Octave Mirbeau
Bauernmoral
Octave Mirbeau

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Warum Pitaut traurig war.

I.

Schnaufend, fluchend und spuckend zäumte Pitaut seine Pferde im Stalle auf und rüstete sich, um aufs Feld zu fahren. Eine Laterne in Hornfassung erhellte die Decke, zwischen deren zersprungenen Brettern zerzauste Heubüschel herunterhingen. – An den schmutzigen, mit Unrat befleckten Wänden huschten die enormen Schatten der Tiere hin. Louise, die Magd, erschien an der Tür des Stalles. »Herr!« rief sie, »Herr!«

»Was gibt's wieder?« fragte Pinaut, der eben die Schnüre des Leitseils zusammenband und zu einem breiten Knoten rollte. »Was gibt's wieder?«

»Sie müssen schnell kommen, ich weiß nicht, was unsere Caille hat, sie will nicht aufstehen. So oft ich ihr auch mit dem Fuß in den Hintern stoße, sie rührt sich nicht. Und dann schnauft sie so, Herrgott, wie die schnauft!«

»Ah, ah! Du sagst also, daß sie nicht aufstehen will, das Luder?«

»Gewiß nicht.«

»No, no! Wart' nur....«

Pinaut nahm die Laterne vom Haken und ging mit der Magd. Draußen dämmerte noch kaum der Morgen frostig und bleich herauf. Es herrschte Nebel, jener gelbe Novembernebel, in dem Erde und Himmel verschwimmen, ein Nebel, hinter welchem Bäume und Häuser nur in schwachen Umrissen erscheinen, sich verwischen und mit der dicken farblosen Atmosphäre in ein trübseliges Bild des Nichts zusammenfließen. Auf dem Hofe waren die Hühner bereits vom Hahnenschrei erwacht und machten sich auf dem Misthaufen zu schaffen. Am Rande des schmutzigen Tümpels glätteten die Enten ihre Federn. Während der Schafhirt mit seiner Herde gespenstisch im Nebel verschwand, trotteten langsam und schwerfällig die Kühe aus dem Stall zur Weide hin, brüllten mit vorgestrecktem Hals und kamen, eine nach der andern, um ihre Schulter an dem Stamm des Nußbaumes zu reiben, von dessen kahlen Zweigen der Nachttau in plätschernden Tropfen niederfiel.

Pitaut trat vor Louise durch die offene Stalltür. Drinnen war es warm wie in einem Dampfbad, scharfe und eklige Gerüche von Mist und warmer Milch erfüllten die Luft. Im Dunkel des Hintergrundes lag die Kuh auf einer Streu von schmutzigen Farrenkräutern. Ihre riesigen, ganz weißen Flanken bauschten sich auf und fielen wieder ein, wie ein Schmiedebalg in voller Tätigkeit. Ihre rot marmorierten Schenkel waren mit Unrat ganz besudelt. Und aus ihrer Schnauze, die sich auf die schmutzige Streu hinstreckte, kam das Geräusch eines kurzen, pfeifenden Atems. Louise leuchtete mit der Laterne, Pitaut beugte sich über die Kuh, prüfte sie auf das Genaueste, klopfte ihr mit seinen großen, bläulichen Händen die Glieder ab, zog die Augenlider auseinander und sah ihr in das sanfte, dumme Auge, das im Fieber glänzte.

»Na, meine Caille,« sagte er zärtlich, »na, meine schöne Caille! Was fehlt dir denn, Hühnchen? Wo tut's dir denn weh, sag', meine Prinzessin? Wo tut's dir weh?«

Er nahm aus der Krippe eine Runkelrübe, zerbrach sie und reichte die beiden Stücke, nachdem er sie vorher beschnuppert hatte, nacheinander der Kuh hin. Diese aber wandte den Kopf ab und rührte sich im übrigen nicht.

»Oh, oh,« murmelte er.

Sein Gesicht, das einem mit einer Mütze bedeckten Stück Erde glich, nahm auf einmal einen sorgenvollen Ausdruck an. Pitaut kratzte sich mehreremale den Kopf und versank in tiefes, peinliches Nachdenken, während Louise, die sich in den breiten Hüften wiegte, zerstreut den leeren Stall und das schwere Gebälk anschaute, das sich in dem schwarzen Winkel unter dem Dach verlor. Er warf die Stücke der Rübe in die Krippe zurück, kniete auf der Streu nieder, legte sein Ohr an die Brust der Kuh und schloß dabei die Augen, um mit größerer Sammlung horchen zu können. Eine scheußliche Ratte lief über einen Balken der Raufe und verschwand in einer Mauerspalte. Die Hühner kamen in den Stall hinein.

»Herrgott, wie sie schnauft!« schrie Pitaut und erhob sich. »Das brodelt nur so in der Lunge, wie junger Obstwein in einem Faß. Das Vieh ist krank, gewiß, krank ist sie, sehr, sehr krank, Himmelherrgott! Aber was hat sie nur, Louise?«

»Wie beliebt?«

»Geh', hol' aus der Hundehütte die Erdapfelsäcke und dann die alte Plache, du weißt, die alte Plache, sie liegt rechts über dem Waschtrog. Herrgott, wie sie schnauft!«

Die Magd gab die Laterne ihrem Herrn und ging fort, mit den Holzschuhen klappernd.

Beunruhigt, mit gerunzelten Brauen, begann Pitaut um die Kuh herumzulaufen, die immer stärker keuchte.

Die Furcht, sie zu verlieren, sie in kurzem da leblos, mit starren Gliedern ausgestreckt zu sehen, schnürte ihm das Herz zusammen; er spürte, wie die Angst ihn würgte, wie ein Schauder über seinen ganzen Körper lief.

Eine so schöne Kuh, die beste aus der ganzen Herde! Eine Kuh, die ihm täglich sechzehn Liter Milch lieferte und alle Jahre ein Kalb, das er um neunzig Franks auf dem Markte zu Echauffour verkaufte! Warum war sie krank? Mit welchem Rechte konnte sie ihn eines so rechtmäßigen und gesicherten Einkommens berauben? Hatte man sie vielleicht schlecht gepflegt? Hatte sie nicht immer gutes Gras, Möhren und Runkelrüben, so viel sie wollte? Er betastete ihr den Rücken, den Bauch, die Wamme, die Euter, hob ihr nochmals die geschlossenen Augenlider empor. Pinaut wußte nicht recht, sollte er auf sie wütend sein oder sie beklagen. Aber in der Angst, ihre Krankheit zu verschlimmern, wenn er sie roh behandelte, sprach er sanft zu ihr und überhäufte sie mit Zärtlichkeiten.

»Na, schöne Caille! Na, meine Prinzessin, mein Hühnchen, mein kleines!« Aber im Grunde seines Herzens hätte er sie »verfluchtes Luder« nennen, sie tüchtig bei den Hörnern schütteln und ihr die Hunde an die Beine hetzen wollen.

Louise kam zurück und brachte die Säcke und die Plache. Die beiden wickelten nun die Kuh mit zärtlichster Fürsorge schön warm ein, wie man es mit einem kleinen Kind macht.

»Na, arme Caille!« sagte Pitaut.

Und Louise antwortete jedesmal:

»Na, mein Engel, mein Hühnchen, kleines Ferkelchen, na, arme Caille!«

II.

»Willst du wohl still sein, schlimmes Kind!« schrie Frau Pitaut, während sie, vor einem Kupferkessel kauernd, die Hemdärmel aufgeschürzt, zwischen ihren Händen Erdäpfel zerquetschte, die sie dann mit Kleie und saurer Milch vermischte. »Wart, wart, Du wirst deine Prügel bekommen! Ich will dich lehren, so zu brüllen!«

Aber das Geschrei in der Wiege aus Weidengeflecht, die zwischen den beiden Betten stand, dauerte fort und verwandelte sich plötzlich in ein heiseres Geräusch, wie das Röcheln eines Kindes, das man erwürgt.

»Ah, verfluchter Balg! Ah, verrücktes Kind!« rief die Pächterin »Willst du wohl still sein!«

Vor dem rußigen Kamin saß Riquet, der Lieblingshund, und starrte auf die verglimmenden Reste eines Holzscheites. Zwei Katzen schliefen auf die warme Asche hingestreckt.

Frau Pitaut trat an die Wiege, in der das Kind noch immer schrie. Sein kleines Gesicht, mager, bleich, verrunzelt und ganz verzerrt, war erbärmlich anzusehen. Eine schlappe Haut bedeckte seine Augen und der Spalt zwischen den halbgeschlossenen Lidern sah aus, wie eine feuchte Wunde. Das Geschrei kam gewaltsam aus seiner zusammengepreßten Kehle, und sein Körper zuckte convulsivisch unter den grauen Leinendecken.

»Wann wirst du endlich genug gegreint haben, du schlimmer Bub!« sagte die Frau. Sie beugte sich über die Wiege, hob das Kind auf und schüttelte den ganz beschmutzten Strohsack.

»So geh,« setzte sie hinzu und legte ihn wieder nieder. »Geh' doch; wenn es auf dich ankommt, so hätte man nur mit dir zu tun.«

Sie ging von der Wiege fort und kauerte sich wieder vor den Kamin, dessen fast erloschenes Feuer sie von neuem anfachte. Der Hund erhob sich, lief im Zimmer herum, beschnupperte den Fußboden. Die Katzen erwachten, reckten sich und kletterten auf einen Stuhl. In diesem Moment trat Pitaut ein, von Louise gefolgt.

»Ich glaube, die Caille ist krank,« sagte er kopfschüttelnd, »sehr krank, jawohl, sehr krank!«

Die Frau, welche eben die Flamme anblies, erhob sich heftig.

»Was schwätzt du da? Was schwätzt du?« fragte sie erbleichend.

»Ich schwätze, daß die Caille sehr krank ist, das schwätz' ich! Ja sehr, sehr krank.«

»Was hat sie denn?«

»Ich weiß nicht. In der Lunge sitzt es. Sie frißt nichts und sie ist geschwollen!«

»Und sie schnauft,« bekräftigte Louise.

»Und sie ist sehr, sehr krank.« schloß Pitaut, und warf mit einer verzweifelten Bewegung seine Mütze auf den Tisch.

Frau Pinaut schwieg bestürzt. Es schnürte ihr das Herz zusammen, so plötzlich zu erfahren, daß die Caille, ihre schöne Milchkuh, schnaufte, geschwollen war, nichts fraß und sehr krank war. Sie stand wie betäubt da. Indessen, sie kam schnell zu sich und schrie, einen wütenden Blick auf Pitaut werfend:

»Sie ist geschwollen, sie schnauft! Und du, du stehst da wie ein Trottel und kratzt dir den Kopf. Du glaubst vielleicht, der Tierarzt ist nur für die Hunde da, du dummes Aas! Unser Vieh soll nur umsteh'n, das macht ja nichts, du rührst dich so wenig, wie ein Hackstock. Hast du ihr wenigstens frisches Stroh gegeben? O, du guter Himmelvater!«

Das Kind fing wieder an zu schreien, und die Wiege knirschte unter der Anstrengung dieses armen kleinen Wesens, das sich in seinen Schmerzen wand. Seine Stimme, bald schwach klagend, bald durchbohrend und ohrenzerreißend, dann wieder dumpf wie ein Röcheln, flehte in schmerzlichen Tönen. Aber weder der Vater noch die Mutter hörten diese Rufe, die sich nur in unartikulierten Lauten vernehmbar machten. Sie stritten weiter. Frau Pitaut sagte mit wütenden Gesten:

»Wenn du dastehst und mich mit offenem Maule angaffst, wird sie das gesund machen?« Dann wandte sie sich an die Magd und wetterte:

»Du bist schuld daran, miserable Kreatur! Du hast sie gewiß auf die Weide bei den Haselnußsträuchern geführt! Dort hat sie dann schlechtes Gras gefressen.«

Sie sank auf einen Stuhl, bedeckte das Gesicht mit der Schürze und weinte.

»Meine arme Caille ist vergiftet, hu, hu, hu!« Das Kind bekam einen furchtbaren Hustenanfall, man hätte geglaubt, daß sein Körper in einem letzten Krampf sich auflösen müsse. Pitaut hob seine Augen in der Richtung der Wiege, deren Weidengeflecht krachte und über deren Rand man zwei kleine magere Hände in heftigen Zuckungen sah.

»Ah, ist das der kleine Bub, der so heult?« fragte er. »Was heult er denn so?«

»Ah, nichts, das sind die Zähne ... Meine arme Caille! Hu, hu!«

»Also ich geh' den Tierarzt holen. Sie ist ja noch nicht tot. Du brauchst dir nicht im voraus darüber graue Haare wachsen zu lassen.«

»Meine arme Caille! Nie find' ich ihresgleichen, niemals! ... Willst du wohl still sein, verfluchtes Schwein! Wart', ich will dich durchprügeln!«

Aber Louise hatte das Kind genommen und während Pitaut seine Blouse anzog, stopfte sie, am Feuer sitzend, einen dicken, klebrigen Brei in den Mund des Kleinen, der strampelte, spie und röchelte.

III.

Doktor Ragaine lenkte, in einen warmen Wolfspelz gehüllt, seinen Tilbury über die Landstraße. Er suchte die tiefen Wagenspuren und die großen Steine zu vermeiden, deren runde Köpfe hie und da aus dem Straßenniveau auftauchten. Trotz seiner Vorsicht und der Gelehrigkeit seines Pferdes stießen die Räder manchmal gegen die Steine oder glitten in Erdlöcher, und der Wagen tanzte in seinen Federn wie eine Barke, wenn die See hochgeht. Es nieselte. Raben flogen hoch in der Luft über den grauen Himmel hin. Scharen von Drosseln flogen aus den Heckenrosen und Stechpalmen, welche die Straße dicht umsäumten, erschreckt auf und ließen sich auf den Zweigen der nahen Apfelbäume nieder.

»Guten Tag, Herr Ragaine!« sagte ein dicker Mann, der durch eine Bresche in der Hecke geklettert war, und stellte sich mitten auf den Weg hin. Er war mit einem sehr kurzen Rock bekleidet und mit einer schmierigen Hose, die in vertretenen, kothbedeckten Stiefeln stak.

Der Doktor hielt sein Pferd an.

»Ah, Herr Thorel!« sagte er. »Guten Tag Herr Thorel! So früh am Morgen schon über Land?«

Thorel schnaufte einen Moment und nahm das Tuch aus grauem Leinen herunter, das um seinen Hals gewickelt war.

»Jawohl, Herr Ragaine. In Epine habe ich ein Stück Vieh mit einem Ausschlag zu behandeln, und da ging ich durchs Feld bis zu Pitaut, dessen Kuh an einer Lungenentzündung erkrankt ist. Seit vier Tagen behandle ich sie. Wir haben jetzt sehr viel Lungenentzündungen.«

»Ah, ich gehe auch zu Pitaut.«

»Ja, ja ich weiß wegen seines Kindes. Ich habe ihm geraten, Sie holen zu lassen. Es scheint mir sehr krank zu sein, das Kind. Aber ich will Sie nicht aufhalten, Herr Ragaine.«

»Wir wollen den Weg zusammen machen, Herr Thorel, steigen Sie nur zu mir ein.«

»Aber meine Stiefel sind sehr schmutzig, Herr Ragaine.«

»O, das macht nichts, steigen Sie ein, Herr Thorel.«

»Na also, wenn Sie so freundlich sind, mit bestem Dank, Herr Ragaine.«

Ein Bauer erschien in schnellem Gang an der Biegung des Weges.

»Schau, schau, da ist ja Pitaut selber!« schrie Thorel, der schon einen Fuß auf das Trittbrett des Wagens gesetzt hatte. »He, Herr Pitaut! Guten Tag, Herr Pitaut!«

»Guten Tag, Herr Thorel, und der andere Herr,« sagte der Pächter, der stehen geblieben war, und zog respektvoll die Mütze.

»Na also, wie geht's unserer Kuh?« fragte der Thierarzt.

»Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Thorel, sie ist heute morgens verendet. Mein Gott ja! Es dauerte nicht länger, als wenn man eine neue Daube in ein Faß einfügt. Und dann war's vorbei! Ich wollte eben zu Ihnen gehen und Ihnen sagen, Sie möchten sich nicht mehr bemühen. Sie ist hin, jawohl!«

Er machte eine zornige Bewegung. »Hab' ich ein Unglück! Vor drei Jahren hab' ich zwei Füllen und ein Kalb verloren. Voriges Jahr ging uns eine Stute zugrunde, die eben werfen sollte. Ein andermal wieder, ich weiß heute noch nicht, wie das geschehen ist, sind mir alle Hennen umgekommen. Und jetzt ist es wieder eine Kuh, eine schöne Kuh, eine sehr gute Kuh! Es gibt keinen lieben Gott, Herr Thorel, gewiß nicht! Wir haben ein blindes Schicksal über uns, ein blindes Schicksal! Das wird man mir nicht ausreden, daß wir ein blindes Schicksal haben!«

Pitaut stampfte mit dem Fuß auf die Erde und raufte sich das Haar.

»Das geht sehr stark ins Geld, alle diese Verluste, sehr stark ins Geld! Und auch das Getreide verkauft sich nicht recht, die Äpfel werfen fast gar nichts ab. Und die Trockenheit, die jetzt herrscht, schadet auch dem Fleisch. Das macht sehr viel Geld aus! Herrgott, Herrgott, wer hat uns das alles zugefügt!«

»Und das Kind?« fragte Herr Ragaine.

Pitaut sah den Doktor an, als ob er ihn nicht verstanden hätte.

»Wie sagen Sie?« fragte er.

»Das kranke Kind, zu dem ich geholt wurde, wie geht es ihm?«

»Ist das vielleicht unser kleiner Bub, von dem Sie reden?«

»Allerdings.«

»Ach ja, der ist auch gestorben....«


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