Karl Philipp Moritz
Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers
Karl Philipp Moritz

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Nachts um ein Uhr.

Schlummre sanft, guter Knabe, der du so glücklich, von der Hand deines Vaters, noch nach seinem Tode, geleitet, vor jener Klippe vorbeischiffest, an der dein Freund gescheitert ist – –

Ist denn das nun das wirkliche Leben, daß ich hier bei dieser Lampe zwischen den vier Wänden sitze, da mein Bette steht, und hier am Fenster ein kleines Tischgen, an dem ich schreibe? Und daß bei Tage in diesem Dörfchen um mich her, alles so gewöhnlich und alltäglich ist, ausgenommen der Hirtenknabe und sein verstorbener Vater. – – Diese beide versetzen mich aus der wirklichen Welt, so oft ich an sie denke. – Diese scheinen mir in sterbliche Körper gehüllte, auf Erden wandelnde höhere Wesen zu seyn, die auf alles um sie her einen wunderbaren Schimmer werfen, und diese alltägliche Welt in eine romantische bezauberte Gegend verwandeln, auf dem Flecke, wo sie weilen.

Es sind Vereinzelungen des allgemeinen Weltgeistes in Menschenkörpern, welche vielleicht in großer Anzahl, ohne dergleichen erhabne Einwohner umherwandeln.

Vielleicht ist der Menschenkörper unter allen übrigen Körpern nur der fähigste, um einen für sich bestehenden immerdaurenden Geist zu gebären, der in ihm die Kräfte zu seiner Fortdauer sammlete, ohne daß deswegen gerade jeder Menschenkörper einen solchen Geist gebiert.

Wie manchen Kopf scheint es zu geben, durch welchen die zuströmenden Gedanken bloß durchgehen, ohne sich im Innern desselben zu einem zusammenhängenden Ganzen zu bilden.

Zu der Geburt eines bleibenden, unzerstörbaren Geistes, gehört nothwendig eine innere Konsistenz und Festigkeit der Gedanken, ein unerschütterliches auf innere feste Persönlichkeit sich gründendes Selbstbewußtseyn; wo dieses fehlt, da findet nicht einmal der Wunsch der persönlichen Fortdauer statt.

Sollte sie, die mich gebohren,
In der Wesen Zahl verlohren,
Nirgends mehr vorhanden seyn?
Ganz verschwunden? ach versanken
Auch im Grabe die Gedanken
Die der Ewigkeit sich freun?

Daß ich festen Fuß gewinne,
Sinn ich immerfort und sinne,
So wie du im Leben sannst –
Traurig sitz' ich hier und weine,
Meine Mutter, ach erscheine
Deinem Sohne, wenn du kannst!

Ach wenn du den Vater bätest – –
Doch was will ich? – wenn du thätest
Was mein trunkner Wahnsinn heischt;
Thätest du's – ich wüßte nimmer
Ob nicht dennoch leerer Schimmer
Meine Phantasie getäuscht.

Das Edle kann nicht gemein, und das Gemeine kann nicht edel seyn?

Ach und doch ist des Gemeinen so viel, so viel, und des Edlen so wenig, daß der Zufall mich weit leichter unter die Zahl des Gemeinen, als des Edlen versetzen konnte.

Hier ist und bleibt ewig der schreckliche Stein des Anstoßes. –

Was hat das Gemeine, das Unedle verschuldet, daß es gemein und unedel seyn muß? –

Wie kann ich mich der Vorzüge freuen, die unzähligen meiner Mitmenschen geraubt sind. –

Eher kann ich mich des Gewinstes im Lotto freuen. Denn jeder begab sich hier doch freiwillig seiner gleichen Rechte auf den Besitz eines Vermögens, das einem andern der Zufall zuwirft.

Aber wer hat vor seiner Geburt mit dem Schicksal einen Vertrag gemacht? –

Ist etwas ungezweifelt Zufall, so ist es die Geburt, und der Zusammenhang der Dinge, in welchen der Mensch dadurch versetzt wird.

Das Schicksal der meisten Menschen ist schon gemacht, ehe sie gebohren sind.

Und was hat uns anders zu Sklaven des Zufalls erniedrigt, als die menschlichen Einrichtungen selbst, wodurch eine Generation der andern Fesseln anlegt, die immer härter werden, je näher sich die Menschen aneinander schließen.

Ist nicht die, unbeschadet ihrer Fortdauer und Fortpflanzung, höchstmögliche Vereinzelung der Menschen, vielleicht der einzige Zustand, worin sie noch glücklich seyn könnten?

Und doch, würde ich, wenn die Menschen in dem Zustande geblieben wären, in diesem Augenblick über Glückseligkeit denken und schreiben können?

Ich dürfte dann, weder darüber denken, noch schreiben; denn, was ich suchte, wäre schon da; es böte sich mir von selber in jedem Augenblick meines Lebens dar; es wäre mit meiner Natur verwebt.

Was ist denn nun wahre Glückseligkeit: über die Glückseligkeit denken zu können, weil man sie einmal verloren, und mit der Unglückseligkeit verglichen hat? oder die Glückseligkeit bloß zu genießen, ohne darüber denken zu können?

Ist der ungetrübte Genuß so viel werth, daß ich darüber auf das Denken gern Verzicht thue, oder ist das Denken so viel werth, daß ich darüber auf den ungetrübten Genuß Verzicht thue?

Wenn ich einmal gedacht habe, so kann ich mich nie wieder in den Zustand des Nichtdenkens versetzen.– –

Ich muß mir also nun schon aus der Noth eine Tugend machen, und diß Denken selbst zum Ersatz für die mir nun erst fühlbar gewordene Entbehrung des Gedachten annehmen.


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