Karl Philipp Moritz
Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers
Karl Philipp Moritz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

An...

den 1sten Juni 1782.

Wie lieblich scheint die Sonne am Abend in mein kleines Fenster. – Dort auf der Wiese weiden noch die Heerden – die einzelnen Eichen werfen ihren langen Schatten jenen Berg hinunter. –

Was schimmert dort so weit in der Ferne am Horizonte? – es sind die schmalen Purpurstreifen des Abendrothes – wer wohnt unter jenem fernen Himmelsstriche? Was für Gedanken, was für Wünsche steigen dort empor? –

Menschen sind hin und her zerstreut auf dem ganzen Erdenkreis – wer faßt alle ihre Wünsche, alle ihre Hoffnungen in eins zusammen? wer birgt sie in seinem Busen, um sie alle alle dereinst zur Vollendung zu bringen, daß keiner vergessen wird? –

O dann werd' auch nicht vergessen werden, sen ich auch so einzeln unter den Menschen, und so verlohren als ich wolle. –

Die Heerden kehren heim, und eilen zu ihrer Lagerstatt – sie schweiften den ganzen Tag umher, und keines hat sich verlohren, jedes findet am Abend seine gewohnte Herberge wieder.

Der arme Hirt aus unserm Dorfe, der hinter dieser Heerde hergeht, legt sich am Abend nieder, um Morgen sein Tagewerk von vorne wieder anzufangen. – Er glaubt, er werde nur seine Heerde – aber er weiß nicht, daß sich unbemerkt der Keim zur Vervollkommnung und Veredlung seines Wesens in ihm bildet – daß jedes Grashälmchen, welches er, ohne Absicht sein Auge an den Boden heftend, betrachtet, seine Kraft zu vergleichen und zu unterscheiden erhöht, daß er mit jedem Blick, womit er Wiese und Berg und Thal umfaßt, und dann wieder sein Auge auf ein kleines goldnes Würmchen fallen läßt, daß unter Kräutern und Blumen lebt, das Ganze mit Rücksicht auf das Einzelne und das Einzelne mit Rücksicht auf das Ganze betrachten lernt.

Du armer Hirt wirst also in der Reihe denkender Wesen nicht vernachlässiget, nicht vergessen – Dein Rang ist dennoch in der Geisterwelt, ob du gleich den ganzen Tag über nur deine Kühe weidest.

Ist denn also keiner ausgeschlossen? – welch eine unendliche Reihe denkender Wiesen steigt vor meinem Blick empor!

Wo seid ihr alle, ihre Millionen, deren Staub sich schon wieder mit anderm Staube gemischt hat?

Habt ihr euch nicht verlohren in einander? – seyd ihr noch in derselben Zahl da, wie ihr wäret, da eure Körper abgesondert von einander, und jeder in sich gedrängt, so viele verschiedene Wesen ausmachten, als verschiedne Gesichtszüge, verschiedne Nahmen waren.

Die Gesichtszüge, die Nahmen sind verschwunden – was unterscheidet euch vom Körper ganz entblößte Wesen noch von einander?

Ist es die unendliche Mannichfaltigkelt der Erinnerungen aus eurem Erdenleben? – Aber was bleibt euch denn nun, um diesen Unterschied durch die Dauer eures Wesens fortzupflanzen? Sind die Eindrücke, die ihr nun erhaltet, denn noch so unendlich mannichfaltig verschieden? – oder treffen die Erinnerungen mehrerer aus diesem Erdenleben zusammen und machen vielleicht mehrere zusammen ein Ganzes aus. –

Wie oft wünschen nicht Seelen hienieden schon in einander zuschmelzen, mit allen ihren Gedanken, allen ihre Erinnerungen, die sie von Kindheit auf hatten, eins zu werden.

Und ich sollte das Ueberströmen meines Wesens in ein andres scheuen? – und doch scheu ich es? – Doch ist alles auf einmal so todt, so abgeschnitten, so zerrissen – wenn ich mein Wesen auch mit einem Wesen höherer Art vertauschen sollte. –

Dem schaudervollen Uebergange zu einem andern Seyn muß erst das Werden seinen Weg bahnen; durch den Mittelbegriff des allmäligen Entstehens kann unser Geist nur in die Zukunft blicken, und die Sprache selbst muß zu diesem Begriff ihre Zuflucht nehmen, wenn sie die Zukunft bezeichnen will. – Die Sonne ist untergesunken die Abendglocke tönt im Dorfe – das Tagewerk der Arbeiter ist vorbei – die Natur hat wiederum einen großen Akt vollendet, und läßt nun den Vorhang fallen. –


 << zurück weiter >>