Karl Philipp Moritz
Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers
Karl Philipp Moritz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

An dem Stiftungstage einer Loge.

Heilig ist jeder Tag dem Maurer,
Wo ihm eine edle That gelang.
Er feiert ihn nicht mit Geräusch und Prunk
Sondern auf seiner stillen Kammer
Wenn er vor Gott seine Handlungen prüft.
Heilig ist ihm auch der Tag,
Wo Menschen in Bündniß treten,
Wodurch sie besser und glücklicher
Und edler und weiser werden.
Denn ist nicht der Anfang jedes Guten
Des innigsten Dankes der innigsten Freuden werth,
Weil nur durch ihn
Das erwünschte Mögliche ihm wirklich ward –
Sind wir nun auch durch dies Bündniß
Das uns alle zusammenknüpft
Wirklich besser und glücklicher
Und edler und weiser geworden;
Ist es, seitdem wir diesem Bunde knüpften,
In unsern Köpfen heller,
In unserer Seele stiller,
Und ruhiger in dem sich sonst empörenden Herzen –

O so sey uns dieser Tag nicht minder wichtig
Als der, welcher uns das Leben gab.
Zählten wir statt edler Fortschritte im Guten
Jedes Jahr
Nach Mahlzeiten, die wir genossen,
Bis zu diesem festlichen Tage,
So muß er von nun an
Unter den gleichgültigen Tagen
Des Jahrs vergessen seyn!
Denn was kümmert mich der Anfang dessen
Wodurch weder Böses verhindert
Noch Gutes gefruchtet ward!
Bei jeder menschlichen Unternehmung
Frägt die Vernunft, wo ist das Ziel davon?
Und findet sie keinen,
So ist die Unternehmung Kinderspiel und Tand.
Und was giebt es wohl für ein edlers Ziel des Maurers,
Als den höchsten Grad
Der Mäßigkeit und Standhaftigkeit,
Eine weise Unerschrockenheit
Eine unerschütterliche Rechtschaffenheit
Und eine unübersehliche Wahrheitsliebe zu erlangen?
Die Furcht muß der Maurer verlernen
Um groß und edel zu handeln
Predigen das nicht alle Symbole der Maurerei?
Uns der Notwendigkeit zu unterwerfen
Standhaft zu seyn in Gefahren
Unerschrocken vor dem Tode
Der für die Edeln
Wer bei jedem Schritte, den er thut,
Sein Leben, sein Ansehen, seinen Gönner,
Seine Bequemlichkeit zu verlieren fürchtet
Kriecht im Staube –
Und ist zu nichts Großem fähig. –
So wollen denn künftig wir, meine Brüder,
Die uns ein weiseres Band verknüpft
Uns einander vor dem Müßiggange
Der Weichlichkeit und der Unmäßigkeit warnen
Das uns allen winkt,
Und unsre Losung sey:
Die Beständigkeit!


Die folgenden Aufsätze sind zum Theil pädagogisch, und scheinen auf dem Unterricht seines Sohnes abzuzwecken, oder für einem seiner Freunde aufgesetzt zu seyn, dem er dadurch eine Anleitung zur Entwickelung der Begriffe bei Kindern geben wollte. Dieser Freund ist, wie ich von dem Hirtenknaben erfahren habe, ein Prediger, der zwei Meilen von hier wohnt: von ihm hoff' ich mehr Auskunft über Sonnenbergs Schicksal zu erhalten.


»Was ist denn Tugend?« fragte der kleine Amint seinen Vater –

Der Vater schwieg eine Weile, als dächte er an etwas anders – dann sagte er: komm, laß uns ein wenig im Garten spatzieren gehn!


Als sie nun im Garten hinter dem Hause spatzieren gingen, so zeigte der Vater dem kleinen Amint die fruchttragenden Aepfel-, und Birnbäume, und machte ihn aufmerksam, wie die Zweige unter ihrer Bürde sich niedersenkten. –

Insbesondre stand ein schöner Apfelbaum im Garten, der alle übrigen an Fruchtbarkeit übertraf – man war zweifelhaft, ob man mehr Blätter oder Früchte auf diesen Baume zählen sollte, so hatte sich manchmal an einem einzigen Zweige eines kleinen Astes eine ganze Traube rothwangigter Aepfel zusammengedrängt, welche die Stütze, die sie emporhielt, zu zerbrechen drohte.

Der kleine Amint konnte diesen Baum nicht genug betrachten, so sehr ergötzte ihn der Anblick desselben.

Dieser Baum ist mir auch sehr werth, sagte der Vater, die Aepfel die er trägt, sind sehr gesund und wohlschmeckend, und er trägt ihrer gewöhnlich so viele, daß wir fast den ganzen Winter über nach der Mahlzeit unsern Gaumen damit erfrischen können. –

Der Nachbar von diesen Baume, siehst du, trägt eben die Art von Frucht, aber er hat lange die Tugend nicht, wie dieser?

Tugend, Vater? – sagte der kleine Amint – kann denn ein Baum auch Tugend haben? – was ist denn Tugend?

Ich meine nur, sagte der Vater, daß der Nachbar von diesem Baume noch nie so viele und so schöne Früchte, als dieser, getragen hat, ob sie beide gleich von einem Alter, und von einer Art sind. –

Dieser Apfelbaum, der mir so werth ist, hat in zwölf Jahren nur einmal schlecht, und sein Nachbar hingegen hat in eben diesem Zeitraum nur einmal gut getragen – darum habe ich gesagt, daß dieser lange nicht die Tugend, wie jener habe. –

Der kleine Amint war sehr aufmerksam, auf das, was sein Vater sagte, und ob ers gleich noch nicht völlig verstand, so dachte er sich doch etwas dabei. –

Sie gingen darauf wieder ins Haus – und stellten sich eine Weile vor die Thüre, die nach der Straße zu ging. –

Da waren ein paar Knaben auf der Straße, die hatten sich an einer Mauer ein Ziel gemacht, nach welchem sie mit einem Schleuder warfen. –

Sie warfen immer wechselsweise. – Und während daß der eine von den beiden Knaben, das Ziel neunmal nacheinander traf, hatte der eine es nur ein einzigesmal getroffen. –

Der eine Knabe ist doch weit geschickter im Werfen, als der andre, sagte der kleine Amint zu seinem Vater. –

Man kann doch nicht wissen, sagte der Vater, dem andern kann sein Wurf nur vielleicht so oft mißlungen seyn. –-

O lieber Vater, sagte Amint, das ist nicht wohl möglich, wenn du bedenkst, daß der eine neun mal nacheinander das Ziel getroffen hat, während der andere es nur einmal traf. –

Wir wollen sehn! sagte der Vater! Sie standen noch wohl eine halbe Stunde an der Thüre, und derjenige von den beiden Knaben, welcher zuerst neunmal nacheinander das Ziel getroffen hatte, traf es nun noch zwanzigmal, ohne ein einzigesmal zu fehlen, während daß der andere, welcher immer wechselsweise mit ihm warf, es nur zwei bis dreimal treffen konnte. –

Siehst du nun wohl, Vater, daß der eine Knabe geschickter im Werfen ist, als der andere? sagte der kleine Amint. –

Ich sehe es! antwortete der Vater.

Als der kleine Amint nach Tische mit seinem Vater über die Straße ging, so kamen sie vor dem Hause eines Nachbars vorbei, der ein reicher Brauer war, und in einem alten zerrißnen Schlafrocke eingehüllt, und dem Kopf in eine große Mütze eingesteckt, aus dem Fenster sahe. Dieser winkte einen Bettler heran, und gab ihm einen Dreier. –

Das wundert mich, sagte Amint, daß unser Nachbar einen Bettler heranwinkt, und ihm einen Dreier in den Hut wirft. –

Warum wundert dich das? fragte der Vater. –

Weil das sonst gar seine Gewohnheit nicht ist, sagte Amint – ich habe sonst wohl gesehen, daß er herausgekommen ist, und die armen Leute mit einem großen Prügel vor seiner Thüre weggejagt hat. –

Aber wenn nun unser Nachbar, der Schmidt, einen armen Mann an seinen Fenster gewinkt, und ihm einen Dreier in den Hut geworfen hätte, würdest du dich auch darüber gewundert haben? –

O nein, darüber würde ich mich gar nicht gewundert haben – antwortete Amint –

Und warum nicht? fragte der Vater weiter –

Das ist ja sehr natürlich, versetzte Amint, daß ich mich darüber nicht wundern werde, weil unser Nachbar der Schmidt immer den Armen giebt – man ist das schon einmal von ihm gewohnt. –

Wem hälst du also für freigebig, fragte der Vater, unsern Nachbar den Brauer, der alle Jahr etwa einmal giebt, oder unser Nachbar den Schmidt, der immer giebt?

Versteht sich, unsern Nachbar, den Schmidt, erwiderte Amint. –

Welcher von den beiden Knaben, denen wir heute morgen zusahen, hälst du denn nun für eigentlich geschickt im Werfen, den, der unter zwanzigmalen kaum dreimal, oder den, der zwanzigmal nacheinander das Ziel traf? –

Versteht sich, den letztern; erwiederte Amint. –

V. Aber welchen von den beiden Apfelbäumen in unsern Garten hälst du für eigentlich fruchtbar, den der in zwölf Jahren nur einmal gut, oder den, der in eben so vielen Jahren nur einmal schlecht getragen hat?

A. Natürlicherweise den, der in so langer Zeit nur einmal schlecht und sonst immer gut getragen hat.

V. Du nanntest also den Schmidt dieserwegen freigebig, weil er gewöhnlich giebt; und den Knaben deswegen geschickt im Werfen, weil er gewöhnlich das Ziel trift; und den Baum fruchtbar, weil er gewöhnlich viel Früchte trägt; nicht wahr?

A. Freilich, deswegen.

V. Natürlicherweise gefällt dir auch wohl der freigebige Nachbar besser, als der Unfreigebige?

A. Nicht anders.

V. Und der im Werfen geschickte Knabe besser, als der ungeschickte?

A. Freilich.

V. Und der fruchtbare Baum besser, als der unfruchtbare?

A. Natürlich.

V. Aber von diesen dreien, was verdient nun wohl am meisten die Achtung und Liebe, der fruchtbare Baum, der im Werfen geschickte Knabe, oder der freigebige Schmidt?

A. Ohne Zweifel der freigebige Schmidt. –

V. Warum gerade der? – Der fruchtbare Apfelbaum bietet dir ja seine Früchte dar, und läßt sie willig von dir abpflücken – er ist ja weit freigebiger, als der Schmidt. Der Schmidt giebt nur den Armen, die es bedürfen, aber dir giebt er nichts, weil du alles hast, was du bedarfst – auch wird er nie sein ganzes Vermögen wegschenken. – Der Baum hingegen bietet dir und einem jeden alle seine Früchte dar, der nur die Hand darnach ausstrecken will, um sie abzupflücken. –

A. Aber deswegen kann ich ja doch den Baum nicht eigentlich lieben und achten.

V. Warum kannst du ihm nicht lieben und achten?

A. Weil er es selbst nicht weiß, daß er die Früchte darbeut, noch daß sie von ihm abgepflückt werden. –

V. Ist denn der Baum nicht freigebiger, als unser Nachbar der Schmidt?

A. Nein, denn der Schmidt weiß es, daß er giebt, aber der Baum weiß es nicht, daß er giebt. –

V. Aber er giebt doch.

A. Nein, er giebt auch nicht eigentlich.

V. Warum giebt er denn nicht eigentlich?

A. Wenn ich nicht weiß, daß ich jemanden etwas gebe, so gebe ich ihm auch nichts. –

V. Wenn du z.B. im Schlafe einen Apfel in der Hand hieltest, und zufälliger Weise den Arm ausstrecktest, als ob du ihn jemanden darreichtest, und einer nähme ihn dir aus der Hand, so hätte der ihn zwar genommen, aber du hättest ihn nicht gegeben.

A. Nein, denn ich hätte nicht daran gedacht, daß ich ihn hätte geben wollen. –

V. Kann aber der Baum je daran denken daß er irgend jemanden seine Frucht darreicht?

A. Niemals.

V. Also giebt der Baum auch niemals?

A. Nein!

V. Und kann auch nicht als freigebig betrachtet werden?

A. Auf keine Weise.

V. Aber fruchtbar kann ich ihn nennen?

A. Freilich.

V. Der Baum in unsern Garten ist also nur fruchtbar – aber der Schmidt in unserer Nachbarschaft ist wohlthätig und freigebig – das ist ein erstaunlicher Unterschied – alle fruchtbaren Bäume in der Welt zusammengenommen, können das nicht, was ein Mensch kann; sie können das kleinste von ihrer Frucht nicht geben, weil sie es geben wollen, sondern müssen, gleich einem Menschen, der in tiefen Schlummer liegt, sich bloß leidend verhalten, wenn ihre Frucht ihnen abgepflückt wird – – es ist also sehr natürlich, daß du mehr Liebe und Achtung für einen wohlthätigen Menschen, als für den allerfruchtbarsten Baume in der Welt haben mußt, obgleich der fruchtbare Baum auch seinen Werth hat, wie der in unserm Garten, der mir auch weit lieber ist, als sein Nachbar, welcher fast gar keine Früchte trägt – wenn er sich das künftige Jahr nicht bessert, so werde ich ihn abhauen lassen, weil er zu nichts weiter taugt.

A. Kann er sich denn bessern, Vater?

V. Bessern nun wohl eigentlich nicht, aber er kann doch mehr Früchte tragen, wenn er das nicht thut, so laß' ich ihn umhauen. –

A. Der arme Baum! – Er hat ja doch nichts Böses gethan!

V. Dafür soll er auch nichts Böses leiden.

A. Und du willst ihm doch umhauen lassen.

V. Freilich, das wird ihm nicht weh thun – es soll auch keine Strafe für ihn seyn, sondern er soll nur nicht unnütz bleiben – wenn er abgehauen ist, taugt er noch immer zu etwas, wenn es auch nur wäre, daß er im Winter ein paar Tage lang unser Zimmer heitzte – aber so wie er unfruchtbar da steht, taugt er zu gar nichts, und an seiner Stelle kann ein besserer und fruchtbarerer Baum stehen. –

A. Das ist wohl wahr – aber wenn uns nun gleich der Baum die Stube heitzt, so ist er denn doch kein Baum mehr – darum dächt' ich doch, du liessest den Baum lieber stehen, und gönntest ihm den Platz – wenn er denn gleich nur wenig Früchte trägt, so bleibt er doch immer noch ein Baum. –

V. Du bedenkst nicht, daß der Baum gar nicht dasteht, bloß um dazustehen, und ein Baum zu seyn – sondern er soll zu etwas taugen, er soll nützlich seyn. – Denn an Baumen fehlt es nicht in der Welt, eben so wenig, wie an Menschen – aber ein jeder Mensch soll auch zu etwas taugen, zu etwas nützlich und brauchbar seyn. – Wie z. B. unser Nachbar der Schmidt, der in unserm ganzen Hause die Schlößer an die Thüren angelegt hat, und ein sehr geschickter Arbeiter ist – wenn der den ganzen Tag die Hände in den Schooß legen, und auf seinem Lehnstuhl sitzen wollte, so würde er nicht das Vergnügen haben, den Armen so viel geben zu können, als er jetzt thut. – Jetzt ist er ein sehr nothwendlger Mann in seinem Hause – seine Kinder, die er so unterrichtet, und zum Guten anhält, wie ich dich unterrichte, und zum Guten anhalten, würden sehr viel an ihm verlieren, wenn er stürbe; die Armen und Nothleidenden, denen er geholfen hat, würden seinen Verlust ebenfalls sehr stark empfinden; und denn würde auch seine Stelle nicht leicht wieder durch einen eben so geschickten und guten Arbeiter ersetzt werden. – Das alles giebt nun dem Manne einen großen Werth – besonders, da ihm alles Gute, was er an sich hat, schon so zur Gewohnheit geworden ist, daß man sich in allen Stücken fest auf ihn verlassen kann – wenn er eine Arbeit nicht fertig machen kann, so verspricht er es auch nicht; hat er sie aber einmal versprochen, fertig zu machen, so hält er sein Wort unverbrüchlich. – Er giebt den Armen nicht nur Geld, sondern steht ihnen auch mit seinem Rathe und Vorwort bei, wo er kann. – Ganz fremde Leute wenden sich zuweilen an ihm, bloß ihn in wichtigen Sachen um Rath zu fragen, so groß ist das Zutrauen, das er sich durch seinen rechtschaffenen Wandel nun bei allen Menschen erworben hat. – Wenn nun dieser Mann sein schweres Tagewerk vollendet hat, so sitzt er des Abends unter seinen Kindern, und unterrichtet sie, wie sie es machen sollen, um auch einst so gut und rechtschaffen, wie er zu werden.– –

A. O, das muß ein vortreflicher Mann seyn, unser Nachbar, der Schmidt. –

V. Das ist er. – Du wolltest doch von mir wissen, was die Tugend sey. – Das kann ich dir für jetzt noch nicht sagen – aber so viel kann ich dir sagen: unser Nachbar, der Schmidt, ist ein tugendhafter Mann.


 << zurück weiter >>