelhaften Einbruch in ein unbewachtes Frauengemach zu vollenden; und so wäre ich vielleicht dicht an der Tür im peinlichen Gleichgewicht verblieben, wenn nicht ein helles Lachen der rasch wieder untertauchenden Dame den Bann gelöst hätte.

Eigentlich, – rief sie mit einer Stimme, die von Belustigung über den Zwischenfall noch immer vibrierte, – eigentlich hättest du das Schicksal des Aktäon verdient, der die Nacktheit der Diana überraschte und dafür in einen Hirsch verwandelt wurde!

Ich hatte bei dieser freundlichen Ironie meine Fassung wiedererlangt und entgegnete: Also bin ich für mein unfreiwilliges Vergehen begnadigt, denn eine Anrede, die mit »eigentlich« beginnt, verkündet keinen Zorn. Übrigens habe ich die Diana schon immer im Verdacht gehabt, daß sie sich am Aktäon rächte, nicht, weil er ihre Schönheit, sondern weil er ihre Schönheitsfehler belauscht hatte. In dieser Hinsicht, schöne Dame, hast du einen Vorzug selbst vor der Göttin: du darfst verzeihen, denn du triumphierst.

– Allerdings, sagte sie, die übertriebene Schlankheit der Artemis ist nicht nach jedermanns Geschmack, und ich möchte nicht so gebaut sein wie sie. Aber wer weiß über sich selbst genau Bescheid? Man ist immer auf die Urteile anderer angewiesen. Verschiedene Bildhauer, unter ihnen namentlich Skopas, haben mir gesagt, daß ich der Venus näher käme. Sage mir, Fremdling, findest du das auch?

– Wenn du einen solch gewaltigen Namen wie Skopas aussprichst, so wäre es vermessen, meine Ansicht neben die seine zu stellen. Er bedarf meiner Zustimmung nicht, noch viel weniger dürfte ich es mir einfallen lassen, ihm zu widersprechen.

– Du willst mir ausweichen, aber das wird dir nicht gelingen. Einer Frau genügt nicht die Meinung der Autorität, sie will wissen, wie sie auf irgendeinen wirkt, der durch ihren Anblick überrascht wird. Du allein bist hier gegenwärtig, und der Gegenwärtige hat Recht. Also sprich, wie findest du mich?

– Ich habe selten einen so reizenden Körper gesehen.

Selten?? Nun wahrhaftig, das ist ein Kaltwasserguß in den Thermen. Man wird kühl in Vergleich gestellt mit anderen; das war nicht zu erwarten. Warum äußerst du dich nicht stürmischer?

– Weil du mich gefragt hast. Und in dieser Frage lag die vorpräparierte Antwort, lag die Absicht, von mir lediglich ein Echo zu vernehmen, während ich gern mit meiner eigenen Stimme zu Worte komme. Wenn du die hören willst, so wird vielleicht mehr dabei zutage treten als bloß die Verhimmelung deiner Gliedmaßen.

– Erstaunlich! Ich war auf Explosion gefaßt, und er will mit mir ein akademisches Kolleg abhalten! Ich komme mir vor wie ein Objekt auf der Anatomie; schaut er nicht aus, als wollte er mich mit den Augen sezieren?

– Nur um deine Vollkommenheit zu prüfen, und siehe, schon im ersten Anlauf sehe ich einen Vorzug, der noch einen anderen Maßstab verlangt, als den der bildhaften Schönheit. Du bist geistreich, Frau, und diese Eigenschaft prägt deinem Kopf und Gesicht eine Weihe auf, die wunderbar mit ihren Lieblichkeiten verschmilzt.

Sie erriet wohl, was ich meinte. Denn ihr Vergleich mit der Anatomie kündigte an, daß sie befähigt war, sich in eine andere Zeit vorauszufühlen und in einen Begriff, der damals in Korinth durchaus nicht landläufig vorhanden war. Solches Vorwegnehmen wird nur bei seelenwanderischen, hochgeistigen Naturen angetroffen und findet sein sichtbares Zeichen in einem besonderen, wie von Ahnungen durchleuchteten Gesichtsausdruck. Tritt dieser bei einer anmutigen Frau zutage, so empfindet man: sie ist nicht nur hübsch nach der Taxe der Gegenwart, sondern schön, mit dem Anspruch, in allen Zeiten für schön gehalten zu werden.

Aber diese Anerkennung genügte ihr nicht. Sie verlangte vielmehr die weitere Begründung meines Lobes, und so gerieten wir unversehens in ein ästhetisches Gespräch, unter Umständen, wie wohl noch niemals dergleichen verhandelt sein mag. Denn sie befand sich noch immer in der Situation einer Quellnymphe, und mir lag daran, sie möglichst lange darin festzuhalten. Und als sie Anstalten traf, ihre Aufwärterinnen zum Ankleiden herbeizurufen, bat ich sie, damit noch zu warten, da meine Auseinandersetzungen zweifellos besser ausfallen würden, wenn ich das volle, unverhüllte Studienobjekt vor Augen behielte. Sie sollte sich vorstellen, sie wäre jetzt ein Künstler-Modell; dann könnte mich vielleicht das sinnlich Sichtbare anregen, aus ihm ein übersinnliches Gedankengemälde zu entwickeln.

Es liegt nichts daran, alle Phasen unseres Dialogs einzeln zu wiederholen. Ich gebe nur Proben, und überlasse es dir, zu ergänzen, was dir unvollständig erscheint.

Wer philosophisch veranlagt ist und den Anblick einer entkleideten Schönheit genießt, der wird nach dem allerersten Affekt des brutalen Begehrens den Antrieb verspüren, seine Leidenschaft in künstlerischer Betrachtung abzuklären, und er wird dabei Stimmen aus einer übergeordneten, intelligiblen Welt vernehmen. Ist er sehr hellhörig, so vernimmt er dabei die Botschaft, daß alles, was uns bisher unter dem Namen der Schönheitslehre mitgeteilt wurde, nicht standhält vor dem Erlebnis, und daß dieses Geheimnisse umschließt, von denen unsere Ästhetik kaum die ersten Andeutungen verrät. Und sie kann nicht mehr verraten, da sie stets systematisierend, vereinheitlichend vorgeht, während sie von Grund aus zweiteilig ist. Die Ästhetik des Mannes und der Frau sind grundverschiedene Dinge, und es kann vorläufig nicht daran gedacht werden, sie auf einen Generalnenner zu bringen. Es ist so, als hätten wir eine Elektrizitätslehre vor uns, die nur mit einerlei Strom arbeitet, die von getrennter positiver und negativer Ladung gar nichts weiß. Dadurch käme zwar eine scheinbare Einheitlichkeit zustande, allein die physikalische Natur bliebe verborgen. Nichtsdestoweniger werden auch wir die Vereinheitlichung einmal erreichen, wenngleich auf einem Wege, der heut noch völlig ungangbar erscheint. Ich stecke die ersten Lichter auf diesem Wege auf, um zu zeigen, wohin die Reise einmal gehen wird.

»Sage doch« – unterbrach ich, Aristipps Zuhörer, – »waren es wirklich derlei Abgründigkeiten, die deine Badedame hören wollte? Sie war doch, wie anzunehmen, die Hetäre Lais, und die hättest du vermutlich besser unterhalten, wenn du die schöngeschwungenen Linien ihrer Beine und Lenden angeschwärmt hättest.«

– Glaube das nicht. Ihre Eitelkeit war nach anderer Richtung erregt, und es befriedigte sie, daß ihre Körperschönheit bei mir Betrachtungen auslöste, an die sie bei ihren bisherigen Galanen nicht gewöhnt war. Ich merkte das an dem Temperament, mit dem sie wiederholt, auch mit Widerspruch, in die Debatte eingriff. Sie freute sich, daß ihre Reize als Ausgangspunkt zu einem Bildungsniveau führten, auf dem die Geschlechtlichkeit der Intelligenz zur Folie diente. Das Sexuelle brauchte vorerst nicht zu verschwinden; im Gegenteil, es war in voller Kraft vorhanden, als wir die Frage berührten: Wie kommt es wohl, daß man in allen Sprachen die Frauen als das »schöne Geschlecht« begreift? Ist nicht schon hierin ein Motiv gegeben, die ganze Ästhetik als männlich betont zu erachten, als dirigiert vom Sexualapparat des Mannes? Und wäre es möglich, einen Standpunkt zu gewinnen, der gänzlich darüber hinausführt?

– Mit der einfachen Umkehrung der Frage wird nichts erreicht. Die sexuell gestimmte Frau liefert nur das Spiegelbild der Erscheinung, wenn sie den Mann schön findet, verwandelt nur in den Dual, was ebensogut hätte Singular bleiben können. Und wenn der Titel des schönen Geschlechts bis auf diesen Tag beim Weibe verblieb, so liegt der Grund bei der gelehrten Ästhetik, bei den Akademikern, die sie ganz primitiv geschlechtlich verfaßten und die Galanterie der Volksmeinung ohne weitere Prüfung in ihre Wissenschaft hinübernahmen.

»Begreifst du darunter auch die Ästhetiker der späteren Zeiten, Kant, Herbart, Vischer, kurz alle die, deren Lehren du selbst in deiner andern Gestalt als Argelander kennen gelernt hast?«

– Die besonders; denn in deren Methode hat sich gegen die Urzeit nicht viel geändert. Sie alle drehen sich in dem Fehlerzirkel, daß sie zuerst das vom Weibe ausströmende geschlechtlich Zaubervolle als schön empfinden, und dann das Schöne so definieren, daß der nämliche Zauber sein Bestimmungsgrund wird, so daß von vornherein zwischen Weib und Schön ein tautologisches Verhältnis herauskommt; das zwar im Museum und im Ballsaal widerspruchslos bestehen mag, aber in der wirklichen Wissenschaft vom Schönen gar nichts zu suchen hat.

Hier kommen wir damit nicht aus. Ich betrachte die nackte Lais in einer Anschauung, die sich dem Reiz mit höchstem Wohlgefallen hingibt, ohne indeß die Besinnung zu verlieren. Lais nimmt mir das nicht übel, denn sie weiß zwar, daß sie das Prädikat schön unter ihresgleichen verdient, möchte aber erfahren, ob ihr der Titel als eine Naturnotwendigkeit zukommt, oder nur als Begleitung der Begierden, die sie erregt. Meine Besinnung fängt sonach an zu analysieren und findet zunächst die elementaren Tatsachen, daß ihre Gestaltung im Muskulösen feiner, ihre Züge zarter und sanfter, ihr Körper eleganter, ihre Haut glätter und ebenmäßiger ist als beim starken, grobknochigen Mann. Hier stößt die Betrachtung, wenn sie imstande ist, über die schmachtselige Schwärmerei hinauszusteigen, auf einen quantitativen Unterschied. Eine glatte Haut zeigt in allen Vergleichspunkten geringere Differenzen als eine rauhe Haut, deren Rauheit eben auf einer Folge vor Vorsprüngen und Höckern beruht. Unser Auge, wie auch der Tastsinn, vernachlässigt die mikroskopischen Unterschiede, findet die weibliche Haut beinahe eben, und deutet als zart, als angenehm, was ohne diesen adjektivischen Beigeschmack nichts anderes ist als eine Verringerung der geometrischen Differenzen. Man kann also ›mathematisch denkend‹ von einem Minimum-Problem reden: in der Weiblichkeit waltet eine Natur, die es darauf anlegt, die Hautfläche und jede darauf mögliche Linie auf ein Minimum zu bringen. Der Vergleich mit der männlichen Struktur macht dies auch der gröberen Wahrnehmung kenntlich, und so gelangen wir dazu, unsere Koseworte zart, lieblich als Umdeutung geometrischer Zustände zu begreifen. Dies ist der erste, wirklich nur allererste Anfang einer Ästhetik, die darauf hinaus will, die Schönheit wissenschaftlich zu erfassen, denn es gibt keine Erfassung außer der, die ihre methodischen Mittel aus der einzig sicheren Quelle, der Größenlehre, schöpft.

Wir gehen sofort einen Schritt weiter, um ein Leitseil in die Hand zu bekommen, das sich mit dem ersten zwanglos verknüpft. Indem wir am Weibe das quantitativ Verkleinerte wahrnehmen, das auf unser Gefühl wirkt, gelangen wir instinktiv an ein Diminuendo, an den Begriff des Niedlichen, das heißt an die Vorstellung des Kindlichen, des Kindes, und unser Bewußtsein fügt die beiden Elemente, das Zarte und die Kindesliebe in unmittelbaren Zusammenhang. Jenes geometrische Minimum setzt sich also in direkte Beziehung zum stärksten Triebe der Kreatur, zur Gattungserhaltung. Unser Wohlgefallen am Kinde, unser heißes Verlangen, im Kinde unser eigenes verkleinertes Ebenbild zu liebkosen, gewinnt eine mathematisch-ästhetische Bedeutung, da wir das Verkleinerte bereits am Weibe wahrnehmen, und auf dieses die Entzückungen übertragen, die uns die Vorstellung des Kindes verspricht; (daher auch im ganzen Register der Koseworte – Liebchen, Schätzchen usw. – das Diminutiv vorherrscht; bis in das Gebiet verzückter Andacht, wo sich ein Heiland zu Jesulein verkleinert.). Daß wir im Weibe das Kind lieben, das Symbol unserer Unsterblichkeit, wäre nur eine Binsenweisheit. Wir sind jetzt darüber hinaus. Die Idee der ewigen Dauer wird uns in gegenständlicher Form sichtbar und fühlbar; in der Oberflächengestaltung der Erzeugerin, welche die Niedlichkeiten des Kindes bereits vorwegnimmt, in möglichster Verkleinerung der materiellen Unterschiede, in möglichster Annäherung an die kürzeste Linie und kleinste Fläche. Befragen wir die große Lehrmeisterin Sprache: sie nennt den verkleinernden Maßstab den »verjüngten«, sie holt aus der Jugend, in der wir uns fortsetzen wollen, das Gleichnis der Größenmessung. Und in mancherlei Sprachproben finden wir ähnlichen Anklang. Im Magyarischen heißt die Pistole: »Flintenkind«, die Indianer haben eine Bezeichnung für Schiebkarren als den »Sohn des Lastwagens«; wodurch gezeigt wird, daß die Anschauung stets bereit ist, eine Größenverkleinerung auf den Zeugungsprozeß zu beziehen. Aber die Jugend ist ja nicht nur die Fortsetzung, sondern auch der Ursprung des Alters, sie reicht in die Urewigkeit zurück, und wenn wir in der weiblichen Form die geometrischen Zeichen der »Verjüngung« wahrnehmen, so spüren wir darin den Emporschwung über alle Zeit, einen Erkenntnisgrund, dem der Dichter nahe kommt in dem Gesang ›Ewig war ich, ewig bin ich!‹

»Aristipp,« sagte ich, »in deinen Ausführungen entdecke ich Bedenklichkeiten. Ich gehe soweit mit, als du den Schönheitsbegriff auf bestimmte Maßverhältnisse zurückführen willst. Aber mit deiner Reduzierung in Tilgung der Flächenunterschiede kommst du nicht durch. Du sahst den Busen der Lais, den ich ja auch schon gesehen habe, wenn auch nicht in puris naturalibus. Aber man braucht ja kaum Röntgen-Augen zu besitzen, um durch das Kleid hindurch von seiner Wölbung entzückt zu werden. Hier versagt also dein Minimum. Legte es die Natur darauf an, durchweg die geringste Oberfläche zu gestalten, so besäße das Weib eine Brust wie ein Plättbrett. Und deine ganze Begegnung im Bade wäre eine sehr trübselige Sache gewesen, wenn die Hemisphären deiner Lais sie nicht zu einer höchst erfreulichen gemacht hätten.«

– Sicherlich. Nur daß die Grundsätze der Natur sich nicht in einer einzigen Formel aufschreiben lassen, sondern daß hierzu ein ganzes System gehört, für das ich die nötigen Ansätze liefere. Das Minimum-Prinzip bleibt dabei als der oberste Regent bestehen, wie in der Physik überhaupt, verfassungsmäßig geleitet durch andere Regulative. Erstlich ein physiologisches. Der Busen des Weibes hat eine Bestimmung für das Kind als Nahrungsquelle. Hier läge also ein Postulat vor, nach dem Gesichtspunkt: je ergiebiger, desto besser. Sofort meldet sich das oberste Prinzip mit der Forderung: die Brust so zu gestalten, daß sie das Maximum der Ergiebigkeit mit einem Minimum der Fläche vereinigt. Diese Forderung muß restlos erfüllt werden, damit das Ergebnis ästhetisch befriedigend wird, sie ist die Vorbedingung für das Schöne als Möglichkeit. In der ganzen Menge der Möglichkeiten gibt es für eine bestimmte Persönlichkeit nur eine Lösung, nämlich die, welche eine Verträglichkeit herbeiführt zwischen möglichst großen Raum und geringster Fläche.

»Da wären wir ja mitten in einem Keplerschen Problem!«

– Die Analogie stimmt vollkommen. Was die Natur mit dem Busen vorhat, und wofür die Brust der Lais ein so prachtvolles Exempel bietet, ist im Grunde nichts anderes, als die Aufgabe, die den berühmten Johannes Kepler zur Begründung der Infinitesimalrechnung gebracht hat. Die Nebeneinanderstellung mag prosaisch klingen, ist aber nicht zu vermeiden: Auf der einen Seite die Götterbrust der Hetäre, – auf der anderen ein Weinfaß, denn dies ist für Kepler die Grundlage der Betrachtung. Aber schließlich steckt in beiden das Berauschende, und Bacchus wie Venus geben uns ja dionysische Freuden!

Also Kepler sah die Forderung folgendermaßen an: Wie ist ein Weinfaß am zweckmäßigsten zu gestalten, so daß es bei Aufgebot der geringsten Menge von Dauben den größten Inhalt bietet? Und die nämliche Aufgabe stellt sich die Natur als Mathematikerin bei der Gestaltung der Brust; ebenso bei der Bildung der Lende, des Beckens, in deren Räumen die Liebesfrucht ausgetragen werden soll. Nur, daß ihr Daubenholz hier aus Materialien des weiblichen Organismus besteht.

Die Natur rechnet also, und sie verrechnet sich nie. In jedem Falle sagt sie uns: diese Lösung ist die vollkommenste unter den Bedingungen des Zwecks und des Materials. Sie müßte dann auch dem betrachtenden Menschen als die künstlerisch vollkommenste erscheinen, wenn der imstande wäre, das Zweckhafte und mathematisch Vollendete künstlerisch zu begreifen. Das kann er aber vorläufig noch nicht, weil er von Idealen bedrängt wird, die er sich selbst zurechtlegt, und deren fortwährender Wechsel von Volk zu Volk, von Epoche zu Epoche schon anzeigt, daß sie im höchsten Grade korrekturbedürftig sind und weit entfernt von der Sicherheit der formenden Natur.

Aber der betrachtende Mensch könnte einen Fortschritt verzeichnen, wenn er sich entschlösse, wenigstens der mathematischen Gestaltung künstlerisch nachzuspüren. Die Natur, die ihm ihre letzten Zwecke so hartnäckig verbirgt, ist nicht ganz so störrisch im Geometrischen. Sie hebt da etliche Schleier und gestattet uns, sie weiter zu lüften.

Nämlich sie baut im Zuge ihrer physiologischen Zwecke Kurven und Flächen in den Weibeskörper und deutet damit auf Figuren, deren Kunstbedeutung uns nicht mehr ganz undurchdringliches Geheimnis zu sein braucht. Also, um bei der weiblichen Brust zu bleiben: – die Rundung. Wir sprechen – ungenau genug – von den beiden Halbkugeln der Frauenbrust und besingen sie in allen Tonarten. Was liegt dem zugrunde? ein alter Glaube, den wir wiederholen, ohne zu ahnen, daß er lediglich eine mathematische Überzeugung ausdrückt.

Denn schon die Pythagoreer sagten: »Unter den körperlichen Gebilden ist die Kugel, unter den ebenen der Kreis am schönsten.« Aristoteles und unzählige nach ihm waren derselben Meinung. Den Schlüssel hierzu liefert die Variationsrechnung, die uns erklärt: unter allen Körpern mit gegebener Oberfläche besitzt die Kugel den größten Inhalt, und bei gegebenem Inhalt die kleinste Oberfläche. Hier haben wir das zuvor erwähnte Natur-Prinzip in reinster Form. In diesem Zusammenwirken von Größt und Kleinst liegt der Keim eines Wohlgefallens, die Wurzel einer Empfindung, die sich uns als die der Schönheit offenbart.

Aber damit sind die Bedingungen noch bei weitem nicht erschöpft. Die Natur begnügt sich nicht beim Kugelschema, löst vielmehr ihr Problem bei jeder Person in anderer Weise, da bei jeder andere Faktoren mitwirken, deren Variationsmöglichkeiten uns verborgen bleiben. Und so geschieht es, daß erst unter vielen Tausenden von Formen eine hervortritt, bei der sich unser Entzücken besonders kräftig betont. In ihr wird die Regel der Kreislinie durchbrochen, das Profil einer Frauenbrust, die auf unserer Kulturstufe als ideal schön erscheint, entspricht vielmehr einer anderen Kurve: der Sinuslinie.

Die neue Ästhetik hat daher in ihren Anfang den Satz aufzunehmen: Das Pythagoreische Ideal versagt bei der Schönheitsschätzung der Körperlinien, der Kreis wird von anderen Kurven an Schönheit übertroffen.

Und hier baut sich plötzlich eine Brücke zwischen den Schönheiten. Jene Sinuslinie, der mathematische Ausdruck des zartesten und eindruckvollsten Frauenreizes, ist zugleich das Kennzeichen des reinen musikalischen Tones. Man schlage eine Stimmgabel an und projiziere ihre Schwingungen auf ein bewegtes Band: die Sinuslinie erscheint, Busen wölbt sich an Busen, und so ahnen wir eine Verkettung des optisch-Schönen mit dem Akustischen: in der Frauenbrust lebt ein Element, das uns wie ein Klang anspricht. Und wenn wir auch nicht jedes Glied dieser Kette bloßzulegen vermögen, so fühlen wir doch die Verwandtschaft der Elemente. Beide, sowohl das körperlich- wie das musikalisch-Schöne, sind geschlechtlich betont; denn der Klang spielt in der Sexualwerbung der Kreaturen keine geringere Rolle als die Kontur und Farbe. Der Klang aber ist bis zu gewissem Grade der mathematischen Behandlung zugänglich. Und so steht zu hoffen, wenn auch in weitferner Möglichkeit, daß auch seine Schwester, die Optik des Körperschönen, einmal wird exakt erforscht werden können. Gelingt dieses, dann hat man zwei Linien, deren Konvergenzpunkt im rein Geschlechtlichen liegt: mit anderen Worten: es ist nicht undenkbar, daß das für uns noch undurchdringliche Geheimnis der Liebe durch analytische Berechnung aufgesprengt wird.

»Weißt du, Aristipp,« bemerkte ich mit einem Anflug von Wehleidigkeit, »deine Ästhetik ist eigentlich recht unästhetisch. Sie erinnert mich an die neuerdings mehrfach betriebene Disziplin der »Psychologie ohne Seele«, und ich meine, wenn deine Prognosen auch nur zum kleinsten Teil in Erfüllung gehen, dann kann das reine, unmittelbare Genießen einpacken. Ich lasse es mir gefallen, wenn anatomische Betrachtungen ins Künstlerische hineinspielen. Das ist unvermeidlich und hat auch bei Michelangelo, Benvenuto Cellini und Lionardo gegolten. Aber die völlige Auflösung des Schönen in wesenlose Mathematik, – ich sage ja nicht, daß sie undenkbar erscheint, aber sie erschreckt mich gerade deshalb, weil sie möglich ist. Und der Schritt von der sublimen Wonnevorstellung eines blühenden Busens zum Keplerschen Weinfaß mag theoretisch gerechtfertigt sein, tatsächlich wirft er den, der ihn mitmachen soll, aus allen Himmeln. Es ist mir unfaßbar, wie deine Lais sich das anhören konnte, ohne von ihrem Kammerrecht Gebrauch zu machen und dir die Tür zu weisen.«

– Du unterschätzt sie eben noch immer. Und mich gleichfalls. Denn wir beide verfolgten lediglich unser Vergnügen, indem wir versuchten, uns wie Geisterseher über den Bannkreis des gewöhnlichen Denkens hinauszuschwingen; froh darüber, daß aller sinnliche Schönheitsgenuß uns vorbehalten bleibt, und daß jene Prognosen sich erst verwirklichen können, wenn der Mensch einen neuen Empfangsapparat aus mathematisch genießenden Nerven in sich eingebaut haben wird; was selbst nach seelenwanderischem Maß noch sehr lange dauern kann. Übrigens war unsere Unterhaltung weit früher zu Ende als mein Bericht zu erkennen gab. Nur der Anfang dieser seltsamen Ästhetik wurde in der Badekammer gesponnen, die Fortsetzung ergab sich erst nach geraumer Pause; denn ich nahm den geeigneten Moment wahr, um mich zurückzuziehen und den Aufwärterinnen Einlaß zu geben, die nachher, in meiner Abwesenheit, mit ihren Glossen nicht gespart haben mögen.

* * *

»Soweit mir aus anderer Quelle gegenwärtig, verließest du damals den Schauplatz, ohne genau zu wissen, mit wem du es überhaupt zu tun hattest . . .«

– Weder genau, noch ungenau, sondern ganz und gar nicht. Unsere Vorwegnahme ihres Namens und Standes war also eine kleine Lizenz, die mit dem Erlebnis nicht im Einklang stand. Ich hatte sie danach nicht gefragt, vielleicht, weil mir die Laune des Zufalls noch um einen Grad reizvoller erschien, wenn unsere Begegnung sich im Schatten der Anonymität abspielte.

Allein, bald meldete sich bei Aristipp, (wie aus der Fortsetzung seiner Rede hervorging), ein Anfall von Reue, und es wurde ihm klar, daß sein inneres Gleichgewicht eine leise Erschütterung erfahren hatte. Er kam sich vor wie in einer seelischen Kraftprobe, bei der es darauf ankam, nach Belieben vergessen zu können und sich gegen empfangene Eindrücke unabhängig zu halten. Schließlich war es doch eine Episode, die umsoweniger Macht über ihn gewinnen konnte, da sie unpersönlich verlaufen war, als ein Exempel mit unbekannten Größen. Und wenn er schon nach seinem Naturell entschlossen war, seinen Verstand und seine Freiheit überhaupt an keine schöne Frau zu verlieren, um wieviel weniger an eine, die im rasch verfliegenden Abenteuer gar keine Zeit gefunden hatte, sein Herz zu binden, und deren Momentwirkung sich bei Verlängerung der Bekanntschaft vermutlich wieder abschwächen würde.

Er versuchte die Angelegenheit auf die Formel zu bringen: »eine unter vielen«, und hierzu bot ja die rauschende Stadt Veranlassung genug. In den Wandelalleen der öffentlichen Lustgärten wimmelte es von Damen, die sich von ihren Verehrern umschwärmen ließen; unter den Huldinnen befanden sich nicht wenige, denen nur eine beschränkte Voreingenommenheit den Titel schön hätte verweigern können. In der goldenen Jugend der Männerwelt ragten etliche eindrucksvolle Gestalten hervor, das Mittelmaß überwog, während eine gewisse Minderzahl zur Klasse der Hanswurste gehörte, die ihr tägliches Flirt-Pensum nach automatischer Regel abschnurrte. Aristipp spürte das Verlangen, sich mit einer Dame einzulassen, gleichsam experimentell, um zu erproben, ob er sich durch den Kontakt mit einer neuen Erscheinung von seiner Unruhe befreien könnte. Er verlangte in seiner Spannung nach einem Blitzableiter. Dann wäre es ja erwiesen gewesen »eine unter vielen«, und er hätte nicht mehr nötig gehabt, einer Erinnerung nachzuhängen, die ihm unbequem zu werden anfing.

Diese wunderhübsche Person hieß Galliope. Sie zählte zur Kategorie der Leichtesten und Gefälligsten, die gar keinen Ehrgeiz daran setzen, sich erst umständlich erobern zu lassen. Sie ging aber noch einen Schritt weiter, indem sie mit ungeheuchelter Verliebtheit zu verstehen gab, daß sie sich durch Aristipps Nähe sehr beglückt fühle und daß sie an sich halten müsse, um ihn nicht auf offener Promenade zu umarmen. Sie müsse auch sogleich feststellen, daß sie irgendwelches Geschenk von ihm in keinem Fall annehmen würde, um sich nicht in dem Gefühle einer blitzartig aufflammenden Zuneigung beleidigt zu fühlen.

Mit dieser Galliope verbrachte Aristipp eine Rausch-Nacht, um die ein persischer Herrscher leicht eine halbe Provinz hergegeben hätte. Das einzige, was er an unmittelbarer Besinnung übrigbehielt, war das animalische Bewußtsein, das Süßeste vom Süßen durchzukosten. Aber schon am frühen Morgen, noch in den weichen Armen des zärtlichen Mädchens, ertappte er sich bei dem Gedanken an seine Unbekannte im Bade. Und dieser Gedanke verstärkte sich in ihm von Minute zu Minute, so daß Galliope zu weinen anfing, als der schöne Herr sich nachdenklich und ziemlich frostig von ihr verabschiedete, mit dem vergeblichen Versuch, ihr einen kostbaren Fingerring als Zeichen seiner Anwesenheit zu hinterlassen.

Es hatte im Plan seiner Lustreise gelegen, den Festen in Olympia beizuwohnen, ja, die Teilnahme daran bildete ursprünglich den Hauptpunkt seines Programms, in dem Korinth nur als vorläufige Haltestelle gedacht war. Da wäre Eile geboten gewesen, denn die Olympischen Kampfspiele waren bereits im Gange, und noch vor wenigen Tagen wäre es ihm unsinnig erschienen, auch nur deren Anfang zu versäumen. Denn er hatte dieses Fest, das sich nur alle vier Jahre erneuert, noch niemals gesehen, und Leben bedeutete für einen Kulturmenschen: Olympische Wettbewerbe erleben. Jetzt fiel ihm der Plan wieder ein, so nebenher, und er vermochte sich nicht mehr zur Abreise aufzuraffen. Was war ihm Olympia? ein ferner Tummelplatz mit Kämpfern, die ihn nichts angingen. Mochten sie sich besiegen und sich die Hälse brechen! Im Vordergrund stand einzig Korinth und die Möglichkeit einer Entdeckung, das Wiederfinden eines Weibes, das ihn erst so recht umwitterte, nachdem er seine Spur so unbedacht preisgegeben hatte.

Wirklich, das war Witterung! Der Duft, der sich von der Haut und dem Blondhaar der Nymphe gelöst hatte, verfolgte ihn, peitschte seine Sehnsucht, und er war sicher, daß er diese Emanation bei keinem anderen Wesen wieder antreffen würde. Diese Galliope etwa, – ja, sie hatte sehr lieblich geduftet, und es mochte hier wie in Athen und Aegina wohl manche leben, die sich noch balsamischer zu parfümieren wußte. Aber das war doch nicht dasselbe und reichte an die erste nicht heran. Und bei näherer Ergründung stieg ihm ein Zweifel auf: Man sagt Duft, um etwas zu bezeichnen, wofür die Sprache noch gar keinen Namen hat; wofür sie den Ausdruck erst bilden kann, wenn der Mensch von dem engen Aberglauben seiner wenigen Sinne loskommen wird.

Wir sagen ja auch so oft Licht, wenn wir Elektrizität meinen. Unsere Sinnes-Armut zwingt uns, dem Auge zuzuweisen, was dem elektrischen Organ zugehört, das wir leider nicht besitzen. Und so projizieren wir auf die Nase, was zwar in der Quelle mit dem Geruch verwandt sein mag, aber außerdem noch eine ganz transzendente Bedeutung besitzt; als ein geschlechtliches Fluidum, als die tiefste und höchste Ausstrahlung der Geschlechtlichkeit überhaupt. Es sind Schwingungen wie die optischen, wie die elektromagnetischen, die im letzten Grunde mit den musikalischen zusammenhängen. Aus ihnen formen sich Gebilde, die der unbekannte, im Geruchsorgan schlummernde Sinn als melodiös, harmonisch abgetönt, kontrapunktisch verflochten, wenn auch nicht unmittelbar wahrnimmt, aber erahnt. Unser auf spärliche Erfahrung eingestellter Verstand sagt ihm: »du riechst etwas«. Ein Insekt, wenn es gebildet sprechen könnte, würde korrigieren: das sind kümmerliche anthropomorphe, echt menschenwürdige Vokabeln. Der Duft ist nur das Signal für die mysteriöse Symphonie des zeugenden Lebens. Die Nase spielt dabei die Rolle des Tasters, der die Zeichen der Botschaft auffängt, ohne sie zu verstehen. Diese sind substanzlos, und wer sie auf Drüsen, Poren, Haarfäden zurückführt, der verfährt wie einer, der das Wesen einer Melodie in den Darmsaiten des Streichinstruments vermutet. Der materielle Ursprung wie der scheinbare Weg durch die Nase wird bedeutungslos für verfeinerte Naturen, welche nicht nur die Aussendungen des Dunstes und des Atems, sondern auch der Seele duftartig empfinden. Und wenn der Träger solcher Natur sich nach dem bestimmten Duft einer Frau sehnt, so unterliegt er einem künstlerischen Zwange: in ihm sind Saiten zum Erklingen gekommen, die nur wiederklingen werden, wenn sie durch dieselbe Duftmelodie der nämlichen Frau in Schwingung geraten.

– Ach wie ärmlich erschien mir in dieser Verfassung all das, was ich seither über die Natur des Schönen gedacht und gehört hatte, einschließlich dessen, was ich schon damals als spätere Kathederlehre voraussah. Die Nase ein untergeordnetes, künstlerisch unbefähigtes Organ! Warum nicht auch das Auge, da dieses von den Klangfiguren doch nur einige Umrisse zu sehen vermag, ohne ihren glühenden Sinn zu erraten. Vielleicht ist die Nase der Sphärenmusik näher als das Auge. Und vor allem die grandios tuende Definition »schön ist, was ohne Interesse gefällt«. Beim Zeus und Apollon! Hier schwebte mir etwas ungemein Schönes vor, gleichzeitig mit dem allerstärksten Interesse. Und wenn ich in meiner Stimmung aufgelegt gewesen wäre, neue Definitionen aufzustellen, so hätte ich gesagt: Schön ist diejenige Erscheinung, an deren Wiederfindung ich ein Interesse habe, das alle anderen Interessen überragt!

Natürlich hatte Aristipp seine Nachforschungen auch auf die Badeanstalt ausgedehnt. Allein hier führte die Nachfrage lediglich zu einem unangenehmen Disput mit den aufsichtführenden Eunuchen, die einen schweren Verstoß gegen die Hausordnung feststellten und die weitere Verfolgung des Missetäters dem Stadtvogt übergeben wollten. Nur ein Lichtblick zeigte sich, merkwürdigerweise im Wohnhaus bei dem Gastfreunde, der Aristipp beherrbergte. Eines Abends fand er auf dem Tisch ein winziges, zierlich gearbeitetes Drahtgeflecht, das nichts anderes enthielt, als eine blonde Locke. Kein Name dabei, kein Wortgruß, nichts. Es war auch nicht zu ermitteln, wie dieses Zeichen ins Haus gedrungen war. Niemand hatte einen Überbringer oder eine Botin bemerkt, aber nunmehr war doch ersichtlich, daß auch auf der anderen Seite ein Interesse bestand, und daß dort der Spürsinn weit erfolgreicher gewesen war als bei Aristipp. Über die Herkunft konnte natürlich nicht der geringste Zweifel obwalten. Blondlocken mochte es unzählbar in Korinth geben, aber diese eine trug ihr untrügliches Erkennungszeichen, das duftende Effluvium, das noch in äußerster Verdünnung ausreichte, um die Herkunft aufs Genaueste zu bezeugen.

Das war für den Augenblick eine hohe Sensation. Aber sie enthielt keinen Anhalt für die Verfolgung der Fährte und gab der Sehnsucht nur einen neuen peinigenden Stachel. Ein Geschöpf auf der Organisationsstufe der Biene oder Ameise hätte weiter gefunden. Der vermeintlich so viel höher gestufte Mensch bleibt ratlos im Gewirr der Stadt-Dünste, er schickt seine Blicke auf Erkundigung, er fragt umher, liegt auf der Lauer, rechnet auf Zufälle, die nicht eintreffen, bewegt sich direktionslos. So erschöpfte sich Aristipp in Nachforschungen, die schon darum ohne Ergebnis blieben, weil unter seinen Fähigkeiten das Spioniertalent die schwächste Ausbildung aufwies. Seine Anadyomene war im Strudel der Stadt untergetaucht, war und blieb verschwunden.


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