Karl Philipp Moritz
Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers
Karl Philipp Moritz

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den 25sten Juli

Aber ist es denn Verschwendung in der Natur, wenn sie einen menschlichen Geist bloß deswegen bis zu einer der höchsten Stufen der Vollkommenheit bildete, damit der hinterbleibende Abdruck desselben noch nach Jahrtausenden sich wieder in andern Geistern abdrückte, die ihre Vervollkommnung wiederum auf kommende Geschlechter fortpflanzen? –

Geht wohl die Spur irgend eines für die Welt verloschnen menschlichen Geistes ganz verlohren? dauert sie nicht in den unaufhaltsamen Folgen seiner geringsten Handlungen fort?

Die Erfindungen und Gedanken der einen Generation pflanzen sich auf die andre fort. – Die Summe der menschlichen Kenntnisse wächst beständig an – Die Natur scheint ihr Absehn vorzüglich auf die Erhaltung und Vervollkommung der ganzen Art gerichtet zu haben. Sie will nur immer Leben, neues verjüngtes Leben – Es soll nur immer ein Menschengeschlecht da seyn, in dem sie sich auf tausendfache Weise spiegelte, gleich viel, aus was für einzelnen Menschen dieß ganze Geschlecht besteht.

Wenn nur grüne Blätter wieder da sind, so kümmert es uns ja nichts, ob es dieselben, die schon einmal da waren, oder andre sind. –

Die junge Welt steigt empor, und freuet sich ihres Daseyn, ohne darüber zu trauren, daß die Vorwelt nicht mehr da ist, und ohne über den Gedanken zu erschrecken, daß sie auch einst nicht mehr da seyn wird.

In der ganzen Körperwelt ist ohngeachtet des ewigen Kreislaufs von Veränderungen aller Wesen kein Stäubchen mehr noch weniger, als von Anfang darin war. –

Wie ist es denn mit der Geisterwelt? nimmt diese denn ewig an der Anzahl ihrer einzelnen Wesen zu? – Wird sie mit dem Tode jedes Sterblichen neu Bevölkert? oder war sie schon von Ewigkeit wie jetzt? – Ist in ihr ein Kreislauf, wie in der Körperwelt oder ein immerwährendes Fortschreiten? –

Entsteht mit jedem Geiste, der in dem Körper durch die von allen Seiten zuströmenden Ideen, genährt und aufgezogen wird, ein Wesen, daß vorher nicht da war? – oder war es vorher da? –- und wenn es da war, warum ist es sich sich seines vorigen Zustandes nicht bewußt? – wo ist seine vorige Selbstheit, sein voriges Ich geblieben? –

Wer rettet mich von dieser Fragesucht, die mich so unwillkürlich anwandelt – warum führen meine Gedanken mich in unübersehbare Labyrinthe? – Nie werde ich auf diese Art einen Ausweg finden. –

So will ich denn den Lauf meiner Gedanken hemmen, und meine Sinne dem Genuß der schönen Natur eröfnen – ich will meine große Lehrerin fragen, und auf ihre sanfte Stimme horchen. –

Ich will sie am Wasserfall, in der Dunkelheit des Waldes und in ihren Höhlen und Felsengrotten belauschen – ich will sie beschwören, mir das undurchdringliche Geheimniß meines Daseyns aufzuschließen – So lange will ich aus ihrem reinen Lichtstrom schöpfen, bis meine Gedanken klar genug sind, um den milden Strahl der Wahrheit aufzufassen.

Morgen in der Frühe will ich jenen Berg besteigen, und der kommenden Sonne entgegen sehen – bis dahin soll es stille seyn in meiner Seele, damit ich durch den erquickenden Schlummer der Nacht zum neuen Denken gestärkt erwachen möge!


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