Octave Mirbeau
Bauernmoral
Octave Mirbeau

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He, Vater Niklas!

Wir waren zwei lange Stunden querfeldein gegangen, unter der glühenden Sonne, deren Strahlen wie ein Feuerregen vom Himmel fielen. Der Schweiß rieselte über meinen Körper, und ein brennender Durst verzehrte mich. Vergebens hatte ich irgend ein Gerinnsel gesucht, dessen frisches Wasser unter den Blättern säuselt, oder eine Quelle, wie sie doch so oft in dieser Gegend vorkommen, eine kleine Quelle, die in ihrem Bett von moosiger Erde schläft, ähnlich wie die ländlichen Heiligenfiguren in ihren Nischen eingebettet sind. Ich verzweifelte; meine Zunge war vertrocknet und meine Kehle brannte.

»Gehn wir bis nach la Heurtandière, das ist die Meierei, die Sie dort drüben sehen«, sagte mir mein Begleiter. »Vater Niklas wird uns gute Milch geben.«

Wir schritten über ein weites Brachfeld, dessen Schollen unter unseren Schritten in einen roten Staub zerfielen, dann längs eines Haferfeldes, das unter der leichten Brise bläulich schimmernde Reflexe warf, und kamen in einen Obstgarten, wo buntscheckige Kühe im Schatten von Apfelbäumen schliefen. Am Ende des Obstgartens war die Meierei. Wir fanden in dem von vier ärmlichen Gebäuden umgebenen Hofe kein lebendes Wesen, außer ein paar Hennen auf einem Misthaufen, der nahe den Schafställen sich in einem Tümpel schmutziger Jauche erhob. Nachdem wir vergebens versucht hatten, die verschlossenen Thüren zu öffnen, sagte mein Begleiter: »Kein Zweifel, die Leute sind auf den Feldern.« Dennoch schrie er: »Vater Niklas! He, Vater Niklas!« Keine Antwort ließ sich hören.

»He, Vater Niklas!«

Dieser zweite Ruf hatte keinen anderen Erfolg, als daß die Hühner erschreckt aufflatterten und glucksend auseinanderstoben.

»Vater Niklas!«

In meiner Verzweiflung überlegte ich schon allen Ernstes ob ich nicht selber die Kühe im Obstgarten melken sollte, da erschien in der halbgeöffneten Tür des Heubodens das mürrische, verrunzelte und ganz gerötete Gesicht eines alten Weibes.

»Ah!« schrie die Bäuerin, »Sie sind es, Herr Josef, ich hab' Sie wahrhaftig erst gar nicht wiedererkannt. Entschuldigen Sie und Ihr Herr Begleiter auch.«

Nun trat sie ganz hervor. Eine Baumwollhaube deren Zipfel auf die Stirne heruntergezogen war, umschloß ihren Kopf; ein Teil der Schultern und der Hals, so durch und durch gebräunt von der Sonne, daß sie die Farbe gebrannter Ziegel hatten, ragten fleischlos und furchig aus den losen Falten des groben Leinenhemdes, das um die Hüften von einem kurzen, schwarz- und graugestreiften Unterrock festgehalten war. Schwere, aus dem rohen Buchenstamm herausgeschnitzte Holzschuhe bekleideten ihre nackten Füße, deren Haut bläulich und rissig war, wie ein Stück altes Leder. Die Bäuerin schloß die Tür des Heubodens und legte die Leiter an, auf der sie hinuntersteigen wollte. Bevor sie auf die erste Sproße trat, fragte sie meinen Begleiter:

»Haben Sie den Vater Niklas gerufen, meinen Mann?«

»Ja, das hab' ich.«

»Was wollen Sie vom Vater Niklas?«

»Es ist heiß, wir haben Durst und wollten ihn, um eine Schale Milch bitten.«

»Warten Sie, Herr Josef, ich komme gleich zu Ihnen.«. Sie stieg langsam, mit den Holzschuhen klappernd, die Leiter herunter.

»Ist denn Vater Niklas nicht hier?« fragte mein Begleiter.

»Entschuldigen«, antwortete die Alte »er ist schon da, weiß Gott ja; aber er kann sich halt nicht rühren, der arme Mann. Heut' früh hat man ihn in den Sarg gelegt.«

Sie war nun unten angekommen und wischte sich die dicken Schweißtropfen von der Stirne. Dann sprach sie weiter:

»Ja, Herr Josef, er ist tot, der Vater Niklas. Gestern gegen Abend hat es ihn erwischt.«

Da wir ein betrübtes Gesicht machten meinte sie:

»Ah, das macht nichts, gar nichts. Gehen Sie nur hinein, kühlen Sie sich ein wenig ab, und machen Sie sich's bequem. Inzwischen hol' ich, was Sie angeschafft haben.«

Sie öffnete die Tür des Wohnhauses, die zweimal abgesperrt war.

»Treten Sie ein meine Herren, geniren Sie sich nicht, machen Sie, als ob Sie zuhause wären. Sehen Sie, dort ist er, der Vater Niklas.«

Unter den rauchigen Balken, im Hintergrunde des großen, mit Kattun zugedeckten Betten auf zwei Sesseln ein weißer Holzsarg, der zur Hälfte von einem Stück ungebleichter Leinwand verhüllt war. Sein einziger Schmuck war ein kupfernes Kruzifix und ein Buchsbaumzweig. Zu Füßen des Sarges hatte man einen kleinen Tisch gestellt, auf dem statt einer Wachskerze, ein tropfendes Talglicht traurig verglomm. In der Nähe war ein brauner irdener Topf mit Weihwasser zu sehen, in dem als Weihwedel ein Büschel Ginster stak. Wir bekreuzigten uns, sprengten ein wenig Wasser auf den Sarg und setzten uns stumm, mit verduzten Gesichtern an den Tisch.

Mutter Niklas kam alsbald zurück. Sie brachte vorsichtig eine große Schale Milch herbei, setzte sie auf den Tisch und sagte:

»Da trinken Sie nur, soviel Sie wollen. Es gibt keine frischere und bessere Milch.«

Während sie uns kleinere Gefäße hinstellte und aus einem Korb gutes, schwarzes Brot nahm fragte mein Begleiter:

»War er lange krank, der Vater Niklas?«

»Eigentlich nicht, Herr Josef«, antwortete die Alte. »Das heißt, seit einiger Zeit war er nicht gerade besonders rüstig. Es quälte ihn etwas in der Lunge, ich glaube es war das Blut. Auf eins zwei ist er dann weiß geworden, dann blau, dann schwarz und dann war er sozusagen tot.«

»Haben Sie denn keinen Arzt geholt?«

»Aber nein, Herr Josef, ich habe keinen Arzt geholt. Denn krank, so eigentlich krank war er ja gar nicht. Er konnte dabei ganz gut gehen, nach rechts und nach links, wie ein Junger. Gestern geh' ich auf den Markt und wie ich nach Hause komm', da sitzt der Vater Niklas mit dem Kopf auf dem Tisch, die Arme schlapp herunterhängend, regungslos wie ein Stein. – Mann, sag' ich. – Er rührt sich nicht. – Vater Niklas, Mann! schrei ich ihm in's Ohr. – Keine Antwort, gar nichts. Nun rüttle ich ihn so ein wenig. Aber da fängt er zu wackeln an, dann fällt er auf den Fußboden hin und bleibt liegen, ohne nur ein Glied zu rühren. Und schwarz war er, schwarz, beinahe wie Kohle. Du lieber Himmel, sag' ich mir, der Vater Niklas ist tot. Und er war wirklich tot, Herr Josef, ganz tot... Aber Sie trinken ja gar nicht! Geniren Sie sich doch nicht! Ich habe noch Milch, gewiß! Und zum Buttern brauche ich sie jetzt gerade nicht.«

»Das ist ein großes Unglück«, sagte ich.

»Was wollen Sie«, antwortete die Bäuerin, »das ist Gottes Wille so«.

»Haben Sie niemanden, der die Totenwache hält?« unterbrach sie mein Begleiter. »Ihre Kinder?«

»Oh, wir haben keine Angst, daß er davonläuft, der arme Alte. Die Buben sind auf den Feldern und führen das Heu ein. Man kann doch die Arbeit wegen so etwas nicht ruhen lassen. Das würde ihn doch nicht wiedererwecken, da er nun einmal gestorben ist.«

Wir hatten unsere Milch ausgetrunken, und nach ein paar Worten des Dankes gingen wir von Mutter Niklas fort. Wir waren von dem Gehörten so verwirrt, daß wir nicht wußten, ob wir sie bewundern oder verfluchen sollten, diese Fühllosigkeit der Bauern dem Tod gegenüber – dem Tod, der doch auch die Hunde aufjammern läßt, wenn es in ihrem Stalle einsam wird, und der den Vögeln klagende Seufzer zu erpressen scheint, wenn sie ihre Nester verwüstet finden.


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